Bergedorf. Katastrophe nach Deichbruch in Neuengamme: Rückstau im Schleusengraben, Flut stieg bis ins Sachsentor. 2. Teil der Serie.

Der Schleusengraben, über Jahrhunderte Bergedorfs wichtigster Transportweg, dem heute großes Potenzial für Freizeit und Tourismus mitten in der Stadt zugeschrieben wird, kann auch zur Bedrohung werden. Wenn eine große Sturmflut den Elbdeich in den Vier- und Marschlanden brechen lässt, zudem starker Westwind und ergiebiger Regen über Wochen anhalten, könnte der alte Kanal Bergedorfs Straßen und Häuser fluten. Gespeist vom Wasser der Bille, das nicht abfließen kann, würde die Katastrophe ihren Lauf nehmen.

Was unvorstellbar klingt, könnte selbst modernste Technik nicht verhindern, nur verzögern. Auch vor 250 Jahren schon waren die Bergedorfer im Umgang mit der Urgewalt des Elbstroms vertraut, konnten seine Wassermassen mit geschickten Deichbauten gut im Zaum halten. Doch als mitten im Sommer 1771 die Katastrophe über sie hereinbrach, grenzte es an ein Wunder, dass Bergedorf – und mit ihm sogar Hamburg – nicht unterging.

Bis heute erinnern Gedenksteine an das Ereignis

Das Lichtwark-Heft 2021
Das Lichtwark-Heft 2021 © Kultur- & Geschichtskontor | Kultur- & Geschichtskontor

In der Nacht vom 8. auf den 9. Juli brach der Deich in Neuengamme. Dem Ereignis, an das bis heute Gedenksteine im Landgebiet und in Hamburg erinnern, widmet das neue Lichtwark-Heft (8 Euro; 120 Seiten; in allen Buchhandlungen) des Kultur- & Geschichtskontors einen umfangreichen Aufsatz.

Nach einem schneereichen Winter und sehr viel Regen im Frühjahr hatte die Elbe fast durchgängig Hochwasser geführt, das im Juli von einem anhaltend starken Westwind von der Nordsee her zusätzlich aufgestaut wurde. Ein Druck, dem der ungünstig in einer Flussbiegung liegende Neuengammer Elbdeich nicht mehr standhielt. Er brach an gleich sechs Stellen, zusammen auf gut 350 Meter Breite.

Die Flut sorgte für Hunger und Elend

Von hier nahm das Unglück seinen Lauf: Erst flutete das Elbwasser Neuengamme und das sich anschließende Reitbrook. Drei Tage später hielten die dortigen Hausdeiche nicht mehr und auch Curslack, Ochsenwerder sowie andere Landstriche liefen voll. In der Folge staute sich der Schleusengraben, schwappte mindestens knietief bis ins heutige Sachsentor, nach Nettelnburg, auf das heutige Hauni-Gelände und stand in Hamburg bis zum Deichtor.

+++ Teil 1 der Serie: Als Bergedorf an Hamburg und Lübeck fiel +++

Zehn Tage stieg das Wasser immer höher, doch auch anschließend glich der Blick vom Geesthang in Bergedorf nach Süden über Wochen dem auf eine Seenlandschaft. Auch wenn bei dieser Flut kein Mensch direkt zu Tode kam, sorgte sie für Hunger und Elend, das über Jahre anhielt. Wie nachhaltig der Schaden war, beschrieb der Vogt des Kirchspiels Neuengamme in einem im Hamburger Staatsarchiv erhalten gebliebenen Brief vom 3. Oktober 1771: „Unsere Äcker sind Wüsten ähnlich geworden, unsere Gärten und Feldfrüchte verdorben. Und unsere Häuser von der Wut des Wassers so sehr beschädigt, dass große Kosten zur Wiederherstellung nötig sind. Für uns selbst fehlt es für den Winter am nötigen Lebensunterhalt, für unser Vieh an notwendiger Fütterung.“

Zum Ablaufen des Wassers wurde der Elbdeich geöffnet

Zwar seien die Tiere überwiegend vor der Flut gerettet und hinauf zum Geesthang getrieben worden. Doch der sei derart karg, dass „bereits ein großer Teil krepiert“ sei. Auch sei die neue Einsaat der jetzt endlich vom Wasser befreiten eigenen Felder unmöglich, weil es an Geld und Kredit fehle. Nach Forschungen des Kultur- & Geschichtskontors dauerte es 30 Jahre, bis die von der Flut betroffenen Menschen ihre Schulden abbezahlt hatten.

Die Reparatur des Elbdeichs begann drei Wochen nach der Flut, doch die Wassermassen standen noch weit länger in den Vier- und Marschlanden. Sie flossen erst ab, als man sich traute, den Rat des angesehenen Barockbaumeisters Ernst Georg Sonnin zu befolgen: In Ochsenwerder und Rothenburgsort wurde der Elbdeich geöffnet.


3. Teil unserer Serie zum Lichtwark-Heft: Die Entstehung der Siedlung auf der Bojewiese von 100 Jahren.