Hamburg. Als eine von neun Autoren liest Modeschöpferin Bisrat Negassi in der Stadtteilschule Bergedorf. Sie stellt ihre Biografie „Ich bin“ vor.
Seit nunmehr 33 Jahren gibt es die Nikolauslesung an der Bergedorfer Stadtteilschule (GSB). Endlich wieder in Präsenz, lautet das diesjährige Motto am Freitag, 9. Dezember, „Flucht und Kriegserfahrungen“. Insgesamt neun Autoren, darunter PEN-Mitglied Regula Venske, der deutsch-tamilische Herzchirurg und Autor Umeswaran Arunagirinathan sowie der ehemalige Geo-Redakteur Martin Verg beziehen sich nicht nur auf die aktuelle Situation in der Ukraine.
Sie alle spannen einen Bogen vom Zweiten Weltkrieg über Kriege in verschiedenen Ländern bis zur Verhinderung einer Abschiebung in Hamburg. Unter ihnen ist die in Hamburg lebende Modeschöpferin Bisrat Negassi, die vom Leben als dunkelhäutiges Mädchen in Deutschland erzählen will.
Nikolauslesung in der Stadtteilschule mit der Biografie „Ich bin“ von Bisrat Negassi
Sie wurde zur Zeit des Bürgerkriegs in Eritrea geboren, flüchtete 1976 als Sechsjährige mit ihren Eltern und drei Geschwistern nach Deutschland. Zunächst wohnte die Familie in Hannover, wo ihr Schulalltag von Rassismus geprägt war: Am Schwimmunterricht etwa durfte sie nicht teilnehmen, weil die anderen Kinder nicht mit ihr ins Wasser wollten. Nach der Schule gelangte Bisrat Negassi über Umwege in die Modewelt, lebte sogar eine Zeit lang in Paris, wo sie mit Menschen aus 18 Nationen zusammenarbeitete – „einfach paradiesisch“.
So beschreibt sie es in ihrem biografischen Buch „Ich bin“, das im Mai im Goldmann Verlag erschien (272 Seiten, 17 Euro). Habe sie anfangs noch Mode und Kleidung als „etwas Oberflächliches“ angesehen, ist die heutige Modeschöpferin mit ihrem Label „Negassi“ davon überzeugt, dass Mode eine Art „mobiler Schutzraum“ ist, mit dem wir unsere tägliche Geschichte gestalten.
2016 gründete sie zudem den gemeinnützigen Verein M.Bassy, der Begegnungen mit afrikanischen Künstlern fördert – besonders in den Bereichen Musik, Design und Mode. Nicht zuletzt will sie in einer mit Freunden gemieteten Wohnung „Kunst aus Afrika und der Diaspora“ vorstellen: „Come in tent“ heißt das 2020 in Hamburg eröffnete Atelier mit internationalem Netzwerk, das unter anderem die deutsche Kolonialgeschichte aufarbeiten will. Wir haben ihr ein paar Fragen gestellt:
Frau Negassi, was erinnern Sie am eindrücklichsten von der Flucht Ihrer Familie?
Die Bombenangriffe. Aus Angst, entdeckt zu werden, konnten wir nur nachts auf Kamelen unsere Flucht fortsetzen. Bis heute finde ich Feuerwerk furchtbar schlimm, es klingt für mich immer wie Krieg.
Wie anders ist der Rassismus, den Sie in ihrer Kindheit erlebten zu dem, der Ihnen heute begegnet?
Als Kind habe ich das gar nicht verstanden und konnte dem auch keinen Namen geben. Inzwischen kann ich es benennen und bin immer wieder erstaunt, wie ignorant und gleichgültig wir Menschen miteinander umgehen. Obwohl es doch so einfach wäre, etwas zu verändern, wenn der Wille da wäre – oder besser gesagt die Offenheit.
Wie erklären Sie sich, dass es heute noch immer Rassismus an den Schulen gibt, wo doch allein an der GSB 40 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund haben?
Rassismus hat doch ganz viel mit Ignoranz zu tun und Ignoranz mit Nichtwissen. Wenn an Schulen das Thema Kolonialgeschichte wirklich behandelt werden würde, dann ginge das in eine richtige Richtung. Es erschüttert mich immer wieder, wenn gebildete Menschen behaupten, Deutschland hätte keine Kolonien gehabt und auch nichts damit zu tun. Solange das in den Köpfen herrscht, wird sich nichts groß verändern.
Sie sprechen oft von Wut-Reaktionen und einem großen Rückhalt Ihrer Familie: Was noch hat Ihnen Kraft gegeben an einsamen Tagen?
Der Glaube an die Liebe und das Gute in den Menschen.
Was wollen Sie den Kindern und Jugendlichen raten, die sich heute aus der Gesellschaft ausgegrenzt fühlen?
Sie sollten niemals den Glauben an sich selbst verlieren, also sich zuerst sein bester Freund/seine beste Freundin sein.
Was tragen Sie gerade im Moment für eine Kleidung und welchen „Schutzraum“ soll sie Ihnen bieten?
Eine schwarze Jeans, schwarze Bluse, schwarzer Wollpulli über der Bluse und schwarze Stiefel. Schwarz ist der beste Schutz überhaupt. Dazu erzähle ich gerne eine Geschichte, aber nur privat.
Was, glauben Sie, können wir alle dafür tun, den Rassismus zu bekämpfen?
Es muss aufhören, immer wieder Betroffene nach deren Rassismus-Erfahrungen zu befragen. Es sind doch die Nichtbetroffenen, die sich fragen müssten, wie sie selbst Rassismus entgegenwirken können. Ein Beispiel: Eine gute Freundin von mir war zur einer Fernseh-Talkshow eingeladen, um über ihre Kunst zu sprechen, aber stattdessen wurde sie nach ihrer Rassismus-Erfahrung gefragt. Sie war die einzige Schwarze in der Runde und gab die Frage freundlich an die anderen Gäste weiter. Denn es ist an der Zeit, dass Nichtbetroffene anerkennen, dass genau sie sich für das Thema sensibilisieren und agieren sollten. Wir müssen im Austausch bleiben, uns annähern und erkennen, dass wir viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede haben.