Hamburg. Kriminologe sieht filmreife Schießerei als Indiz für eine neue Generation besonders brutaler Dealer. Was hinter dem Drogenkrieg steckt.
Der Kugelhagel in Tonndorf, die eiskalte Tötung eines 27-Jährigen in einer Shishabar in Hohenfelde oder der Schusswechsel in der Fischbeker Heide – all diese Fälle der jüngeren Vergangenheit spielen im Dealermilieu. „Was wir erleben ist die Spitze des Eisbergs“, meint der Kriminologe Wolf-Reinhard Kemper, der an der Leuphana Universität in Lüneburg lehrt. Er ist sich sicher, dass es vermehrt solche Fälle geben wird. Der Grund ist eine hohe Verfügbarkeit von Waffen und eine skrupellose Stadtrand-Gettoszene.
„Es handelt sich um eine unübersehbare Flut von Menschen, die aus sozial schlechten Verhältnissen kommen, die schlecht erzogen sind und deren einziges Ziel ist, reich und große Gangster zu werden.“, sagt Kemper. „Sie schließen sich zu kleinen Gruppen zusammen, von denen es bereits viele gibt, und die immer mehr werden.“
Polizei Hamburg: Neue Dimension von Gewaltbereitschaft
Kokain und Waffen spielen dabei eine große Rolle. „Kokain, früher elitär, ist mittlerweile zur Gossendroge geworden, die aber noch den Nimbus hat, dass derjenige, der damit dealt, ein großer Drogenhändler ist“, so Kemper. „Waffen gehören für Täter dieses Typs dazu. Am Anfang geht es nur darum, eine zu haben. Jetzt trägt man sie und ist auch bereit, sie bei Streitigkeiten einzusetzen.“
Überrascht ist Kemper von der hohen Zahl von illegalen Waffen, die im Umlauf sind. Dass illegale Waffen in einem früher nicht für möglich gehaltenen Umfang gehandelt werden, weiß die Polizei seit der Auswertung der Encrochat-Protokolle, die französische Sicherheitsbehörden geknackt hatten. In vielen der Verfahren spielten Schusswaffen neben Rauschgift eine Rolle.
So flog ein Kosovare (32) auf, der mindestens zehn „Glock 26“ verkauft hatte. Dabei handelt es sich um eine besonders kompakte Pistole zum verdeckten Tragen. Bereits im März 2021 wurden mehrere Männer festgenommen, die neben Drogen auch Waffen – zwei Maschinenpistolen vom Typ „Skorpion“ – veredelt hatten. Brisant: Einer der Täter saß während der kriminellen Machenschaften im offenen Vollzug in der Haftanstalt Glasmoor. „Dazu kommt, dass es auch viele Menschen gibt, die die Kenntnisse haben, um aus Schreckschusswaffen scharfe Waffen zu machen“, so Kemper.
„Wir haben mittlerweile eine Dealerszene 4.0"
Eine große Gefahr, die von dieser Dealerszene ausgeht, sieht auch Thomas Jungfer, Landesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG). „Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass wieder vermehrt Schusswaffen in Hamburg bei Streitigkeiten innerhalb dieser kriminellen Szene eingesetzt werden“, so Jungfer. „Wir haben mittlerweile eine Dealerszene 4.0, die anders agiert als früher.
Kommunikation findet digital über verschlüsselte Wege statt. Rauschgift wird über sogenannte Drogentaxis ausgeliefert. Die Täter müssen sich nicht mehr hocharbeiten, um in dem Geschäft mitzumischen, sondern können mit einigermaßen krimineller Energie und Skrupellosigkeit gleich durchstarten.“ Das sieht Kemper ähnlich. „Was diese Szene angeht, haben wir im Hamburger Sozialgürtel einen unüberschaubaren Wildwuchs.“
Für Jungfer bedeutet die Entwicklung, dass man noch mehr auf das Knacken der Kommunikation dieser Gruppierungen angewiesen ist. „Davon sind wir aber weit entfernt“, sagt Jungfer. „Es ist ja schon entlarvend, dass wir, ob es um die Erfolge um das geknackte System Encrochat oder um Hinweise zu Terroranschlägen geht, auffallend oft in völliger Abhängigkeit von ausländischen Sicherheitsbehörden sind, die uns erst auf die Spur führen.“ Hier müsse man deutlich mehr Möglichkeiten bekommen. „Wir stehen uns da aber ständig selbst im Weg. Das Stichwort dazu ist Datenschutz, der in der bei uns angewendeten Form solche Täterstrukturen begünstigt.“
Täter müssen sich nicht mehr hocharbeiten, um in dem Geschäft mitzumischen
Im Fall Tonndorf, wo in der Nacht zum Dienstag auf einen 26 Jahre alten Türken geschossen wurde, der am Steuer eines SUV saß, hat sich mittlerweile die Dienststelle gegen Organisierte Kriminalität eingeschaltet. Der Mann hatte, obwohl er zehn Schussverletzungen erlitten haben soll, überlebt. Sein Beifahrer, ein 30 Jahre alter Afghane, wurde leicht verletzt und soll noch versucht haben, zwei Sporttaschen, in denen scharfe Waffen waren, vom Tatort wegzubekommen. Beide Männer sind im Zusammenhang mit Drogendelikten, der 26-Jährige auch mit Gewaltdelikten aufgefallen.
Am Mittwochmorgen verhafteten Polizisten die als Dealer gesuchten Imre K. (20) und Demut C. (22). Bei Durchsuchungen in Lurup, Eidelstedt und Stellingen wurden 30.000 Euro Bargeld, Haschisch und Kokain sowie eine scharfe Schusswaffe sichergestellt. Außerdem wurden zwei Autos sichergestellt. Mit den Schüssen in Tonndorf sollen sie aber nichts zu tun gehabt haben.