Hamburg. Wütend zu sein, sei normal, sagt Prof. Michael Schulte-Markwort. Aber wiederkehrende Aggressionsausbrüche müssten behandelt werden.
Wenn das eigene Kind schlägt, beißt oder alles umwirft, sind Eltern manchmal ziemlich ratlos. „Dass ein Kind sich ärgert, ist völlig in Ordnung, aber geschlagen wird nicht“, sagt der bekannte Hamburger Kinder- und Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort in einer neuen Folge des Abendblatt-Podcasts „Morgens Zirkus, abends Theater“ rund um Familien und Erziehung.
„Ärger und Frustrationen gehören zum Leben dazu, aber heftige Wut ist noch einmal eine deutliche Steigerung“, so Schulte Markwort. „Kinder müssen lernen, mit Frustrationen und Zurückweisungen umzugehen, wenn es mal keine Schokolade gibt oder das, was sie sich wünschen, nicht gekauft wird. Da dürfen Kinder kurz enttäuscht sein oder sagen: Das finde ich aber jetzt blöd. Wenn sich das aber deutlich steigert und sie sehr schlecht mit Kränkungen umgehen können, also übermäßig empfindlich reagieren, häufiger und vielleicht schon von klein an mit Wutanfällen reagieren, dann muss die Ursache diagnostiziert werden“, rät der Fachmann.
Wutanfällen meist nicht durch Erziehung bedingt
Da kämen verschiedene Diagnosen in Frage, von denen drei die häufigsten sind: „Das eine ist die Verwahrlosung eines Kindes, das dadurch früh bindungsunsicher wird, vielleicht weil es geschlagen wird oder ständig inkonsistente Erziehungsmethoden erlebt“, so der Kinder- und Jugendpsychiater, der lange am UKE gewirkt hat und seit Anfang des Jahres wissenschaftlicher Leiter und ärztlicher Direktor der Marzipanfabrik ist, einer privaten Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bahrenfeld.
Die zweite Möglichkeit sei ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, kurz ADS, das manchmal mit Hyperaktivität einhergeht; die Impulskontrollstörung ist hier eine Symptom. Eine dritte mögliche Diagnose, die es noch nicht offiziell gibt in Deutschland, beschäftigt die Kinderpsychiater nach Worten des Experten sehr. Das ist eine sogenannte affektive Dysregulation, die aus dem englischsprachigen Raum bekannt ist, wo sie Disruptive Dysregulation Disorder heißt.
Lieber früher als später zum Kinderpsychiater
„Wir sehen manchmal früh Dysregulation, etwa bei Schreibabys. Das kann sich komplett auswachsen, diese Störung kann aber auch übergehen in eine kindliche Persönlichkeit, die für das Nein der Welt nicht geschaffen ist. Das sind Kinder, die ausflippen, wenn man ihnen sagt, sie sollen ihre Strümpfe anziehen. Diese Kinder kommen, soweit wir wissen, so auf die Welt. Wir erleben verzweifelte Eltern, die sehr liebevoll und bindungssicher mit ihren Kindern sind und es keineswegs haben verwahrlosen lassen“, so Schulte-Markwort. Alle drei Phänomene gehörten – unterschiedlich – behandelt.
Aber wo ist die Grenze erreicht, ab der sich Mütter und Väter Hilfe holen sollten? Schulte-Markwort appelliert an das Expertentum der Eltern: „Immer dann, wenn sie das Gefühl haben, das ist nicht mehr normal, dann möchte ich gern, dass sie kommen – lieber früher als später.“ Lieber schickt der Kinderpsychiater sie wieder weg, weil das Verhalten des Jungen oder des Mädchens nicht behandelt werden muss.
Kinder oft selbst hilflos
In der Praxis hat er viel zu tun mit Fällen, in denen die Eltern mit ihrem Kind sehr spät kommen, vielleicht sogar, wenn die Kinder schon 15 oder 16 Jahre alt sind. Die Betroffenen stünden ihrem eigenen Verhalten oftmals selbst hilflos gegenüber, sie seien nicht gezielt aggressiv oder zerstörerisch. Ein achtjähriges Mädchen hat Schulte-Markwort einmal geschildert: „Ich bin dann so wütend, ich will das eigentlich gar nicht. Mir tut das hinterher immer so leid, aber ich kann das nicht steuern.“
Was also tun? „Das Wichtigste ist, die Eltern zu entlasten und sie darüber aufzuklären, dass das kein Erziehungsfehler ist.“ Man müsse dann gemeinsam einen Rahmen finden für das, was da in dem Kind passiert, damit es nicht das Gefühl hat, es sei schlecht. Ein Junge erzählte ihm: „Das ist ein Gewitter in meinem Kopf, wenn das kommt, kann ich nicht anders.“ Dann wird dies in der Therapie Gewitter genannt.
Sport und Bewegung als Bewältigung
Sport und Bewegung können helfen. Wichtig sei es insbesondere, die Kinder nicht zu bestrafen oder zu beschimpfen, sondern sie zu trösten. Die Eltern sollten zudem versuchen zu erspüren, wann das nächste Gewitter losbrechen könnte und die Faktoren zu ergründen, die es auslösen – um diese Situationen dann zu meiden.
„Wenn die Krankheitssymptome sehr stark ausgeprägt sind, dann helfen unter Umständen nur Medikamente, die die Kinder nicht müde machen, aber dafür sorgen, dass sie weniger aggressiv sind. Das ist auch für Eltern eine sehr schwierige Entscheidung, aber diese Familien sind oftmals so verzweifelt, dass sie es gern aufgreifen und erleichtert sind, wenn es funktioniert.“
Erziehung: Bei regelmäßigem Prügeln aufmerksam sein
Haut ein Kind einmal im Affekt, kann das passieren. Aber bei Kindern, die sich regelmäßig prügeln, häufig etwas zerstören oder immer nur herumschreien, müssten die Ursachen unbedingt abgeklärt werden. Schulte-Markwort hat den Eindruck, dass da an Schulen zu viel geduldet werde.
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Zeigen Kinder plötzlich ein deutliches Mehr an Aggressivität, könne dies ein Alarmzeichen sein, dass im Umfeld etwas nicht stimmt, vielleicht in der Beziehung der Eltern oder in der Klassengemeinschaft. „Da muss man sehr aufmerksam sein.“