Hamburg. Der Deutsch-Russische Wirtschaftsbund mit Sitz in Bergedorf sieht die Geschäfte mit Russland für viele Jahre blockiert.

Diese Aufmerksamkeit sind sie nicht gewohnt in Bergedorf: Nahezu täglich melden sich Zeitungen und Rundfunkanstalten am Weidenbaumsweg 13. Hier sitzt die Geschäftsstelle des Deutsch-Russischen Wirtschaftsbundes. Der Verein hatte sich im Herbst 2014 gegründet, um die Interessen der Mittelständler zu vertreten, die Geschäfte mit Russland machen – von spezialisierten IT-Firmen „bis hin zum Agar-Ausrüster auf dem platten Land“, sagt Präsident Dr. Thomas Overbeck.

Offiziell zählt der Verein 120 Mitglieder, die „gemeinsam grenzenlos gestalten“ wollen. Aber man erreiche bundesweit gut 3000 Unternehmen, die Russland-Bezug haben – und jetzt mehr denn je belastbare Informationen brauchen.

Deutsch-Russischer Wirtschaftsverbund in Bergedorf bekommt viele Anfragen

Mindestens 100 Menschen klinken sich montags in die Videorunde ein und tauschen sich aus: Zwar geht noch Ware nach Russland, aber es kommt kein Geld zurück. „Fremdwährungen sind limitiert worden, es gibt einen Zwangsumtausch für Devisenkonten“, schildert Overbeck die Probleme bei laufenden Aufträgen. Was, wenn auch noch Auslandswerke deutscher Unternehmen beschlagnahmt und das Eigentum eingezogen werde?

Ein „Exodus der aus ausgebildeten Generation

„Viele russische Mitarbeiter dieser Unternehmen sind genauso bestürzt wie wir und verurteilen diesen Angriffskrieg zutiefst. Aber sie dürfen das nicht so deutlich zum Ausdruck bringen“, ahnt der 62-Jährige und weiß, dass eine hohe Arbeitslosigkeit befürchtet wird – wobei einige Mitarbeiter derzeit noch mit Wartungen oder der Waren-Sicherheit beschäftigt werden können. Zugleich hätten etliche junge Russen das Land verlassen: „Es gibt einen Exodus der gut ausgebildeten Generation, die eine Zukunft haben will ohne Repressalien fürchten zu müssen.“

Druck erzeugt bekanntlich Gegendruck. Dass die fein gesponnenen Lieferketten anfällig für Störungen sind, zeigt sich längst auch an der Gegenrichtung: Russland liefert nicht nur Gas, Kohle und Öl nach Deutschland, sondern auch seltene Erden, die in der IT und der Autoproduktion gebraucht werden.

Jahrelange Nachwirkungen der aktuellen Sanktionen

Auch die Holz-Einfuhr ist betroffen: „Da der Lübecker Hafen jetzt einen Terminal stillgelegt hat, wird wohl auch Bauholz teurer werden“, so Overbeck, der seinen pessimistischen Blick nicht zurückhält – obwohl sich die Exporte im vergangenen Jahr noch um 15 Prozent gesteigert hätten: „Da die aktuellen Sanktionen auf viele Jahre ausgelegt sind, wird das Geschäft mit Russland vermutlich auch längere Zeit keinen Erfolg mehr haben.“

Der Präsident des Bergedorfer Vereins hofft auf zügige Überbrückungshilfen der Bundesregierung für all jene deutschen Firmen, die sich nun umorganisieren müssen, ihre Geschäftsfelder in andere osteuropäischen Länder verlegen – oder eben direkt in die Ukraine: „Da ist viel kaputtgemacht worden, sind Kraftwerke und Produktionsanlagen zerbombt worden, müssen Straßen, Häuser und die gesamte Infrastruktur wieder aufgebaut werden.“ Allerdings müsse das Land nach diesem Zermürbungskrieg erst befriedet und „keine Marionettenregierung von Russlands Gnaden sein“ – dann würden schließlich auch keine Hilfsgelder fließen.

Die Geflüchteten aus der Ukraine brauchen jetzt Arbeitsplätze

Leider sei er skeptisch, glaube nicht an eine schnelle Lösung, so Thomas Overbeck: „Das wird vermutlich länger dauern als wir denken. Aber wir alle können helfen. Unser Vorstand plant etwa eine Spendenaktion, um ein Projekt für die Ukraine gezielt zu fördern. So wie wir auch zu Coronazeiten einem russischen Krankenhaus mit medizinischem Gerät geholfen haben.“

Und so stehe automatisch nicht nur die Wirtschaft, sondern eben auch der Mensch im Mittelpunkt: „Es darf nicht sein, dass russische Lkw-Fahrer jetzt bepöbelt werden.“ Es dürfe weder Verteufelung noch Stigmatisierung geben, denn „viele von ihnen sind auch gegen Krieg und Gewalt“.

Overbeck denkt an die Spätaussiedler, die heute „gute Mitglieder unserer Sozialgemeinschaft sind“. Das könnten ebenso die Ukrainer werden, die in Deutschland Arbeit finden, meint er: „Mein Unternehmen wird zwei Stellen für Ukrainer anbieten, wenn sie eine ungefähr geeignete Qualifikation mitbringen“, sagt der Inhaber von Timm Elektronik in Reinbek. Der Weltmarktführer für Schiffserdungssyteme hat sich auf Sicherheitstechnik in explosionsgefährdeten Bereichen spezialisiert, etwa in Raffinerien, Chemiewerken und Tanklagern.

„Unternehmen haben moralische Verantwortung“

Vor dem Deutschen Bundestag hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj all jenen Unternehmen gedankt, die „jetzt die Moral über den Profit gestellt haben“. Das scheint dem Deutsch-Russischen Wirtschaftsbund eine Selbstverständlichkeit zu sein: „Alle Unternehmen haben auch eine moralische Verantwortung. Jetzt geht es darum, dass die Geflüchteten Unterstützung und Arbeit brauchen, nicht von Almosen abhängig sind. Hier geht es um Menschenwürde.“

Das wird auch ein Thema im September sein, wenn der Deutsch-Russische Wirtschaftsbund wie geplant zum „Mittelstandstag“ einlädt: „Es geht um wirtschaftliche Entwicklung in Osteuropa, aber wir müssen zugleich einen neuen Fokus finden, solange es in Russland keine Marktchancen gibt“, sagt Overbeck, der seine für Mai geplante Russlandreise längst abgesagt hat: Zwar gebe es keine Blaupause für eine Lösung, wird er seinen Mitgliedern sagen müssen, aber „es gibt auch viele, kleine, individuelle Möglichkeiten, die zeigen, dass jede Krise auch eine Chance ist“.