Bergedorf. Wer über die „Außerparlamentarische Opposition“ redet, denkt zuerst an Berlin. Doch auch in Bergedorf gab es eine APO.

Für Dr. Arne Andersen war es „ein kurzer Sommer der Anarchie und die spannendste Zeit meines Lebens“. Das Berliner Attentat auf Studentenführer Rudi Dutschke von 1968 hatte in Bergedorf Nachwirkungen. Die zwei Jahre kurze, aber intensive und öffentlichkeitswirksame Zeit der APO, jener „außerparlamentarischen Opposition“, der hier kaum mehr als 30 politisch aktive Studenten, Schüler wie Arne Andersen und junge Arbeiter angehörten.

Mit provokanten Aktionen wie der Umbenennung des Luisen-Gymnasiums in „Rosa-Luxemburg-Schule“ knöpften sie sich die autoritäre, vielfach noch nationalsozialistisch durchsetzte Bergedorfer Gesellschaft vor. Aus jungem, linkem, teils anarchistischem Blickwinkel wirkte hier alles wie aus der Zeit gefallen: Sollte der rasant wachsende Wohlstand des Wirtschaftswunders wirklich alles überdecken?

Mit dem Rohrstock und anderen Gemeinheiten gegen die Protestierer

Aus Sicht der APO musste sich Grundlegendes verändern. Und dafür wurde gekämpft. Mit Argumenten. Die alte Welt wehrte sich mit dem Rohrstock und anderen Gemeinheiten.

Autor von „Die Bergedorfer APO“: Dr. Arne Andersen.
Autor von „Die Bergedorfer APO“: Dr. Arne Andersen. © Arne Andersen | W.Blumrich 79194

Wie genau das abgelaufen ist, beleuchtet Arne Andersen in seinem jüngst erschienenen, 264 Seiten starken Buch „Die Bergedorfer APO – Politischer Protest in der Hamburger Provinz“ (14,90 Euro; im Kultur- & Geschichtskontor und allen Buchhandlungen). Wir stellen es in dieser Serie vor. Den Anfang macht sein ausführliches Kapitel über den Alltag in Bergedorf um 1967, das wie ein Blick in eine weit zurückliegende Welt wirkt.

Knigge 1970: „Ob Philipp begeistert ist von der ,vergammelten’ Susanne?“

„Viele Ehen und Familien funktionierten noch nach dem 1958 abgeschafften Gehorsamkeitsparagraf, wonach der Mann alles zu bestimmen hat, die Frau dagegen die Pflicht zur Führung des Haushalts hat“, zitiert Andersen die „dienende Aufgabe“ der Frau und Mutter im Verhaltensbuch Knigge von 1970: „Ich weiß nicht, ob Philipp so besonders entzückt ist, wenn ihm seine ,vergammelte’ Susanne die Tür öffnet.

Ausgebeulte Trainingshosen, ein verdreckter Pulli, dazu noch Lockenwickler im Haar und Fettcreme im Gesicht – kein besonders ansprechender Anblick.“ Was Philipp falsch machen kann, wird so detailliert nicht beschrieben.

Sexuelle Befreiung, aber die Verhütung blieb Sache der Frauen

Wer aus diesem und den vielen anderen Rollenbildern ausbrechen wollte, hatte wenig zu lachen. So wurde mit der Erfindung der Anti-Baby-Pille zwar der Weg zum freien Sex geebnet, die Verhütung aber allein auf die Schultern der Frauen gelegt.

Denn uneheliche Kinder gab es offiziell nicht – und Abtreibungen blieben verboten. Auch ging schon damals jede zweite Frau einer Arbeit nach. Oft als Haushaltshilfe oder Putzfrau, weil der Mann im Krieg geblieben war oder schlicht zu wenig verdiente. Dafür wurden die Frauen aber schief angeguckt.

Arbeiterkinder gehörten nicht aufs Gymnasium

Im Bildungswesen fest verankert war die Klassengesellschaft „Arbeiterkinder gehörten nicht aufs Gymnasium. Mädchen schon gar nicht. Die sollten heiraten“, schreibt Andersen und belegt das mit vielen Beispielen, wie diese Kinder etwa vom Hansa-Gymnasium gemobbt wurden. Häufig durch einzelne Lehrer oder die Schulleitung.

Gleichzeitig kam das Wirtschaftswunder bei den verschiedenen Gesellschaftsschichten sehr unterschiedlich an. Zwar stiegen überall die Einkommen, aber die Geschwindigkeit war bei Beamten und Selbstständigen zwei- bis dreimal so hoch wie in den Arbeiterfamilien.

Die NPD war in Bergedorf damals eine sichtbare Kraft

Die Wohnungen waren im Vergleich zu heute winzig. So galt ein Reihenhaus mit 60 Quadratmetern für eine fünfköpfige Familie schon als (Beamten-)Luxus. Normal war eine Zwei-Zimmer-Wohnung. Alleinerziehende Mütter hatten mit drei Kindern kaum mehr als eineinhalb Zimmer unter dem Dach, mit Toilette auf dem Hof.

Die jungen APO-Mitglieder wollten das und die politisch noch immer sehr rechte Stimmung – die NPD war in Bergedorf damals noch eine sichtbare Kraft – nicht hinnehmen.