Hamburg. Seit der Corona-Pandemie ist der Epidemiologe Ralf Reintjes von der HAW in Lohbrügge bei vielen Medien ein gefragter Mann.

Es muss doch ein Traum sein, wenn man jahrelang Humanmedizin studiert hat, sich anschließend in London und Rotterdam auf Gesundheitswissenschaften und Epidemiologie spezialisierte und seit 2002 an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Lohbrügge als Professor für Epidemiologie lehrt: Ist die Corona-Pandemie jetzt ein großes Glück nach Jahren der wissenschaftlichen Theorie? „Oh nein, ich freue mich nicht jeden Morgen über diese Situation, sie nervt mich wie alle anderen. Aber es ist in der Tat auch sehr spannend“, gesteht Ralf Reintjes.

Nicht nur, dass der 56-Jährige wöchentlich Kanzler und Präsidenten der HAW in Lohbrügge berät, seine Studenten unterrichtet („online ist viel anstrengender“) und seine Forschungsprojekte in Afrika und in der Karibik (etwa zur HIV-Ausbreitung) weiterhin betreut. Dazu kommen jetzt internationale Anfragen zur Corona-Pandemie: „Eigentlich habe ich seit zwei Jahren Hochsaison und mindestens 200 Interviews gegeben“, berichtet Reintjes, der nahezu täglich Medienanfragen erhält, von CNN, BBC, Zeitungen aus Frankreich, Österreich und den Niederlanden. Sie alle haben mindestens bei Wikipedia gelesen, dass zu seinen Arbeitsschwerpunkten seit vielen Jahren die Überwachung von und Vorbereitung auf Pandemien zählt.

Ralf Reintjes ist Professor für Epidemiologie und gilt als Corona-Experte

Der Mann ist gut vernetzt und auf dem aktuellen Stand der Forschung. „Aus Israel und vielen anderen Ländern bekomme ich sowohl von Medizinern wie Gesundheitswissenschaftlern Infos aus erster Hand. Wir wollen alle gemeinsam versuchen, die Problematik zu verstehen“, sagt Reintjes. Kliniken, Universitäten und Politiker fragen nach seiner Einschätzung der Situation und nach schriftlich ausgearbeiteten Ratschlägen.

Die „neutrale Sicht eines europäischen Epidemiologen“ etwa war gefragt, als ihn das Parlament in Nordirland um Beratung bat. Und leider musste er immer wieder von der „nur schönen Idee Europa“ sprechen, denn „es ist schade, dass wir alles bloß auf Bundes- anstatt auf EU-Ebene koordinieren. Dabei kennt das Virus doch überhaupt keine Grenzen“. Während hierzulande schon geboostert wird, haben afrikanische Staaten etwa eine Impfquote gerade mal im einstelligen Prozentbereich, so Reintjes: „Aber die haben zum Glück meist eine viel jüngere Bevölkerung.“

„Derzeit erfahren wir eigentlich eher eine Abfolge von Pandemien“

Langeweile habe er nie gehabt, denn auch in den vergangenen 20 Jahren gab es immer mal wieder kleinere Epidemien, mit denen zu rechnen gewesen war: „Unsere Gesellschaft hat ja nicht nur die Pocken ausgerottet, sondern vor zehn Jahren mit der Schweinegrippe gekämpft. Und auch den Geist des SARS-CoV-1-Virus wieder in die Flasche gekriegt. Derzeit erfahren wir eigentlich eher eine Abfolge von Pandemien, denn Omikron weicht längst von der Ursprungsvariante ab und schlägt ein neues Kapitel auf. Das ist unserem Immunsystem gar nicht bekannt und viel schneller übertragbar.“

Diese Geschwindigkeit mache ihm Sorgen, bei täglich Millionen Infektionen könne es schnell zu einer fehlerhaften Abschrift des genetischen Codes kommen. Prof. Reintjes erklärt es seinen Studenten so: „Wenn man ein Blatt Papier 100-mal kopiert, wird es irgendwann unleserlicher. Meist kann man damit dann nichts mehr anfangen. Oder aber die Buchstaben verschwimmen derart, dass man ein anderes Wort daraus lesen kann. Dann haben wir quasi einen Fehler, also eine neue Virusvariante.“

Durch Grippe-Impfungen kennt unser Immunsystem viele Puzzleteile

Je größer die Welle, desto schneller könne das Virus wieder abebben, aber aktuell sei das Infektionsrisiko sehr hoch: „Wer derzeit mehrere Personen trifft, zum Beispiel in einem großen Supermarkt, begegnet bestimmt jemanden, der infiziert ist.“ Und doch sei ein Ende von Omikron absehbar, denn „wenn sich viele Menschen anstecken und immun werden, bleiben immer weniger empfängliche Personen für Infektionen übrig“, kalkuliert Reintjes. Dass dann eine neue Variante folgen kann, sei wahrscheinlich: „Die spielt aber hoffentlich keine große Rolle, wenn sie nicht ähnlich gut übertragbar ist wie Omikron.“

Zum Glück ist der menschliche Körper lernfähig, wie bei der Influenza, so der Wissenschaftler: „Das ist wie bei der endemischen Grippe. Allein durch die Grippe-Impfungen ist unser Immunsystem trainiert und kennt schon viele Puzzleteile, sodass es meist keine großen Pandemien gibt.“

Noch vier bis acht Wochen anpassen und durchhalten

Daher sei es jetzt auch bei Corona so wichtig, möglichst viele Menschen auf der Welt zu impfen. „Und ich weiß, dass große Pharmafirmen wie Biontech bereits in der Prüfung sind, bis März oder April auf eine Zulassung hoffen für einen Impfstoff gegen Omikron. Bleibt nur die Frage, ob das schnell genug ist“, so Reintjes.

Dennoch macht er Hoffnung auf Besserung, die neuzeitlich ja Lockerung genannt wird: „Wir müssen unser Verhalten noch vier bis acht Wochen anpassen und durchhalten, bis der Frühling kommt.“ Dann endlich wolle auch er mal wieder sein Homeoffice verlassen, denn in den vergangenen zwei Jahren habe er auf Reisen verzichtet, bloß „viel Schleswig-Holstein kennengelernt“.