Hamburg. Kleine, laute Gruppen diktieren den Diskurs und die Mehrheit staunt – und schweigt. Der woken Welle könnte ein böses Erwachen folgen.

Vor einigen Tagen hätte Sahra Wagenknecht sich einmal mehr bestätigt fühlen können. Die scharfe Kritikerin einer „Lifestyle-Linken“ hätte ein schönes Beispiel in der Hansestadt gefunden: Dort standen am bislang heißesten Tag des Jahres viele Kinder vor verschlossenen Schwimmbadtüren.

Hintergrund dieser Öffnungspolitik war die politische Vorgabe, binnen weniger Monate in den Bädern den Schwimmunterricht nachzuholen, der während Corona abgesagt werden musste – die Idee dahinter wird keiner kritisieren. Als Ergebnis aber fehlen nun Mitarbeiter, und manche Freibäder bleiben trotz Hitze geschlossen. Die Politik hätte diskutieren können, wie man das schleunigst ändert. Schließlich sind Freibäder für viele Auszeiten aus dem Alltag, Sommerfrische für ein Euro aufwärts.

Soziale Ungerechtigkeit: SPD für „Oben ohne für alle“

Darüber sprach aber kaum jemand. Stattdessen hat die Politik ein brennenderes Thema in den Bädern entdeckt: Die SPD in Eimsbüttel möchte künftig auch Frauen und nicht binären Menschen das Baden ohne Oberbekleidung erlauben. Im Klartext: oben ohne für alle. „Dass im Jahr 2022 solche Unterschiede zwischen den Geschlechtern gemacht werden, ist nicht mehr zeitgemäß“, erklärt Paulina Reineke-Rügge, wirtschaftspolitische Sprecherin (sic!) der SPD-Fraktion Eimsbüttel. „Für uns ist klar, dass diskriminierende Kleidervorschriften in Eimsbüttel keinen Platz haben.“

Der Vorstoß, der noch vor einem Jahrzehnt als gelungener Aprilscherz gefeiert worden wäre, löste die erwarteten Reaktionen aus. Viele Medien griffen die zeitgemäße Forderung begierig auf; viele Badegäste und Experten hingegen schüttelten den Kopf – auch weil der Bezirk Eimsbüttel gar nicht für Schwimmbäder zuständig ist.

Probleme werden einfach verschwiegen

Es passt ins Bild der Debatten dieser Tage: Politik machen manche lieber für ihre Blase als für alle Bürger. Große Schlagzeilen erntete die Bahn dieser Tage nicht etwa wegen ihres skandalös schlechten Service, ihrer ewigen Verspätungen oder permanenter Überlastung, sondern weil ein Kunde den Konzern verklagt hatte – er konnte sich als Diverser auf der Website nur als Mann oder Frau ansprechen lassen und bekam für diese himmelschreiende Ungerechtigkeit ein Schmerzensgeld von 1000 Euro zugesprochen. Glücklich das Land, das solche Probleme hat.

Leider haben wir ziemliche Probleme, die wir aber lieber beschweigen. Etwa die wachsende soziale und emotionale Spaltung der Gesellschaft. Mit der Preisexplosion bei Gas, Benzin und Nahrungsmitteln stellt sich in Deutschland erstmals seit Jahrzehnten eine brisante soziale Frage. Aber die wohlsituierten akademischen Milieus sprechen lieber über Gendersterne und Transphobie. Nicht einmal die Linke nimmt den Skandal richtig in den Blick, sondern befasst sich mit dem Thema, das sie am besten beherrscht – sich selbst.

Diskriminierungen oft nur Missverständnisse

Politik ist zu oft nicht mehr nah am Menschen, sondern nah am woken Diskurs. Er kümmert sich um Ungerechtigkeiten, die vielen gar nicht auffallen, um Diskriminierungen, die oft nur Missverständnisse sind, um Probleme, die kaum existieren. Und doch mäht das Woke wie ein Panzer durch die politische Landschaft. Der englische Begriff „Woke“ (wach, aufgeweckt) steht für das richtige politische Bewusstsein und eine sensible Aufmerksamkeit gegenüber sozialer Ungerechtigkeit, Rassismus oder Diskriminierung – oder eben das, was man dafür hält.

Die Ziele klingen vernünftig und sind sicherlich gut gemeint. Ihre rabiate Betonung aber erreicht oftmals das Gegenteil. Sie blendet die enormen Fortschritte aus, welche die Gesellschaft erreicht hat und fahndet nach Mikro-Ungerechtigkeiten. Das große Ganze gerät aus dem Blick: Das Engagement konzentriert sich auf das Zwitschern von Statements, der Vergabe von Haltungsnoten und dem Schurigeln des politischen Gegners.

„Wer nicht für uns ist, ist ein Rechter"

Mit der fast religiösen Empörung und einer moralischen Überlegenheit wird der Andersdenkende zum Klimasünder, zum Corona-Leugner, zum Feind. „Wer nicht für uns ist, ist ein Rechter, ein Klimaleugner, ein Aluhut ... So einfach ist die linksliberale Welt.“ Das schreibt Sahra Wagenknecht in ihrem lesenswerten Buch „Die Selbstgerechten“. Jede Debatte scheitert von vorneherein, wenn sie zur Belehrung, ja Bekehrung wird. „Woke sein“ ist keine Meinung mehr, sondern eine Tugend, die ihre Träger zu besseren Menschen macht.

Wer sich aber im Besitz der uneingeschränkten Wahrheit wähnt, für den ist jeder Meinungsaustausch überflüssig – die Gedanken des anderen sind kein bedenkenswerter Beitrag mehr, sondern ein Affront. So werden aus Gegnern Feinde. Vor zwei Jahren haben 153 Intellektuelle – darunter Daniel Kehlmann, Salman Rushdie und Joanne K. Rowling -- vor einer „Verelendung der liberalen Debattenkultur“ und einer „Kultur der Angst“ gewarnt: „Der freie Austausch von Informationen und Ideen ... wird von Tag zu Tag mehr eingeengt. Während wir dies von den radikalen Rechten nicht anders erwarten, breitet sich auch in unserer Kultur zunehmend eine Atmosphäre von Zensur aus.“

Ampel-Koalition schafft neue Jobs für Aktivisten

Das war vor zwei Jahren. Seitdem ist es schlimmer geworden. Ständig werden neue Felder bestellt. Woke sein ist bald ein Vollzeitjob – da trifft es sich gut, dass die Ampel-Koalition immer neue Jobs für Aktivisten schafft. Die Grünen sehen in der Umsetzung der Identitätspolitik eine Kompensation für bittere realpolitische Kompromisse in der Wirtschaftspolitik. Die „NZZ“ spricht beim grünen Familienministerium in Anlehnung an das Orwellsche „Ministerium der Wahrheit“ von einem „Ministerium der Wokeness“.

Der grüne Staatssekretär Sven Lehmann ist zugleich Queer-Beauftragter der Regierung. Die Rechte lange diskriminierter sexueller Minderheiten in den Blick zu nehmen ist richtig und wichtig. Lehmanns Umgang mit Kritikern aber ist eine Zumutung und getragen von einer Mischung aus Sendungsbewusstsein und Intoleranz. Einen umstrittenen Gastbeitrag von Wissenschaftlern in der „Welt“ gegen die „Sexualisierung und Umerziehung von Kindern“ kanzelte er als „Hetz-Beitrag gegen queere Aufklärung“ ab. Das ist bestenfalls dreist, schlimmstenfalls ein Angriff auf die Pressefreiheit.

Vortrag von Marie-Luise Vollbrecht abgesagt

Es dauerte nicht lange, da warf sich der große Verlag Axel Springer in den Staub. Vorstandschef Mathias Döpfner kanzelte persönlich den Gastbeitrag als „unterirdisch“, „oberflächlich, herablassend und ressentimentgeladen“ ab. Statt zu diskutieren, ob es vielleicht eine „ideologische Betrachtungsweise zum Thema Transse­xualität im öffentlich-rechtlichen Fernsehen“ gibt, wurde ein neues Tabu in die Welt gesetzt: Darüber sollte man fortan nicht mehr reden!

Erst am Wochenende sagte die Berliner Humboldt-Universität den Vortrag der Biologin Marie-Luise Vollbrecht aus Angst vor Protesten ab. Die Mitautorin des „Welt“-Artikels wollte zum Thema „Geschlecht ist nicht (Ge)schlecht, Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt“ referieren. Ein „Arbeitskreis kritischer Jurist*innen“ hatte dagegen mobil gemacht. Ein großer Erfolg für die woke Bewegung, eine große Niederlage für die offene Gesellschaft.

Ataman löschte ihre ganze Twitterhistorie

Es ist nicht die letzte Niederlage. Ziemlich aufgeweckt ist auch Aktivistin Ferda Ataman, die die Grünen zur unabhängigen Antidiskriminierungsbeauftragten gemacht haben. Kurzerhand hat sie nun ihre ganze Twitterhistorie mit rund 10.000 Beiträgen gelöscht – wohl wissend, dass da manches nicht ganz so toll zu ihrer neuen Stelle passt. Sie hatte in einer Kolumne Deutsche ohne Migrationshintergrund als „Kartoffeln“ verulkt – in einer Zeit, in der kein Mensch mit Anstand und Verstand auf die Idee käme, Italiener „Spaghetti“ zu nennen.

Ferda Ataman wurde am  Donnerstag zur Antidiskriminierungsbeauftragten gewählt.
Ferda Ataman wurde am Donnerstag zur Antidiskriminierungsbeauftragten gewählt. © FUNKE Foto Services | Carsten Klein

Als Vorsitzende der „Neuen deutsche Medienmacher*innen“ hatte sie Spiegel TV für die Recherchen zu Clan-Kriminalität an den Pranger gestellt – mit der „Goldenen Kartoffel“, dem „Preis für besonders unterirdische Berichterstattung“. Auch das ist bestenfalls dreist, schlimmstenfalls ein Angriff auf die Pressefreiheit. Die Botschaft ist klar – zu diesem Thema verbitten sich die „Neuen Deutschen Medienmacher*innen“ jede Recherche. Schöne neue Medienwelt.

Verbesserungen führen zu einer Radikalisierung

Es ist eine Weltsicht, die populärer wird: Sie blendet alles aus, was dem eigenen Denken widerspricht, und fokussiert darauf, was es zu beklagen gibt – sei es Diskriminierung, Rassismus, Transfeindlichkeit oder was auch immer. Um nicht missverstanden zu werden: Es ist gut, sensibler zu werden. Es ist noch nicht lange her, dass Homophobie, Ausländerfeindlichkeit und Rassismus zum bundesdeutschen Alltag gehörten.

Es gibt sie noch immer. Doch die Verbesserungen werden nicht wahrgenommen, sondern führen zu einer Radikalisierung: Ein Stück ist nicht genug, es soll der ganze Kuchen sein. Das Ende der Diskriminierung reicht ebenso wenig wie eine Gleichberechtigung, nun soll eine Privilegierung her. So fordert man allüberall Quoten, etwa Migrantenquoten in Verwaltung oder Redaktionen. Das alte linksliberale Programm von Chancengleichheit und rechtlicher Gleichheit ist passé. Ungleichheit wird das erklärte Ziel.

Mathematik als Mittel der Unterdrückung

Die Träume eines Martin Luther King („Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird“) gelten als vorges­trig, die Ideale der Aufklärung werden entsorgt. Manchen halten schon Schach für problematisch, weil die weißen Figuren den ersten Zug machen. Mathematik gilt als Mittel der Unterdrückung, weil sie Weiße erfunden haben.

Das klingt zunächst drollig, führt aber Schritt für Schritt in eine voraufklärerische, totalitäre Gesellschaft. Wie weit dieser Weg vorangeschritten ist, beschreibt der schwarze Sprachwissenschaftler John McWhorter in seinem erschütternden Buch „Die Erwählten – wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet“. Er vergleicht die woken Kämpfer mit Erwählten, die wie religiöse Fundamentalisten agieren: „Aberglaube, Klerus, Sünden, Missionierungsdrang, der Ekel vor dem Unreinen – es ist alles da ... Das war es für Tomás de Torquemada auch, als er lustvoll die spanische Inquisition anführte.“

Gruppen inszenieren sich als Opfer

Der Kampf der Woken ist auch deshalb so erfolgreich, weil die lauten Gruppen sich stets als Opfer inszenieren. Natürlich ist es richtig, Opfer in den Blick zu nehmen. Aber was ist, wenn das Opfersein am Ende nur ein Konstrukt und bloßes Argument im Meinungsstreit ist? Dazu sagt der linke Theatermacher Bernd Stegemann: „Es heißt dann, dem Opfer muss immer und unter allen Umständen geglaubt werden. Damit aber wird das Opfer in den Stand der Unfehlbarkeit erhoben, und der Diskurs findet ein abruptes Ende“, kritisierte er unlängst im Wiener „Standard“.

„Es bleibt nur noch die Unterwerfung: Ab nun sagst du, wie es weitergeht. Das Opfer ist der neue Chef. Aber wer ist das Opfer? Es gibt ständig neue Opfergruppen, und es treffen nur noch Absolutheitsansprüche aufeinander. Aber unfehlbare Päpste können nicht miteinander diskutieren.“

Sprachwissenschaftler schweigen mittlerweile

Längst geht es nicht mehr nur darum, was, sondern auch wie es gesagt wird. So bekommen die Woken die Hoheit über den Diskurs – es kommt weniger darauf an, was der andere ausdrücken möchte, sondern ob er die richtigen Formeln benutzt. Die Umformung der Sprache, ein tagtäglicher Übergriff, wird vorangetrieben. Weder eine politische Erklärung noch eine Pressemitteilung kommt ohne das Gendern aus, obwohl es zwei Drittel bis drei Viertel der Deutschen nach Umfragen ablehnen.

An den Universitäten werden Studenten, die ihre Arbeiten im richtigen Deutsch abgeben, schon mit Punktabzug bestraft. Noch vor wenigen Jahren lachten Sprachwissenschaftler über die exotische Idee, das generische Maskulinum habe ein sexuelles Geschlecht – heute schweigen sie.

Selbst die katholische Kirche gendert

Wichtiger als die Umsetzung von Vielfalt aber ist die Pose – jeder schminkt sich auf modern. In jedem vierten DAX-Unternehmen ist das Gendern verpflichtend. Sogar die katholische Kirche gendert – an der Rolle von Frauen oder Schwulen im Katholizismus ändert das aber keinen Deut. Als der Streit um die Regenbogenfahne vor dem EM-Spiel gegen Ungarn eskalierte, demonstrierten Siemens und BMW ihre Unterstützung für die Sache der Schwulen und zeigten die Regenbogen-Fahne auf ihren Seiten – allerdings nicht in Ungarn oder den arabischen Staaten. So ernst ist es den Konzernen mit der Gleichstellung nun doch nicht.

Diese maximale Anpassung an den Zeitgeist, der Kniefall vor lauten Minderheiten, macht den Radikalen die Sache noch leichter. Irgendwie wollen alle woke sein. Dieses zur Schau gestellte Bewusstsein wird zum Accessoire des politischen Modesommers. Wirklichen Gegenwind bekommen die Woken fast nur von Linken, die diese Symbolpolitik ablehnen und die wirklichen Probleme adressieren. Sie sind es dann auch, die besonders hart angegangen werden – im Magazin „das goethe“ des Goethe-Instituts heißt es beispielsweise: „Alice-Schwarzer-Feminismus dagegen, von Xeno- und Transphobie durchsetzt, hat keine Zukunft.“

Grünen wollen Boris Palmer ausschließen

Eine Sahra Wagenknecht hätten die Linken am liebsten aus der Partei geworfen. Die Grünen sind einen Schritt weiter – sie wollen Boris Palmer, einen der schärfsten Kritiker der Identitätspolitik, ausschließen. Von den Konservativen hört man überraschend wenig, manche biedern sich peinlich an den Zeitgeist an. Stimmen wie die des Hamburger CDU-Abgeordneten Christoph Ploß oder des Intellektuellen Andreas Rödder sind selten. Und viele in der Mitte folgen der Debatte kaum – sie sind weder Teil der universitären Diskussionen noch von Twitter-Blasen. Oder wie es Wagenknecht sagt: „Wir führen teilweise abgehobene Diskussionen über Sprachverbote, Denkverbote, die an den Problemen derer, die jeden Monat hart arbeiten, vorbeigehen.“

Sie gehen nicht nur an den Menschen vorbei, sie spalten. Es darf bezweifelt werden, dass die Campus-Diskussionen den Benachteiligten, den Minderheiten, den Diskriminierten, weiterhelfen. In den USA, wo das woke Denken früher die Gesellschaft spaltete, profitieren nicht die Protagonisten der Bewegung, sondern vor allem ihre radikalen Gegner. Der Triumph eines ressentimentgetriebenen Donald Trump ist ohne die Radikalität seiner Gegner kaum zu erklären – er braucht die Polarisierung der Gesellschaft wie die Luft zum Atmen.

Soziale Ungerechtigkeit: Böses Erwachen könnte folgen

Die linksliberale Boshaftigkeit vom „white trash“, dem weißen Abfall, haben die Weißen mit ihrem Stimmzettel beantwortet. Auch England, ein weiterer Vorreiter des woken Denkens, taugt kaum als Modell: Dort gewann Boris Johnson, Trumps Bruder im Geiste, haushoch gegen seinen Herausforderer. Am Ende scheint gewiss: Etwas Besseres als die Woken und ihre Debatten kann der darbenden AfD gar nicht passieren. Das wäre ein verdammt hoher Preis. Und den Woken folgte ein böses Erwachen ...