Kann der Untergang des Paradieses noch verhindert werden? Der südpazifische Inselstaat hat spezielle Verbindungen nach Hamburg.

"1981 habe ich meine Mutter am Flughafen umarmt. Und das war’s.“ Als Torsten das letzte Mal seine Heimatinsel sah, hieß er noch Toeaso. Deutschland war ein geteiltes Land. Und Tuvalu hatte noch Hoffnung.

37 Jahre später ist Torsten Taataa Staatsangehöriger der wiedervereinigten Bundesrepublik. Der tuvalesische Pass ist Geschichte, der ursprüngliche Vorname und die Karriere als Seefahrer sind es ebenso. Seine Mutter ist gestorben, ohne sich von ihrem Sohn und den zwei in Schleswig-Holstein groß gewordenen Enkelkindern verabschieden zu können. Und Torsten alias Toesao beschäftigt die Sorge um den Untergang.

Etwa 50 Jahre noch, so aktuelle Berechnungen anerkannter Klimaforscher, und Tuvalu könnte sein ewiges Grab in der Südsee finden. Die pazifische Inselgruppe, mit knapp 11.000 Einwohnern und 26 Quadratmetern Fläche der viertkleinste Staat der Erde und am höchsten Punkt gerade einmal fünf Meter über dem Meeresspiegel gelegen, wird dann ein erstes unwiederbringliches Opfer des Klimawandels. Wenn sich nichts Entscheidendes ändert.

Durch die Duschen fließt nur noch Regenwasser

„Die Welt muss rigide umsteuern“, sagt Enele Sopoaga. Tuvalus Premierminister wird deshalb nicht müde, bei der internationalen Staatengemeinschaft um Maßnahmen für die Begrenzung der globalen Erwärmung auf unter 1,5 Grad Celsius zu werben. Andernfalls würde der Meeresspiegel weiter unaufhaltsam ansteigen. Bereits jetzt werden in Tuvalu Häuser durch Wasser oder Stürme zerstört. Steigende Temperaturen und Säuregehalt des Meeres bleichen die Korallen aus, wodurch der für die Selbstversorgung so essentielle Fischbestand schwindet. Auf Taataas Heimatinsel Nukulaelae, einem der insgesamt neun Atolle, ist der Boden durch die Erosion nicht nur für die Nationalfrucht Kokosnuss unfruchtbar geworden. Das Meerwasser hat sämtliche Quellen versalzen, durch die Duschen fließt nur noch Regenwasser. Springflut und normale Flut können die Einwohner längst nicht mehr unterscheiden.

„Wir brauchen keine wissenschaftlichen Erklärungen. Wir erleben die Auswirkungen des Klimawandels jeden Tag“, sagt Maina Talia, der über das Pazifiknetzwerk PICAN das Problembewusstsein gerade in den großen Industrieländern schärfen möchte. Der Tuvaluer ist daher froh, dass sich auch in Hamburg etwas regt. Dort hat die Volksinitiative „Tschüss Kohle“ gerade erst mit mehr als 22.000 Unterschriften den Druck auf den Senat erhöht, bis zum Jahr 2030 sukzessive den Kohleausstieg zu vollziehen. „Mit der Unterstützung aus Hamburg steigt die Hoffnung, auf unseren eigenen Inseln wohnen bleiben zu können“, sagt Talia.

Mit dem Horrorszenario Umsiedlung möchte sich schließlich niemand auseinandersetzen müssen. „Wir wollen nicht ‘Klimaflüchtlinge’ genannt werden“, sagt Tafue Lusama. „Wir sind keine Flüchtlinge, und werden niemals welche sein. Wir werden unsere Heimat nicht verlassen.“ Der Cousin von Torsten Taataa ist Pfarrer der Christlichen Kirche in Tuvalu. Die deutsche Angst vor dem Umstieg auf Erneuerbare Energien könne er durchaus nachvollziehen, sagt er. „Ich denke aber, dass die Kosten viel höher sein werden, wenn jetzt nichts passiert und erst Jahre später gehandelt wird.“

Immer weniger Tuvalus auf Hamburger Schiffen

Torsten Taataa hat bereits 1972 Initiative ergriffen. Mit 19 Jahren kehrte er Tuvalu den Rücken, um sich in der 1500 Kilometer entfernten Inselgruppe Kiribati zum Seefahrer ausbilden zu lassen. Auf der Hauptinsel Tarawa hatte erst fünf Jahre zuvor ein Konsortium Hamburger Reedereien das Marine Training Centre (MTC) gegründet. Taataa bestand die Prüfung und fuhr am Ende als Schiffsbetriebsmeister 43 Jahre lang zur See – vorwiegend im Auftrag Hamburger Reeder.

Dabei stieß Taataa häufig auf Landsleute, die bei ihren Auftraggebern stets hoch im Kurs standen. „Sie sind erstklassige, fleißige und freundliche Seeleute“, erzählt Uwe Casper, der im Jahr 2003 als damaliger Geschäftsführer der Hamburger Reederei Ahrenkiel das bundesweite Honorarkonsulat für Tuvalu übernahm. „Wo man drei Philippinos braucht, um etwas von A nach B zu schleppen, schafft das ein Tuvaluer mal eben so. Das sind richtige Brecher“, sagt Caspers ehemaliger Kollege Marc Benkmann, der als Leiter der Schifffahrts-Agentur Marcrew aber auch um einen Trend weiß: Es werden immer weniger tuvalesische Seeleute angeheuert. 2011 waren in Hamburg 40 Tuvalus dauerhaft gemeldet, heute sind es noch 22. Nur einer von ihnen ist kein Seefahrer. Zum Vergleich: Aus Kiribati fahren konstant mehr als 400 für Hamburger Reedereien.

Wird die Seefahrerschule bereits aufgegeben?

Die Gründe für den Rückgang liegen für Uwe Casper auf der Hand. „Das größte Problem ist die Logistik“, sagt er. Mit den Seeleuten aus Tuvalu könne nicht verlässlich geplant werden, da es wöchentlich nur einen Flug mit wenigen Plätzen nach Fidschi gebe. Erst von dort können die Seemänner auf die Schiffe. Ob sie diese rechtzeitig erreichen, steht auf einem anderen Blatt. „Für die Personalplanungen in den Reedereien ist das eine Katastrophe“, sagt Casper. Mit der Regierung sei daher ausgehandelt worden, dass die Heuer inzwischen nicht mehr auch für die bis zu fünfwöchige An- und Abreise der Seeleute gezahlt werden müsse. Die unzuverlässige Verfügbarkeit der tuvalesischen Seemänner indes bestehe weiterhin. 

Als weiteres Problem nennen Reeder hinter vorgehaltener Hand das im Vergleich zur kiribatischen Seefahrerschule niedrigere Ausbildungsniveau des Maritime Training Institute (MTI) in Tuvalu. Auch die Schule auf der Hauptinsel Funafuti wurde in den 80er Jahren von einem Hamburger ins Leben gerufen. Doch nicht immer hätten die richtigen Ausbilder den Weg nach Tuvalu gefunden, dazu funktioniere die Ausrüstung nicht zuverlässig oder verrotte schnell aufgrund des Klimas. „Die ansonsten positive Gelassenheit führt eben auch dazu, dass Dinge nicht funktionieren“, sagt Casper.

Tuvalus nach Piratenfall traumatisiert

Torsten Taataa zumindest würde es nicht wundern, wenn das MTI auch vor dem Hintergrund des drohenden Untergangs bereits aufgegeben werden würde. In der Schifffahrtsbranche hat der aktive Gewerkschafter ohnehin zu viel erlebt, als dass er sich Illusionen hingeben könnte. Vokabeln wie „Banditen-Reeder“ und „Verbrecher“ haben einen festen Platz in seinem Wortschatz. Dabei denkt er auch an einen Fall, der 2009 sogar die Bundesregierung um den damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble auf den Plan rief. Somalische Piraten hatten seinerzeit vier Monate lang den Frachter „Hansa Stavanger“ der Hamburger Reederei Leonhardt & Blumberg in ihrer Gewalt gehalten, ehe die Besatzung nach zähen Verhandlungen gegen ein Lösegeld von 2,7 Millionen Euro und unter Einsatz der GSG 9 freikam. Die Hälfte der 24 Schiffsgeiseln hatte einen tuvalesischen Pass.

„Es hat viel zu lange gedauert, bis Leonhardt das Geld gezahlt hat“, sagt Taataa rückblickend. „Das war für alle Beteiligten eine ganz, ganz schwere Zeit“, erzählt Reeder Frank Leonhardt, der seinerzeit „sieben Tage in der Woche im Büro“ verbrachte, um mit den Kaperern die Freigabe der „Stavanger“ zu verhandeln. Die tuvalesischen Mitglieder hätten die Gefangenschaft seinem Eindruck nach gut verarbeitet, erinnert sich Leonhardt. Einige wären auch später wieder für seine Reederei zur See gefahren. Bei Torsten Taataa klingt dies wiederum anders. „Die sind alle kaputt“, sagt der erfahrene Seemann über seine früheren Kollegen. Scheinhinrichtungen an Bord hätten zu unüberwindbaren Traumata geführt. „Ich kenne alleine zwei, die jede Nacht schreiend hochschrecken.“ Finanzielle Zuwendungen haben die tuvalesischen Opfer nicht erfahren. „Es gab keine rückwirkende Piratenzulage“, räumt Leonhardt ein. „Aber wir haben uns natürlich bedankt.“ Die meisten hätten einfach nur zurück zu ihren Familien gewollt.

Versuche mit Mangrovenwäldern

Die familiäre Bindung unter den Tuvalus ist ebenso groß wie die Verwurzelung in der Heimat. Einerseits. Andererseits gelten die Menschen als überaus weltoffen, wozu auch die weit gereisten Seeleute beitragen. „Das sind keine Hinterwäldler“, sagt Sabine Minninger. Die Klimareferentin von „Brot für die Welt“ hat sich jüngst in Begleitung von ARD-Wetterexperte Sven Plöger ein wiederholtes Bild des am wenigsten besuchten Orts der Welt gemacht. Je vier Tage An- und Abreise, eine Woche Aufenthalt.

Sven Plöger (l.) mit Enele opoaga und Sabine Minninger
Sven Plöger (l.) mit Enele opoaga und Sabine Minninger © Brot für die Welt | Unbekannt

„Die Leute haben dort nur ein Problem: den Klimawandel“, resümiert Minninger. Um auf Tuvalu bleiben zu können, wird nichts unversucht gelassen. Doch Schutzwälle oder das Anpflanzen von den Küsten vorgelagerten Mangrovenwäldern werden die fragilen Atolle kaum retten können. „Ich sehe nicht, dass das funktioniert. Das wäre schon eine ziemlich große technische Herausforderung“, sagt Uwe Casper, der Tuvalu bislang dreimal bereist hat.

Torsten Taataa: "Wo ist das Geld?"

Dennoch wird die Umsiedlung der Bevölkerung in Tuvalu vorerst als allerletzte Option erachtet. Dabei sollte sich der Inselstaat durchaus beeilen. „Der ganze Südpazifik sucht schon nach Land“, sagt Minninger. Kiribati etwa hat sich für den Fall der Fälle bereits ein Areal der Fidschis gesichert. So weit ist Tuvalu noch nicht. Die Zukunftsfrage könnte eigentlich ruhende Konkurrenzgedanken der bis zur Unabhängigkeit im Jahr 1978 in der britischen Kolonie Gilbert and Ellice Island vereinten Inseln neu anschieben. Torsten Taataa kann sich noch zu gut an Streitigkeiten und Schlägereien unter tuvalesischen und kiribatischen Crew-Mitgliedern an Bord der großen Schiffe erinnern.

Dabei könnte auch Tuvalu durchaus noch mehr in den Inselschutz investieren. Der Verkauf der Internet-Domain .tv brachte dem Staat schließlich Millioneneinnahmen. „Und wo ist das Geld jetzt?“, fragt Torsten Taataa, der sich unter anderem über die dicken Fahrzeuge der Politiker wundert. Auch angesichts vor sich hinrottender Autowracks und Plastikmüllbergen sagt Taataa einen bemerkenswerten Satz: „Sie sind selbst nicht ohne Schuld am Klimawandel. Sie sollen erst einmal vor der eigenen Haustüre kehren, bevor sie nach Europa schreien.“

Inzwischen ist Taataa im schleswig-holsteinischen 400-Seelen-Ort Hassendorf sesshaft geworden. Ist glücklich in zweiter Ehe verheiratet, nachdem er bereits 1975 der Liebe wegen in Lübeck geblieben war. Ein anderes Zuhause kann sich der 64-Jährige nicht mehr vorstellen. „Deutschland ist meine Heimat“, sagt er.

"Wer Tuvalu rettet, rettet die ganze Welt"

Nach fast 40 Dekaden plant Torsten Taataa zum Jahresende nun eine dreimonatige Rückkehr nach Tuvalu. „Ich möchte mir anschauen, wie die Minister wohnen und die übrigen Häuser aussehen.“ Unabhängig von seinen aufgefrischten Eindrücken weiß Taataa schon jetzt, dass er nicht dauerhaft zurückkehren möchte. „Dort gelte ich als Ausländer. Und es ist für mich zu heiß.“ Die Hitze war schließlich auch der Grund, weshalb seine Mutter nach ihrem Tod 2002 umgehend beerdigt werden musste und ihm somit ein Abschied verwehrt blieb.

Jetzt will Torsten Taataa wenigstens das Land seiner Vorfahren gerettet wissen. Und auch in einem anderen Punkt für Gerechtigkeit sorgen: Für den Flughafenbau in Funafuti wurde das Land des Großvaters enteignet. Diebstahl gilt in Tuvalu als eines der Grundübel. Taataas australischer Onkel hat die Regierung deshalb bereits verklagt. Für den unbequemen Weg der Konfrontation muss sich das Duo auch aus der eigenen Verwandschaft Kritik gefallen lassen, erzählt Taataa. „Dann heißt es: Jetzt kommt ihr hierher und macht Theater.“ Vereint sind alle Tuvalus am Ende aber in einem Wunsch: Dass im Südpazifik in absehbarer Zeit nicht der letzte Vorhang fällt. „Das wäre erschütternd und traurig“, sagt Uwe Casper. Die Umkehr in der Klimapolitik sollte aber nicht nur im Interesse der Betroffenen vor Ort sein. Premier Sopoaga bringt es in einer einfachen Formel auf den Punkt: „Wer Tuvalu rettet, rettet die ganze Welt."