Hamburg. Das Geschäft mit der Mode hat sich massiv beschleunigt – da ist weder Zeit noch Geld, Models um die halbe Welt zu fliegen.
Klick. Die neue Bluse ist im Warenkorb. Klick, dazu ein Sommerkleid, Shorts für den Urlaub und klick, klick, die neue Basecap. Online-Mode-Shopping gehört mittlerweile zum Alltag der Mehrzahl der Menschen. Doch vor dem virtuellen Tastendruck, den wir Verbraucher von zu Hause aus am PC, Tablet oder Handy tätigen, steht eine Menge Arbeit – der Alltag von Menschen wie Alexej Zemlitz.
Zemlitz ist Creative Director bei Laudert Home of Media, der Firma, die Studio-Fotografie für Kampagnen, E-Commerce, Marketplaces und Social Media anbietet. Also das Gesamtpaket, was ein Unternehmen – wie beispielsweise der Moderiese Zalando oder Tchibo – braucht, um die Kleidungsstücke, die produziert vorliegen, ins Blickfeld der potenziellen Kunden zu rücken. „Produkt-Content“, heißt das in der Branche.
Modefotografie: Die Bilder der Models entstehen in einer schnörkellosen Halle
Marco Sinervo, Chef der Hamburger Modelagentur MGM, arbeitet schon seit vielen Jahren erfolgreich mit Zemlitz zusammen, wie er in der neuen Folge des Podcasts „Drama Baby!“ verrät. Denn er hat, was für die Fotos gesucht wird: Models.
Sinervo erklärt, warum er oft mit Zemlitz zu tun hat: „Früher gab es Fotografen, die haben aufwendige Mode-Shootings gemacht, die gibt es heute immer noch. Aber der ganz große Teil geht mittlerweile über sogenannte E-Com-Studios, von denen Laudert das größte in Deutschland betreibt.“
Die Location, also der Ort des Fotoshootings, ist eine schnörkellose Halle in Groß Borstel. Sinervo beschreibt im Podcast anschaulich die sogenannten Sets mit vielen unterschiedlichen Foto-Teams, an denen gleichzeitig Make-up-Artisten, Stylisten, Fotografen und Techniker arbeiten. Bis zu 80 Fotos werden hier hergestellt, Fließbandarbeit für Models und das gesamte Team. „Schwarzbrot“, werde es auch genannt. Ein Bild von vorn, eines von der Seite, von hinten, Details. Klick. Klick. Klick.
Die in Groß Borstel geschossenen Bilder werden in Asien bearbeitet
„Hintergrund des Ganzen ist, dass das heute in einer ganz anderen Geschwindigkeit vorangeht“, erklärt der Agent. „Früher war es so, da hat ein Kunde einen Fotografen beauftragt, für ihn eine Broschüre oder eine Kampagne zu machen. Das Ganze hat sich über Wochen und Monate hingezogen: Da wurde das Model gebucht, dann eine Location ausgesucht, dann der Fotograf gebucht. Das hat in aller Seelenruhe seinen Weg gefunden, und dann hat man so zehn bis zwölf Aufnahmen am Tag gemacht.“
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Heute sei es eine Frage der Geschwindigkeit. Wie flink kann das am Model fotografierte Produkt im Netz, im Onlineshop der Händler, sein? Die Kunden zu Hause sollen ja schnellstmöglich bestellen können. „Der Weg der Bildbearbeitung geht über Asien, von dort werden die fertigen Bilder wieder nach Deutschland gesendet. Alles über die digitale Datenautobahn, klar.“
Neben der rasanten Bildherstellung hat sich auch die Frage nach dem Ort verändert, denn dem Verbraucher soll nicht in jedem Fall ein weißer Hintergrund präsentiert werden – manche Kollektionen leben von der Umgebung, dem Flair. Doch für ein Shooting mit allen in die Karibik fliegen? Das war während der Corona-Pandemie nicht möglich, hohe Kosten schrecken heute zudem ab, ebenso die durchs Fliegen entstehende CO2-Bilanz.
Virtuelle Locations statt echter Exotik
Zemlitz’ Firma entwickelte deshalb jüngst ein Werkzeug, das jeden Winkel der Erde ins Studio nach Groß Borstel holt. „Im Prinzip können wir mit dem mit Virtual Studio, so heißt unser neues Programm, Location-Fotografie simulieren“, erklärt Zemlitz. „Letztlich wird der Kunde, der sich für ein Kleid oder ähnliches interessiert, nicht erkennen können, wo das Bild entstanden ist.“
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Italien, Strand, Beach-Bar, Bergdorf. Oder Arktis, Urwald, Museum. „Das Model ist im Studio, posiert vor einer weißen Wand, und der Fotograf selbst sieht durch seine Kamera, durch seinen Screen, einen virtuellen Raum und weiß genau, wo das Modell sich gerade befindet.“ Vor seiner Linse nämlich, doch gefühlt am Strand, mit wellenumspülten Füßen. „Der Riesenvorteil dabei ist, dass wir saisonal unabhängig arbeiten – wir können zu jeder Tageszeit und in jedem Monat ,Beach’ simulieren“, sagt Zemlitz. Auch aus der Sicht von Modelagent Sinervo hat dieses Prozedere Sinn, er führt den CO2-Footprint an. Zudem lobt er die „völlige Perfektion“, mit der Zemlitz und sein Team die Bildsprache gestalten.
Modefotografie: Die gezeigte Welt ist inzwischen fast schon "surreal"
Dennoch, völlig bedenkenlos mag Sinervo diesen Fortschritt nicht betrachten: „Ethisch, in mir drin, mag ich das Thema nicht so sehr. Denn ich mag das genauso wenig, wenn Leute sich permanent ihre Fotos auf Instagram retuschieren.“
Die gezeigte Welt, sie sei mittlerweile annähernd „surreal“. Beim Scrollen durch Instagram oder TikTok frage man sich mittlerweile automatisch: „Ist das eigentlich echt? Wurde das jetzt wirklich am Strand aufgenommen? Bist du das wirklich? Hast du so gute Haut? Es ist etwas, das ich schon bedenklich finde.“ Die Entwicklung jedoch könne man nicht mehr aufhalten, ist sich Sinervo sicher. Deshalb begrüßt er die Einführung der Pflicht zur Kennzeichnung von retuschierten Werbefotos von Unternehmen und Influencern, die seit dem Sommer 2022 nun auch in Deutschland gilt.