Hamburg. Ralf Reintjes warnt, das Coronavirus zu unterschätzen. Und verweist auf die Zahl der Sterbefälle in diesem Herbst.

Er ist seit der ersten Stunde diszipliniert, hält Abstand, trägt in öffentlichen Innenräumen Maske, vermeidet Menschenmengen – und hat es geschafft: Bis heute musste Prof. Dr. Ralf Reintjes unter keiner Corona-Infektion leiden. Ein großes Glück für den 56-Jährigen, der an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) in der Fakultät Life Science lehrt. Nach zweieinhalb Corona-Jahren, in denen der Professor für Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung von Experten und Medienleuten rund um den Globus um Rat gefragt wurde, ist an eine Ruhepause indes noch nicht zu denken.

Herr Reintjes, womit müssen wir im Herbst und Winter rechnen?

Ralf Reintjes: Ich vermute eine sich rasant aufbauende, nächste Welle und empfehle allen Senioren und Risikopersonen – das sind immerhin auch ein paar Millionen Menschen –, sich genau zu diesem Zeitpunkt noch einmal boostern zu lassen. Denn der aktuelle Biontech-Impfstoff ist perfekt zugeschnitten auf die vorherrschenden Varianten BA.4 und BA.5, die aktuell grassieren. Der speziell angepasste Impfstoff kann den Krankheitsverlauf mildern und zugleich zum Teil vor Infektionen schützen.

Der Sommer hat uns alle ein bisschen freier fühlen lassen, und zumindest derzeit klagen die Kliniken nicht über überfüllte Intensivstationen – ein Trugschluss?

Ich möchte das gern auch alles glauben, aber die realistischen Zahlen sagen leider etwas anderes. Wir sollten vorsichtig bleiben, denn unsere Wahrnehmung ist eine andere als die Entwicklung des Infektionsgeschehens es zulässt. Zum Beispiel gibt es in Norddeutschland mehr Covid-Sterbefälle als im Herbst der letzten beiden Jahre. Am 14. Oktober wurden 161 Todesfälle aus den den vergangenen sieben Tagen gemeldet, im Vorjahr waren es 56, und im Jahr 2020 waren es zur selben Zeit bloß 17. Der Herbst ist uns also näher als üblich. Allein die Krankenhäuser in Schleswig-Holstein berichten derzeit von so vielen Corona-Patienten wie nie zuvor. Solche Zahlen kann man auf der Internetseite des NDR gut nachlesen.

Manche Menschen aber fühlen sich sicherer, weil sie geimpft und/oder genesen sind...

Ja, einige sind ja auch glimpflich fast ohne Symptome davongekommen, aber das weiß man vorher nicht, das ist wie Lotteriespielen. Es geht ja auch nicht allein ums Sterben, sondern um den Verlauf der Krankheit, die letztlich viele Organe betreffen kann. Und die wenigsten wissen, welche Corona-Variante sie hatten. Für neue Varianten kann man dann wieder empfänglich sein.

Wie viele Varianten sind denn überhaupt denkbar?

Oh, das ist schwer zu sagen. Vermutlich wird sich das mit der Zeit stabilisiert, wie bei der Grippe. Da gibt es inzwischen nur alle zehn bis 15 Jahre große Veränderungen.

War da eigentlich Weitsicht im Spiel, als Sie schon im Mai 2020 ankündigten, dass wir Corona und Grippe gleichzeitig haben werden?

Ihre Fragen sind ja nie ganz einfach und mit Gewissheit zu beantworten. Aber es war absehbar, dass sich die Grippe wieder stärker zeigen wird. Durch den Lockdown hatten immerhin weniger Leute eine Influenza, aber dementsprechend auch keine Immunreaktionen. Eine neue Variante indes könnte jetzt viele Menschen treffen. Mit einer Grippeimpfung können Sie ihren Körper stark machen: Es ist quasi wie ein Sicherheitsgurt.

Anfang 2020 fürchteten Sie, Corona könne sich immer wieder um den Erdball schleichen, weil viele Länder nicht ausreichend und rechtzeitig geimpft haben. Konnte inzwischen ein wenig aufgeholt werden?

Ich war gerade zu einer Forschungsreise in Ost-Afrika, das zwar ein schwaches Gesundheitssystem hat, aber auch eine sehr junge Bevölkerung. Dort jedenfalls ist es im Moment einigermaßen ruhig, und zumindest gibt es derzeit kein Krisen-Land. Fraglich bleibt, wie zuverlässig und vergleichbar die Zahlen sind, die der Weltgesundheitsorganisation gemeldet werden. Von Australien ist bekannt, dass man dort mit einer großen Grippewelle zu tun hatte.

Was können wir tun, eine sogenannte Twindemie zu vermeiden, also Grippe und Corona gemeinsam?

Wir müssten eigentlich wieder in allen öffentlichen Innenräumen Masken tragen, also im Kino, im Hörsaal der Hochschule, im Theater und im Fitnesszentrum. Auch nicht ohne Maske im Musical mitsingen. Jetzt wären mal wieder politische Entscheidungen der Länder gefragt, aber solche Erlasse traut sich im Moment noch keiner, da will sich niemand unbeliebt machen.

Ein Appell also an die Eigenverantwortung?

Ja, wir alle sollten es dem Virus nicht wieder so leicht machen. Wir können ja trotzdem noch auf den Wochenmarkt gehen: Draußen ist ja vieles möglich, weil wir warme Luft ausatmen, die schnell nach oben abzieht. Auch Bewegung im Freien ist schön, zum Beispiel Skifahren.

Da denken jetzt aber wieder viele Leser an den berühmten Covid-19-Ausbruch im Frühjahr 2020 in Ischgl, wo das Ganze ja seinen Lauf nahm...

Das war aber mehr beim Après-Ski in kleineren Räumen. Wir sollten einfach ein bisschen nachdenken und Corona weiter ernst nehmen. Wir haben doch alle etwas aus den vergangenen Jahren gelernt.