Hamburg. Die Zahl der Untersuchungen ging im ersten Pandemiejahr 2020 um bis zu 20 Prozent zurück. Ärzte: „Für die Patienten ein großes Risiko.“
Sie sind Opfer der Corona-Pandemie – aber nur, wenn man genau hinschaut. Menschen, die aus Angst vor einer Infektion nicht zur Krebsvorsorge gehen, setzen sich einem erhöhten Risiko aus. Wer bei Terminen zur Früherkennung von Brustkrebs oder bei der Darmspiegelung schludert, dem kann möglicherweise nicht mehr geholfen werden. Das zeigt der neue Onkologiereport der AOK Rheinland/Hamburg, der dem Abendblatt vorliegt.
Der Vizevorstandsvorsitzende Rolf Buchwitz sagte: „Viele Versicherte verkennen den Wert der Früherkennung. Sie glauben: Ich bin doch gesund. Von den Ärzten würde ich mir wünschen, dass sie immer auf die Möglichkeiten der Vorsorge hinweisen.“
Onkologiereport: Angst vor Corona-Infektion führt zu weniger Krebsvorsorgen
Im ersten Pandemiejahr 2020 ist nach AOK-Zahlen die Inanspruchnahme von Screening-Untersuchungen auf Krebs um bis zu 20 Prozent zurückgegangen. Verglichen wurde hier mit dem Durchschnitt der Jahre 2017 bis 2019. Analog sank auch die Zahl der Arztkontakte der Patienten überhaupt. Buchwitz sagte: „Wir gehen davon aus, dass mehr Krebserkrankungen unerkannt bleiben. Das ist für die Patienten ein großes Risiko.“ Und ein nicht erkannter Tumor verschärft die Bedrohung für einen Patienten, sollte er sich mit dem Coronavirus infizieren. Mit Blick auf die moderne Medizin und das Sterberisiko sagte Buchwitz: „Heute sind viele Krebsfälle heilbar, aber die Erkrankung muss frühzeitig erkannt und therapiert werden.“
Die Darmspiegelung ist eines der besten Beispiele. Hierbei schaut ein geübter Facharzt mit einem Koloskop in den Darm nach Polypen und möglichen Tumoren. Schon während dieser Untersuchung lassen sich eventuell entdeckte Polypen entfernen. Sie können sich im Laufe der Jahre unbemerkt zu einem Karzinom auswachsen. Für Frauen ab 55 Jahren und für Männer ab 50 ist die Darmspiegelung dringend empfohlen und Teil der Kassenleistungen.
In Hamburg gibt es darauf spezialisierte ambulante Zentren wie das am Glockengießerwall gegenüber dem Hauptbahnhof, das Dr. Bodo Eckmann leitet, oder das Gastroenterologikum an der Mundsburg. Obwohl gerade bei der Darmspiegelung die höchstmöglichen Hygienestandards gelten, ist nach Zahlen der AOK Rheinland/Hamburg diese Vorsorge im zweiten Quartal 2020 um 19 Prozent gegenüber den Vorjahren eingebrochen. Folglich ging die Zahl der neu erkannten Darmkrebsfälle im gesamten Jahr um 16 Prozent zurück – ein klares Zeichen für viele unentdeckte Tumoren.
Vorsorgezahlen bei Mammografie und Hautkrebs-Screening eingebrochen
Nur 14 Prozent der Anspruchsberechtigten nehmen nach diesen Daten eine Darmspiegelung in Anspruch. Für die Aufklärungskampagnen, die unter anderem die Felix-Burda-Stiftung betreibt, ist das ernüchternd. Auch die AOK startet Werbemaßnahmen für die Vorsorge mit dem Slogan: „Deutschland, wir müssen über Gesundheit reden.“
Noch krasser war der coronabedingte Einbruch in den Vorsorgezahlen bei der Mammografie und beim Hautkrebs-Screening in den ersten beiden Quartalen 2020. Auch das spiegelt sich im Rückgang der erkannten Krebserkrankungen 2020 überhaupt. Es wurde deutlich weniger Brustkrebs bei Frauen, Prostatakrebs bei Männern sowie Hautkrebs insgesamt festgestellt, auch hier ein Einbruch bis zu 20 Prozent.
Schwierige Lebensumstände führen zu früherer Erkrankung
Und das ist statistisch auffällig. Denn der Krebs verschwindet schließlich nicht einfach. Frauen (35 Prozent Teilnahmequote an Früherkennung) sind offenbar noch immer vorsorgebewusster als Männer (21). Nur etwa jeder Dritte geht zum Test auf Hautkrebs. Dabei hat die Zahl der Fälle in den vergangenen Jahren zugenommen. Auch gibt es deutlich mehr Frauen mit Lungenkrebs.
In einer speziellen Auswertung hat die AOK Rheinland/Hamburg den Zusammenhang von Krebs, Vorsorge und sozialer Lage der Versicherten erhoben. Menschen in ärmeren Stadtteilen erkranken im Schnitt sieben Jahre früher an Krebs als Wohlhabendere. Unterschiede bei der Art des Krebses lassen sich offenbar nicht feststellen. AOK-Vizevorstandschef Buchwitz sagte: „Es fällt auf, dass bei den Erkrankten mit niedrigem sozioökonomischen Status Gesundheitskompetenz fehlt. Diese Betroffenen sind bei schwierigen Lebensumständen häufiger Raucher, treiben weniger Sport und haben ein ungünstiges Ernährungsverhalten. All das trägt zu einem früheren Erkrankungsalter bei.“
Gesundheitskiosk in Koalitionsvertrag aufgenommen
In Hamburg setzt die AOK auf den Gesundheitskiosk Billstedt, der auch von weiteren Kassen gefördert wird. Wie berichtet, wird dort in einem sozial schwächeren Umfeld den Bürgern ein mehrsprachiges Beratungs- und Vermittlungsangebot für medizinische und pflegerische Versorgung gemacht. Dort hatte es zuletzt auch mehrere offene Impfaktionen gegen das Coronavirus gegeben. Das Hamburg Center for Health Economics der Uni hatte in einer Studie herausgefunden, dass die Einrichtung imstande ist, die Patienten zielgruppengerecht aufzuklären, und die Ärzte entlastet. Das trage dazu bei, dass die Behandlungskosten nicht weiter steigen, weil das Wissen um eine „richtige“ Versorgung medizinischer Probleme wachse.
In Billstedt und Horn liegt das Einkommensniveau 40 Prozent unter dem Hamburger Mittel. Der Gesundheitskiosk konnte in der vergangenen Woche einen weiteren Erfolg feiern. Der Begriff und das Konzept wurden in den Koalitionsvertrag der neuen rot-gelb-grünen Bundesregierung übernommen.