Hamburg. Mit dem Erscheinen der ersten Ausgabe am 14. Oktober 1948 war ein neuer Zeitungstyp geboren. Die Innovationen dauern bis heute an.
„Machen Sie die beste Lokalzeitung, die es gibt. Und wenn das nicht reicht, machen Sie die beste Lokalzeitung der Welt!“ Nein, anspruchslos oder bescheiden war er nicht, der gerade einmal 36 Jahre alte Verleger, der im Sommer 1948 seine frisch gegründete Redaktion anfeuerte. Der junge Verleger hieß Axel Springer, und das ehrgeizige Projekt, von dem er sprach: das Hamburger Abendblatt.
Mit dem Start des Abendblattes vor 75 Jahren (Lesen Sie hier alles zum Abendblatt-Jubiläum) erfüllte sich Axel Springer nicht nur den lang gehegten Traum von einer eigenen Tageszeitung. Direkt nach dem Krieg bewarb sich Springer um eine Lizenz für eine Tageszeitung. Doch die britische Militärregierung spielte da nicht mit. Lizenzen für Zeitungen erhielten zunächst einmal die politischen Parteien. Springer durfte allenfalls Bücher drucken, mehr erlaubten die Besatzer nicht.
Hamburger Abendblatt nahm seinen Anfang in Altona
Axel und sein Vater Hinrich Springer hauchten ihrem von den Nazis geschlossenen Verlag Hammerich & Lesser neues Leben ein. In dem Verlag erschienen vor dem Krieg die „Altonaer Nachrichten“. Verlag und Druckerei an der Königstraße in Altona lagen zwar seit April 1945 in Trümmern, doch Axel Springer hatte noch Anfang der 40er-Jahre Zehntausende Bände mit belletristischer Literatur an unterschiedlichen Orten in der Lüneburger Heide versteckt, ebenso Tonnen von Druckpapier. Jetzt endlich konnte er sie zu Geld machen – zu Startkapital.
1946 erhielt Springer die Erlaubnis, ein regelmäßiges Heft mit Beiträgen aus dem Programm des Rundfunksenders der britischen Zone, dem NWDR, zu drucken. „Nordwestdeutsche Hefte“ wurden bald mit einer Auflage von 100.000 Exemplaren pro Monat verkauft.
Springer gab nicht auf und fragte immer wieder bei der britischen Militärverwaltung nach einer Tageszeitungslizenz. Die Antwort der Briten lautete immer wieder „No!“. Aber er könne gern eine Programmzeitschrift herausbringen, die nicht nur die Sendefolge des NWDR bekannt gab, sondern auch die anderer Sender. Die „Hörzu“ war geboren! Die erste Ausgabe erschien am 11. Dezember 1946 zum Preis von 30 Pfennig. Die 250.000 gedruckten Exemplare waren nach wenigen Stunden vergriffen.
Hamburger Abendblatt: Tageszeitungen waren das Herzensprojekt von Axel Springer
Doch die Idee einer eigenen Tageszeitung ließ Springer nicht los. Das Konzept dafür reifte weiter. „Excelsior“ sollte das Blatt heißen. Erst im Herbst 1947 mehrten sich die Signale, dass die Militärregierung womöglich doch die Lizenz für eine überparteiliche Zeitung in Hamburg vergeben würde. Die bis dahin bevorzugte parteigebundene Presse erfüllte weder die Leserbedürfnisse noch die journalistischen Maßstäbe der Engländer. Springer formulierte einen Antrag für ein Blatt, in dem der lokale Teil das Zentrum bilde, eine Zeitung, „die in die Familie Eingang findet“, die niveau-volle Allgemeinverständlichkeit garantiere und auf jede Schulmeisterei verzichte. Seine Ideen zielten auf einen in Deutschland völlig neuen Zeitungstyp nach angelsächsischem Vorbild. Nicht die Information sollte im Mittelpunkt stehen, sondern das Bedürfnis des Lesers nach einem harmonischen Zusammenleben. Springer schwor fortan seine Mitarbeiter darauf ein: „Behandelt mir diesen Leser schonend …, fragt euch, was diesem Leser wohltut, was er braucht, um seinen Alltag zu verstehen.“
Max Brauer: „Axel, jetzt kannst du deine Zeitung machen“
Schließlich kam Springer das Glück zu Hilfe: Denn während das Lizenzverfahren im Gange war, übertrug die Militärregierung die Auswahl an den Hamburger Senat. „Axel, jetzt kannst du deine Zeitung machen“, sagte der Erste Bürgermeister Max Brauer seinem Freund Axel Springer. Am 12. Juli 1948 hielt Springer die offizielle Senatslizenz Nr. 1 für das „Hamburger Abendblatt“ in den Händen.
In seiner Wohnung probierte der Verleger Schrifttypen aus und klebte Musterseiten zusammen, dort konferierten auch die damals rund 20 Redakteure und wurde das Konzept verfeinert. Die Verlagsräume in einem Hinterhaus der Alten Volksfürsorge an der Außenalster wurden ausgebaut, Satztechnik, Schreibmaschinen und Auslieferungsfahrzeuge gemietet. Die Mittel dafür lieferte die hochprofitable „Hörzu“.
Springer mietete Druckkapazitäten bei Broschek & Co. an den Großen Bleichen (heute Hotel Renaissance) – gegen den Widerstand der Broschek-Erben, die durch das Springer-Projekt ihre Pläne für eine Wiederbelebung des traditionsreichen „Hamburger Fremdenblatts“ gefährdet sahen. Das „Hamburger Fremdenblatt“ war bis zur Zeit der Nationalsozialisten die größte Zeitung der Stadt. Und wie sich später herausstellen sollte, war die Sorge der Broschek-Erben nicht unberechtigt … Dass das Hamburger Abendblatt am späten Nachmittag erschien, lag übrigens zunächst auch daran, dass es keine andere freie Druckzeit gab. Druckereien waren ebenso wie Papier Mangelware. Deshalb erschien die Zeitung in den ersten Monaten auch nur alle drei Tage.
Am 13. Oktober sollte es so weit sein, doch Springer war abergläubisch und verschob den Starttermin für sein Abendblatt auf den 14. Oktober, einen Donnerstag. Acht Seiten war die erste Ausgabe dünn: Der Titelseite folgten die Meinungsseite, eine Hamburg-Seite, eine komplette Seite Anzeigen, dann die Sportseite (zur Hälfte mit Anzeigen belegt), eine Seite Unterhaltung/Kunst/Wissen mit Fortsetzungsroman, eine Seite Volkswirtschaft/Weltwirtschaft und schließlich die Bilderseite (heute „Aus aller Welt“) mit neun Fotogeschichten.
Was die Leserinnen und Leser der ersten Ausgabe erfuhren
In der ersten Ausgabe des Hamburger Abendblattes erfuhren die Leserinnen und Leser viele überraschende Dinge – manche scheinbar belanglos, manche nützlich für das eigene Leben:
- Die Maß Bier auf dem Münchner Oktoberfest kostet 2 D-Mark.
- In der britisch-amerikanischen Wirtschaftszone sollen monatlich 700.000 Paar Schuhe auf den Markt kommen.
- Das Magazin „Der Spiegel“ wird von den Besatzern für zwei Wochen verboten, nachdem sich die niederländische Regierung über einen Bericht zur Krönung von Königin Juliana beschwert hat.
- In Hamburg ist der erste Lambretta-Motorroller aus Italien (Preis: 1000 D-Mark) gesichtet worden.
- Ein Strafrichter hat in einem hanseatischen Gerichtssaal öffentlich eine Verteidigerin gerügt, weil ihm ihre „starke Schminkauflage und die rot lackierten Fingernägel in Anbetracht der Not des Volkes unangebracht“ erschienen.
Wie die Redaktion den Start feierte
Das Hamburger Abendblatt sollte anders sein als die vielen in Hamburg bereits existierenden Parteizeitungen. Es sollte den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Daher druckt das Abendblatt auf seiner Titelseite seit der ersten Ausgabe bis heute etwas, das sonst keine andere Zeitung druckt: das „Menschlich gesehen“, eine kleine Porträtskizze, in der mit Wort und Bild täglich ein Mensch kurz vorgestellt wird. Mal ist es jemand aus der Prominenz, mal ist es ein Mensch aus dem Alltag, der auch in einer der vielen Geschichten der jeweiligen Ausgabe eine kleine Rolle spielt.
„Zeitungen sind lebendige Wesen, oder sie überleben nicht. Sie müssen gezeugt und geboren werden. Jeden Tag. Wir wissen, was das heißt. Wir standen am Donnerstag aufatmend neben unseren auslaufenden Setzmaschinen. Das Hamburger Abendblatt war geboren. Verstohlen zog einer von uns zwei Fläschchen aus der Tasche: Wasser aus der Alster und der Elbe. Für die Taufe.“ So beschrieb die Redaktion des Hamburger Abendblattes in Ausgabe Nummer zwei den Start der Zeitung.
„Mit der Heimat im Herzen die Welt umfassen“
Axel Springer hielt im Setzereisaal vor den Gästen eine kurze Rede, formte ein kleines Gedankenbild dessen, was ihm vorschwebt: „Eine unabhängige und überparteiliche Zeitung. Das eine sind wir, um das andere werden wir uns redlich mühen. Unsere Linie: die gute, verlässliche Information. Unsere Politik Menschlichkeit, Klärung, Ausgleich. Unser Sinnspruch: Mit der Heimat im Herzen die Welt umfassen!“
Der Start des Abendblattes wurde von vielen Hamburgern belächelt. Zwei Anekdoten aus der Zeit hört man noch Jahrzehnte später immer wieder von älteren Kollegen.
Die eine Anekdote: Ein Hamburger Kaufmann legte dem Abendblatt-Verleger in einer Hotellobby mit geheucheltem Mitgefühl die Hand auf die Schulter und kondolierte: „Wie geht es eigentlich Ihrem Abendblatt? Ich lese es ja nicht, aber meine Frau und meine Töchter, die schwören drauf!“ Springer hielt strahlend dagegen: „Das freut mich, denn genau darauf kommt es mir an!“
Als das Hamburger Abendblatt gegründet wurde, erschienen in Hamburg bereits sieben Zeitungen in der Hansestadt, unter anderem das „Hamburger Echo“ (SPD), die „Hamburger Freie Presse“ (FDP), die „Hamburger Allgemeine Zeitung“ (CDU) und die „Hamburger Volkszeitung“ (KPD). Es sei „unverantwortlich von Springer, junge Redakteure und Verlagsmitarbeiter in die sichere Arbeitslosigkeit zu locken“ hieß es damals. „In sechs Monaten seid ihr pleite“, unkten die „gestandenen“ Kollegen der Parteizeitungen. Doch sie lagen falsch.
Nur ein Jahr später war das Abendblatt Hamburgs größte Zeitung
Diese neue, diese andere Zeitung traf offenkundig die Gemütslage der Bevölkerung sehr genau. Innerhalb von nur vier Stunden waren alle 60.000 Abendblatt-Exemplare des ersten Tages für je 20 Pfennig verkauft. Nach sechs Wochen hatte die Auflage 107.000 Stück erreicht, nach einem halben Jahr schon 170.000. Und wäre das Papier nicht limitiert gewesen, hätten es noch weit mehr Exemplare sein können.
Nur ein Jahr nach der Gründung war das Abendblatt die größte Zeitung Hamburgs, und nur wenig später war es gar einmal die größte Zeitung Deutschlands. Das Hamburger Abendblatt wurde schnell erwachsen – und schließlich mehrfach selbst Mutter oder Vater: Aus der letzten Seite des Abendblattes, die Axel Springer als eine Seite entwickelte, auf der Nachrichten mit Bildern erzählt wurden, entwickelte sich die „Bild“-Zeitung. Als die vom Hamburger Abendblatt 1954 gegründete Sonntagsausgabe ein vielversprechender Erfolg wurde, entstand hieraus die „Bild am Sonntag“. Die Kinder entwickelten ein Eigenleben …
Apropos Mutter, Vater, Kind: Das Abendblatt ist eine wahre Familienzeitung. Nicht nur aufseiten der Leserinnen und Leser, sondern auch in der Redaktion. Hier fanden sich in den vergangenen Jahrzehnten viele glückliche Paare, entstanden junge Familien. So manches Baby wuchs in einem Strampler mit Abendblatt-Logo auf …
Das Abendblatt-Motto in den 50er Jahren: Seid nett zueinander
„Seid nett zueinander“ wurde in den 50er-Jahren zum Motto des Hamburger Abendblattes. Was damals im Sinne einer Aussöhnung und Heilung nach den grausamen Jahren der Nazi-Diktatur und des Weltkrieges ins Leben gerufen wurde, wirkt also bis heute nach. Das Hamburger Abendblatt ist für die Menschen da – und für Hamburg: Jahrzehntelang wurden Paare mit der Abendblatt-Hochzeitskutsche zur Kirche gefahren, mit dem Verein „Kinder helfen Kindern“ und der Redaktion „Von Mensch zu Mensch“ helfen das Abendblatt und seine Leser Zehntausenden Menschen in der Stadt. Mit der Aktion „Zeichen eines besonders rücksichtsvollen Autofahrers“ setzte sich die Abendblatt-Redaktion für die Einführung von Zebrastreifen ein und schuf eben diesen Namen.
Hamburger-Abendblatt-Leserinnen und -Leser halfen in den 90er-Jahren der hungernden Partnerstadt Leningrad (heute St. Petersburg), spendeten massiv für die Opfer der Jahrhundertflutkatastrophe an der Elbe (2002), sanierten die maroden Kaiserstatuen am Hamburger Rathaus und den Turm der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis. Die Stadt für ihre Menschen immer wieder besser zu machen – auch das ist das Abendblatt.
Das Hamburger Abendblatt erfand sich immer wieder neu
Wie war das doch noch? Was forderte der Verleger von seinen Redakteuren? „Machen Sie die beste Lokalzeitung …“ Axel Springer ist schon vor fast 40 Jahren verstorben, der gleichnamige Konzern seit 2013 Geschichte – für das Hamburger Abendblatt (aber das ist ein eigenes Kapitel).
Innovationen trieben und treiben die Redaktion immer an: Eine Schiffszeitung, die per Funk an alle Hamburger Schiffe gesendet wurde, schuf das Abendblatt bereits in den 50er-Jahren. Ebenfalls in den 50er-Jahren installierte das Hamburger Abendblatt eine Leuchtzeitung aus Zehntausenden Glühlampen hoch über dem Gänsemarkt. Das Abendblatt druckte das erste aktuell gesendete Farbfoto auf dem europäischen Kontinent und testete in den 80er-Jahren Nachrichten via BTX (Bildschirmtext). Mit einer eigenen interaktiven iPad-Ausgabe erkundete die Redaktion neue digitale Erzählformen und wurde 2019 für seine Podcast-Strategie und innovative Audioformate ausgezeichnet.
Hamburger Abendblatt startete 1996 Abendblatt Online – in einem Hinterzimmer
1996 betrat das Abendblatt als eine der ersten Regionalzeitungen das World Wide Web, und abendblatt.de war geboren! Wie sich Geschichte doch wiederholt: Das heute 75 Jahre alte Hamburger Abendblatt wurde in einem Hinterhof gegründet und belächelt. Abendblatt Online erblickte das Licht der digitalen Welt in einem Hinterzimmer (hinter den Fahrstühlen des Verlagsgebäudes) und wurde zunächst von vielen ebenfalls kaum ernst genommen.
- Fernsehturm Hamburg: Das Wahrzeichen ist wieder geöffnet – aber nur für drei Tage
- Hamburg-Wilhelmsburg: Hundeverordnung – als Kampfhunde Kind totbissen
- Rolling Stones: Skandal erschütterte Hamburg – gleich doppelt!
Doch schon die Namen der ersten damals miteinander vernetzten Personal Computer des Abendblattes deuteten an: Hier entsteht – noch klein und verborgen – etwas ganz Großes: Der damalige Server hieß „Sonne“, die Rechner, an denen die ersten Online-Redakteure des Abendblattes arbeiteten, „Jupiter“, „Venus“ oder „Mars“.
Längst ist auch abendblatt.de erwachsen geworden und aus dem Hinterzimmer in die erste Reihe umgezogen. Im Jahr 2021 feierte die Redaktion den 25. Geburtstag ihrer digitalen Seite. Rund 300.000 Menschen besuchen täglich abendblatt.de. Rund 40.000 Digital-Abonnenten hat das Abendblatt heute. Der Fokus der Redaktion ist digital.
Denn das Hamburger Abendblatt hat sicher eine interessante Geschichte – aber vor allem eine spannende Zukunft.