Hamburg. Die Liste der Ordnungsrufe zeigt einige Überraschungen. Nun wird eine Änderung der Regeln diskutiert – vor allem wegen einer Partei.
Nein, es ist nicht die AfD. Die Rangliste der meisten Ordnungsrufe in der seit Frühjahr 2020 laufenden aktuellen Wahlperiode in der Hamburger Bürgerschaft führt derzeit die SPD an – jedenfalls für die Zeit bis Mitte Januar 2023, für die bereits die Protokolle der Debatten vorliegen. Sechs Mal kassierten ihre Abgeordneten in den knapp drei Jahren sei der Bürgerschaftswahl im Februar 2020 wegen ungebührlichen Verhaltens oder „Verstößen gegen den parlamentarischen Sprachgebrauch“ Ordnungsrufe vom Bürgerschaftspräsidium. Es folgen Grüne, CDU und AfD mit jeweils drei Ordnungsrufen und die Linke mit nur einem. Das ergibt sich aus einer Liste der Bürgerschaftskanzlei und den Protokollen.
Nicht immer geht aus diesen hervor, welche Ausdrücke oder Verhaltensweisen gerügt wurden. Dort, wo dies erkennbar ist, kann allerdings nicht durchweg von zutiefst ehrabschneidenden Beleidigungen die Rede sein – zumindest nicht, wenn man zum Vergleich an Debatten aus älteren Zeiten zurückdenkt, in denen Politiker vom Schlage eines Herbert Wehner oder Franz-Josef Strauß sich im Bundestag keilten. So erhielt etwa der CDU-Fraktionschef Dennis Thering einen Ordnungsruf, als er in einer Debatte über die Staatsverträge mit den Islamverbänden „Schwachsinn“ aus dem Publikum dazwischen rief. CDU-Umweltpolitiker Sandro Kappe wurde vom Präsidium getadelt, weil er dem Senat in einer Debatte zum Baumbestand unterstellte er habe „gelogen“.
Ordnungsrufe: AfD-Mann vergleicht Bürgerschaft mit „sozialistischer Volkskammer“
Der AfD-Abgeordnete Thomas Reich wurde gerügt, als er sich in einer Rede darüber empörte, dass die Bürgerschaft keinen AfD-Kandidaten bei der Besetzung des Beirats für politische Bildung berücksichtigt habe. Dabei verglich Reich die Bürgerschaft indirekt mit einer „sozialistischen Volkskammer“. Die SPD-Abgeordneten Simon Kuchinke und Sarah Timmann erhielten Ordnungsrufe, weil sie entgegen den Regeln im Plenum Fotos machten. AfD-Fraktionschef Dirk Nockemann wurde gerügt, als er über SPD-Fraktionschef Dirk Kienscherf in einer Debatte über Silvester und Coronabestimmungen sagte: „Ich frage mich, was Sie vorhin geraucht haben.“
Es gab aber auch Ordnungsrufe wegen ganz anderer Aussagen. Der SPD-Parlamentarier Kazim Abaci etwa kassierte einen, als er der AfD in einer Debatte über die Bekämpfung des Antiziganismus (Feindseligkeit gegenüber Sinti und Roma) vorwarf, „dass sie die Verfolgung und Vernichtung von Sinti und Roma relativieren, verharmlosen und damit auch den Holocaust verharmlosen“. Grünen-Politiker Johannes Müller wurde gerügt, als er den CDU-Energiepolitiker Stephan Gamm in einer Klimaschutzdebatte fragte, ob er „endgültig ins Lager der Wissenschaftsleugnerinnen und Wissenschaftsleugner überlaufen möchte“.
CDU-Fraktionschef nennt AfD rassistisch - und kassiert dafür Ordnungsruf
In der vergangenen Wahlperiode (2015-20) hatten noch die AfD und ihr aus der Fraktion ausgeschlossener Ex-Mitstreiter Ludwig Flocken noch die mit großem Abstand meisten Ordnungsrufe kassiert. Allein Flocken bekam in den fünf Jahren um die 25 Ordnungsrufe, AfD-Abgeordnete insgesamt zehn. Es folgten Linke (fünf), SPD und CDU (je drei) und die Grünen (zwei Ordnungsrufe).
- Rauswurf: Das sagte AfD-Mann Flocken bei seiner Rede
- „Ekelhafter Rassismus“: Hamburger Grüne tadelt AfD-Fraktionschef
- Sitzungsunterbrechung nach Rassismus-Zwischenruf
Wer sich die Ordnungsrufe seit 2020 ansieht, stellt allerdings fest, dass hier weniger solcher Rügen an die AfD gehen, dafür viele an Abgeordnete, die sich über Äußerungen von AfD-Parlamentariern empören. So kassierte Grünen-Landeschefin Maryam Blumenthal im Januar 2023 einen Ordnungsruf, als sie bei einer Rede von AfD-Fraktionschef Nockemann erst „Das ist so ein Rassist“ und dann „ekelhafter Rassismus“ rief. Nockemann hatte über Silvesterausschreitungen gesprochen und gesagt, die Täter hätten ausweislich von Fotos und Filmaufnahmen „ganz überwiegend Migrationshintergrund“ gehabt – ohne zu erläutern, wie er das anhand von Äußerlichkeiten erkannt haben will.
In einer Debatte zu 90 Jahren Machtergreifung der Nationalsozialisten in Hamburg gab es am 1. März dieses Jahres einen Ordnungsruf für CDU-Fraktionschef Dennis Thering, weil dieser die AfD als „eine offen rassistische“ und zum Teil antisemitische Partei bezeichnet hatte.
AfD-Kritiker häufig gerügt: Grüne wollen die Regeln für Ordnungsrufe ändern
Angesichts der jüngsten Entwicklung möchten nun vor allem die Grünen klären, wann die Erteilung von Ordnungsrufen eigentlich berechtigt ist. Es könne nicht sein, dass rassistische Inhalte in Debattenbeiträgen nicht als solche benannt werden dürften, sagte Fraktionschefin Jenny Jasberg. Begriffe wie rassistisch oder Rassismus seien per se kein Verstoß gegen den parlamentarischen Sprachgebrauch. „Das Präsidium scheint die Benutzung allerdings pauschal zu unterbinden. Und das kritisieren wir.“
Jasberg sieht auch in Therings Äußerung über die AfD kein Problem, da sie sich nicht gegen eine Person, sondern gegen die Politik einer Partei gerichtet habe, die auch vom Bundesamt für Verfassungsschutz 2021 als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft wurde - eine Ansicht, die später in erster Instanz auch das Verwaltungsgericht Köln bestätigte. Die AfD setzt sich dagegen weiter juristisch zur Wehr. Und auch in der Bürgerschaft wird nach entsprechenden Vorwürfen regelmäßig die Einberufung des Ältestenrates verlangt.
Ist schon das Wort „rassistisch“ eine Beleidigung?
„Als grüne Fraktion sehen wir in dem Verhalten der AfD den Versuch einer Diskursverschiebung“, sagte Jasberg. Wenn Inhalte der AfD als rassistisch bezeichnet würden, „haben wir eine AfD, die Zeter und Mordio schreit“. Das sei „schräg, weil die Partei zugleich so tut, als sei sie die einzige, die für die freie Meinungsäußerung eintritt“. Es seien aber Abgeordnete der AfD, die durch „gruppenbezogene feindliche Äußerungen“ auffielen - sei es gegen Geflüchtete oder Transpersonen.
Die Haltung des Bürgerschaftspräsidiums, „dass das Wort rassistisch als politische Bewertung im parlamentarischen Sprachgebrauch nichts zu suchen hat, scheint es schon viele Jahre zu geben“, sagte Jasberg. „Dass man das dann nicht äußern dürfen soll, aufgrund eines historisch gewachsenen Umgangs mit diesem Begriff, ist für mich kein hinreichendes Argument.“ Ihre Fraktion wolle den Umgang mit dem, was in der Bürgerschaft sagbar ist, deshalb im Ältestenrat thematisieren. Dazu solle auf juristischer Ebene zunächst intern herausgearbeitet werden, „inwiefern Meinungsäußerungen von Abgeordneten durch das Hausrecht des Präsidiums eingeschränkt werden können“, sagte sie. „Die Erfahrung zeigt ja, dass es in anderen Parlamenten anders gehandhabt wird als in Hamburg.“
Twitter: SPD-Bürgerschaftspräsidentin kritisiert Diskussionen in sozialen Netzwerken
Für SPD-Bürgerschaftspräsidentin Veit ist politischer Streit Teil des demokratischen Prozesses. „Dabei darf die eigene Position argumentativ zugespitzt werden, schließlich wollen und sollen Abgeordnete ihr Stimmverhalten ja erklären“, sagte sie. Werturteile müssten aber aus dem Kontext hergeleitet und fair vorgetragen werden. „Personengruppen pauschal zu diskriminieren oder herabzuwürdigen, geht gar nicht und führt im Zweifel auch zu Konsequenzen wie einem Ordnungsruf oder einer Rüge.“ Über den Umgang mit dem Sprachgebrauch mit allen Fraktionen im Ältestenrat zu diskutieren, sei notwendig, sagte Veit. „Was uns nicht weiterbringt, sind Verlagerungen der Debatte darüber in die sozialen Netzwerke.“
CDU-Fraktionschef Thering hält es für das Parlament grundsätzlich für begrüßenswert, „wenn es regelmäßig die eigenen Ansprüche und den eigenen Rahmen des Sagbaren überprüft“. Für die CDU-Fraktion gelte: „Hart in der Sache, fair im Ton. Durch diesen Grundsatz funktioniert eine demokratische Auseinandersetzung im Parlament und dieser sollte auch in Zukunft weiterhin gelten.“
FDP-Abgeordnete fordert „sparsamen Umgang mit Ordnungsrufen“
Die FDP-Abgeordnete Anna von Treuenfels-Frowein erinnerte daran, dass die Bürgerschaft den Antirassismus gerade „mit gutem Grund als Verfassungsziel“ beschlossen habe. „Dann sollte man in der Bürgerschaft rassistische Haltungen auch als solche benennen dürfen. Mein Eindruck ist, dass ein sparsamer Umgang mit Ordnungsrufen an der richtigen Stelle engagierten Debatten im Parlament gut tut.“