Hamburg. Wieso Berenberg-Banker Hans-Walter Peters vor einem Gas-Embargo warnt, steigende Inflationsraten sieht und was die EZB tun soll.

Mehr als 20 Jahre war Hans-Walter Peters persönlich haftender Gesellschafter der Berenberg Bank. Ende 2020 wechselte er in den Verwaltungsrat der Bank, die 1590 gegründet wurde und damit die zweit­älteste Bank der Welt ist. Peters war mehrere Jahre Präsident des Bundesverbandes deutscher Banken und wichtiger Gesprächspartner der Kanzlerin während der Finanzkrise. Als weltweit tätiges Institut und größter Begleiter von Börsengängen im deutschsprachigen Raum hat man an der Binnenalster die Weltwirtschaft genau im Blick. Ein Gespräch über die Zeitenwende, die Inflation und die Zukunft des Landes.

Wir erleben eine Zeitenwende, sagte Olaf Scholz nach der Invasion der Russen in der Ukraine. Wie wird sich diese Zeitenwende auf die Wirtschaft auswirken – müssen wir alle unsere Prognosen nach unten korrigieren?

Hans-Walter Peters Wir gehen weiterhin von einem Wachstum aus. Ich hoffe noch immer, dass wir in Deutschland eine Drei vor dem Komma sehen. Das hängt natürlich von der weiteren Entwicklung im Ukraine-Krieg und bei der Pandemie ab. Bei Corona sollten wir uns weniger an den Inzidenzen und mehr an der Lage auf den Intensivstationen orientieren. Andere Länder sind da weiter als wir und sehen Corona nicht mehr als die ganz große Gefahr.

Die Umwälzungen in der Weltwirtschaft könnten für uns noch deutlich dramatischer werden als die Pandemie. Deutschland hat wie kaum ein anderes Land von offenen Märkten und der Globalisierung profitiert. Was wird, wenn nun Russland, bald aber vielleicht auch China vom Handelspartner zum Gegner werden?

Das würde ich nicht überinterpretieren. Mit den Chinesen können und müssen wir uns einigen. Für sie sind offene Märkte ebenfalls extrem wichtig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich die Chinesen klar auf die russische Seite schlagen und damit massive wirtschaft­liche Verwerfungen riskieren. China ist pragmatisch und hat ein hohes Interesse, die eigene Wirtschaft am Laufen zu halten.

„Die eigene Wirtschaft am Laufen halten“ ist ein schönes Stichwort. Was halten Sie von dem hierzulande diskutierten Gas- und Öl-Embargo gegen Russland?

Da würde ich gern einen Schritt zurückgehen und eine andere Frage stellen. Wie kann es sein, dass wir in diese Abhängigkeit geraten sind? Wir wussten doch schon länger, welcher Machtpolitiker Putin ist. Da fehlt mir das Verständnis. So gern wir schnell aus den Rohstoffgeschäften mit Russland aussteigen würden, die Folgen eines Embargos wären für uns dramatisch! Ich habe hohen Respekt vor Minister Robert Habeck. Er hat erkannt, dass die Folgen uns massiv treffen würden und am Ende vielleicht nicht einmal durchzuhalten sind. Der Schritt zurück wäre dann eine Katastrophe. Wir müssen russisches Öl, Gas und Kohle schnell ersetzen, dürfen aber keinen Kollaps unserer Wirtschaft riskieren. So weh es tut, es geht derzeit nicht anders.

Berenberg-Banker: Das wird aus der Energiewende

Was wird aus der Energiewende? Ein höherer Anteil an Kohle wird schon eingeplant.

So skeptisch bin ich nicht, was die Energiewende betrifft. Wir bekommen oftmals nicht richtig mit, wie intensiv in den Unternehmen daran gearbeitet wird, die eigenen Klimaziele zu erreichen. In den Forschungsabteilungen passiert viel mehr, als nach außen dringt. Zudem sparen derzeit viele Bürger Energie. Ich schaue von meinem Büro aus auf die Lombardsbrücke und kann mich nicht daran erinnern, dass jemals so wenig Verkehr war.

Das ist für unsere autozentrierte Wirtschaft auch keine so gute Nachricht.

Das stimmt. Da müssen wir auch aufpassen. Es wäre wichtiger, zunächst die großen Spritschlucker durch E-Autos zu ersetzen. Dann können wir die kleinen Dreiliter-Diesel durchaus weiterfahren lassen. Insgesamt ist wichtig, dass wir in unserer Klimapolitik immer wieder klug nachsteuern.

Die ökonomischen Folgen spielen anders als früher in den heutigen Debatten nur eine Nebenrolle. Ist Deutschland nach 15 Jahren Aufschwung satt und träge geworden und glauben zu viele Menschen, das Wachstum komme automatisch?

Es ist immer ein Problem für eine Volkswirtschaft, wenn sie so lange so fette Jahre hatte. Nun sind die fetten Jahre erst einmal vorbei. Wir aber haben verlernt, in Zyklen zu denken. Und wir haben viel zu wenig hinterfragt, wer dieses Wachstum eigentlich gepusht hat. Alle Zentralbanken, die US-Notenbank, die EZB, haben mitgemacht. Das Ergebnis sehen wir jetzt. Plötzlich liegt die Inflation bei 5,9 Prozent, und bald werden es vielleicht sieben Prozent sein. Zugleich haben wir noch immer einen negativen Zinssatz. Und die Zentralbanken kaufen weiterhin massiv Anleihen und haben Billionen in die Märkte gepumpt. Wer so viel Gas gibt, muss dann auch die Konsequenzen einer solchen Inflation verantworten.

Fürchten Sie eine neue Finanzkrise?

Nein, die fürchte ich nicht. Ich fürchte aber, dass wir die Inflation nicht unter Kontrolle bekommen. Wenn wir nächstes Jahr zum Beispiel sieben Prozent Preissteigerung bekommen, haben wir damit noch keine Finanzkrise. Aber ich würde mir eine Zentralbank wünschen, die die Zeichen der Zeit endlich erkennt. Im Frankfurter EZB-Tower rechnet man für 2024 noch immer mit Preissteigerungsraten von zwei Prozent. So rechtfertigt man das Nichtstun. Dabei fordern alle Marktteilnehmer längst einen Kurswechsel. Es ist überfällig, dass die Banken zumindest beim Freibetrag von den Negativzinsen entlastet werden. Darüber habe ich oft mit EZB-Chefin Lagarde gesprochen – leider ohne Erfolg. Ich bin entsetzt, wie die EZB diese Inflation managt. Dabei war diese Inflation wirklich absehbar. Wir müssen den Eindruck haben, dass die Preisstabilität nicht mehr die höchste Priorität genießt, sondern andere Punkte die Agenda bestimmen.

Was die EZB nun machen sollte

Wie wollen wir wieder von Raten von sieben Prozent herunterkommen?

Die EZB hat immer unterstellt, dass die Inflation nur eine vorübergehende Erscheinung ist und bald wieder deutlich zurückgeht. Doch auch jetzt, wo die viel beschworenen Basiseffekte wie die Mehrwertsteuersenkung entfallen sind, steigt die Inflation weiter. Unser Problem reicht tiefer: Unternehmen sprechen in ihren Vorstandssitzungen wieder über Preissteigerungen – das hat es seit Jahren nicht gegeben. Wir befinden uns längst in einem Inflationsprozess, und im Herbst stehen wichtige Tarifverhandlungen an. Da werden die Gewerkschaften sich mit zwei Prozent nicht zufriedengeben, sondern vier Prozent herausverhandeln wollen. Mindestens. Dann setzt eine Lohn-Preis-Spirale ein. Hinzu kommt: In vielen Branchen fehlt es an Fachkräften. Mir fehlt die Fantasie, wie wir wieder auf zwei Prozent kommen wollen. Die Inflation wird am Ende vor allem die kleinen Leute treffen. Die Energiepreise sind brutal gestiegen, und auch Nahrungsmittel werden immer teurer.

Sehen Sie die Gefahr einer Stagflation – also einer Inflation bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Stagnation?

Nein. Die Nachfrage, die sich durch Corona aufgebaut hat, bleibt extrem hoch. Das Angebot hingegen ist zu klein. Das fängt bei Urlaubsbuchungen an und hört bei Autos und Möbeln noch nicht auf. Manche Fahrzeuge sind derzeit gar nicht mehr zu bekommen. Im Sommer dürfte die Nachfrage weiter steigen. Dann werden sich die gestiegenen Energiekosten weniger stark bemerkbar machen, weil niemand Heizöl kauft.

Wie sollen Anleger auf dieses veränderte Umfeld reagieren? Das Sparbuch ist wohl die schlechteste Lösung, auch wenn Olaf Scholz das als Finanzminister noch propagiert hat.

Dazu sage ich mal lieber nichts – aber sonst möchte ich den Kanzler ausdrücklich loben. Wie schnell er auf die neue
Situation reagiert hat und sich gedreht hat, verdient alle Anerkennung. Ich bin wirklich beeindruckt, wie die Ampel reagiert. Da spüre ich viel Pragmatismus, auch Lindner und Habeck arbeiten wirklich gut zusammen.

Was also sollten die Anleger tun?

Aktien sind langfristig immer die beste Variante. Man sollte das Risiko streuen, gerade auch auf verschiedene Kontinente. Jetzt werden einige Weichen neu gestellt, etwa in Bezug auf Verteidigung aber auch regenerative Energien.

Müsste der Staat mehr für die Aktienkultur tun?

Ja, zweifellos. Die Diskussion über die Finanztransaktionssteuer war da sicher nicht hilfreich.

Sollte auch der Staat verstärkt Anteile erwerben? Hier in Hamburg haben wir mit Investments in Beiersdorf, die damalige Norddeutsche Affinerie und Hapag-Lloyd nicht nur die Unternehmen am Standort gehalten, sondern auch richtig viel Geld verdient.

Das ist richtig. Aber ordnungspolitisch müssen wir immer die Frage stellen, wie lange die Stadt als Investor drinbleiben muss und sollte. Wenn die öffentliche Hand beginnt, Einfluss zu nehmen, wird es schwierig. Ich bezweifele, dass die politische Mitbestimmung bei VW wirklich hilfreich ist. Die Rettung der Lufthansa war 2020 sinnvoll, aber genauso wichtig ist, dass die Lufthansa sich schnell wieder befreit hat.

Ist Deutschland kein attraktiver Kapitalmarkt mehr?

Sie haben 21 Unternehmen im deutschsprachigen Raum beim Gang an die Börse begleitet bzw. Kapitalmaßnahmen organisiert,
in Großbritannien waren es 32 und in den USA 18. Mit Biontech oder Sono-Motors haben Sie deutsche Wachstumsunternehmen in den USA an den Markt gebracht. Ist Deutschland kein attraktiver Kapitalmarkt mehr?

Die Aufnahmebereitschaft in den USA
ist einfach größer, dort werden bessere Preise erzielt. Die großen Pensionsfonds legen in Aktien an – und schauen auf die US-Märkte. Aktien spielen in den USA grundsätzlich eine andere Rolle als bei uns, viel mehr Menschen sind Anteilseigner, und der Kursverlauf entscheidet sogar US-Wahlen.

Das Silicon Valley, die amerikanische Technologieführerschaft wären ohne die US-Börsen nicht denkbar. Wie können wir da aufholen?

Wir müssen weniger Staat wagen. Aktiensparen zur Altersvorsorge könnte uns einen großen Schritt voranbringen. Ich hoffe, dass wir da nun politisch vorankommen.

Brauchen wir einen Neuen Markt 2.0? Um die Jahrtausendwende gelang vielen Wachstumsunternehmen in Deutschland der Sprung an die Börse, nach dem Crash fehlte der lange Atem. Und nun drängen viele Firmen ins Ausland.

Es wäre gut, ein solches Segment wieder zu besetzen. Vielleicht braucht es einen anderen Namen. Aber wir können von den USA lernen: Vor 25 Jahren gab es weder Google noch Tesla, heute zählen beide zu den wertvollsten Unternehmen der Welt. Von dieser ungeheuren Dynamik sollten wir uns eine Scheibe abschneiden. Das schafft Arbeitsplätze und Wohlstand. Wir haben uns völlig zu Recht hohe Ziele beim Klimaschutz gesetzt – um diese zu erreichen, benötigen wir aber innovative Firmen, die Geld verdienen. Und dieses Ziel bleibt auch, wenn der Krieg vorbei ist.