Torsten Voß ist oberster Verfassungsschützer Hamburgs. Was er über brutale Kiezzeiten, die Arbeit seiner Behörde und Entgrenzung sagt.

Er war der Geheimfavorit für das Amt des Chefs des deutschen Inlandsgeheimdienstes. Kompetent und bundesweit anerkannt, sehr gut vernetzt, loyal seinem Dienstherrn gegenüber – dem CDU-Senator wie dem SPD-Nachfolger. Auch gravierende Fehler sind ihm in seinen Jahren als Leiter des Hamburger Landesamts für Verfassungsschutz nicht unterlaufen.

Vielleicht war es zu viel Lob, das die Berufung von Torsten Voß zum Nachfolger von Hans-Georg Maaßen verhinderte, der sich ins politische Aus katapultiert hatte. Vielleicht war Voß Innenminister Horst Seehofer auch etwas zu ambitioniert, zu selbstbewusst, zu unabhängig. Jedenfalls ist er nicht geworden, was er gern geworden wäre: Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz. Stattdessen heißt es für ihn weiterhin: Hamburg statt Berlin, überschaubarer Apparat statt Behörden-Moloch, norddeutsche Gelassenheit statt Hauptstadt-Aufgeregtheit – gut leben mit der Entscheidung kann Voß sehr wohl.

Voß ist geblieben, als viele gehen mussten

Wer mit Menschen spricht, die mit dem 54-Jährigen zu tun haben, hört wenig Privates: Voß ist Polizist, anders als viele seiner Kollegen im Geheimdienst, wo oft Juristen das Sagen haben. Polizist wie sein Vater, seine zweite Frau und sein ältester Sohn, der in der Ausbildung ist. Voß hat vier Kinder, treibt gern Sport, interessiert sich für Automatik­uhren und vor allem für deren Technik. Er ist CDU-Mitglied – und trotzdem einer der wichtigsten Leute im System der Innenbehörde mit sozialdemokratischem Senator. Denn er ist loyal. Als Michael Neumann die Behörde 2011 übernahm, war Voß schon da. Er ist geblieben, als viele gehen mussten. Erst unter Neumann, später unter Andy Grote.

Es gibt diese Polizisten, von denen sie sich im Apparat allerlei Anekdoten erzählen. Geschichten von Torsten Voß gibt’s so gut wie keine. Er drängt sich nicht nach vorn, macht sich nicht zum Gesprächsthema. Trotz seiner beinahe zwei Meter Körpergröße ist er der Mann im Hintergrund. Und der, von dem sie im Verfassungsschutz und bei der Polizei sagen: Er sei total korrekt. Korrekt ist das Attribut, das als Erstes genannt wird.

Akzeptiert von Kollegen, respektiert von Bagaluten

Rückblick: Es war eine der spannendsten Zeiten auf dem Kiez. Und eine der brutalsten. Die Zeit der „GMBH“, eines Zuhälter-Kartells um Gerd Glissmann, den „schönen Mischa“ Luchting, „Beatle“ Vogeler und Harry Voerth­mann. Damals, in den frühen 80ern, lief Voß als Oberwachtmeister Streife auf dem Kiez. Später war er Zivilfahnder der Davidwache. Akzeptiert von Kollegen, respektiert von Bagaluten.

„Wir als Polizisten waren damals deutlich stärker von der Szene anerkannt und geachtet, als es die jungen Polizisten heute sind“, erinnert er sich. „Das liegt aber nicht an den Polizisten von heute, sondern an der sich verändernden Szene. Akzeptanz und Respekt gegenüber Polizei- und Justizbeamten, Verfassungsschützern und Feuerwehrleuten sind gesunken.“ Jahre nach der Ausbildung und der Zeit an der Reeperbahn ließ die Polizei Voß studieren. Einsätze bei der Bereitschaftspolizei führten ihn nach Gorleben, als Chef der Spezialeinheit MEK fasste er 2004 den Shell-Erpresser „Garibaldi“.

Voß wurde Leiter der Präsidialabteilung von Christoph Ahlhaus

Größer hätte der Kontrast zur nächsten Aufgabe kaum ausfallen können, und doch waren der Wechsel ins Vorzimmer von Innensenator Udo Nagel als dessen Büroleiter und später als Leiter der Präsidialabteilung von Christoph Ahlhaus die nächsten logischen Schritte. „Ohne Studium und Aufstieg würde ich heute vermutlich als BünaBe, als Bürgernaher Beamter, im Einsatz sein“, sagt Voß. „Aber das wäre auch ein wunderbarer Job und völlig in Ordnung.“

Deutschland dürfte das Land mit den meisten Geheimdiensten sein – und wenn es nach Voß geht, bleibt es auch bei 16 Landesämtern und einem Bundesamt für Verfassungsschutz. Was nach Kompetenzgewirr klingt und nach Reibungsverlusten, ist für Voß eine Errungenschaft der föderalen Demokratie, die man modernisieren könne, aber keinesfalls komplett umstrukturieren, was eine Weile drohte. Überlegungen, dem Bundesamt deutlich mehr Macht, Kompetenz und Personal zu geben, scheiterten. Der Mann, der den Widerstand als Vorsitzender des einflussreichen Arbeitskreises 4 (AK 4) der Innenministerkonferenz organisierte: Torsten Voß.

Dessen Büro ist ähnlich dezent wie der Mann mit dem gestutzten Bart und angegrauten Haaren. Ein großer Schreibtisch, aufgeräumt. Eine Besprechungsgarnitur, die nicht zur Wohnlichkeit beiträgt. Ein Safe, Schränke, Regale. Viel Grau und Braun. Selbst auf dem Foto hinter dem Schreibtisch geht’s ziemlich farblos zu. Der Blick reicht über die Binnenalster auf Ballindamm und Jungfernstieg. Die Häuser: grau, das Wasser ebenso. Lediglich die grünen Kupferdächer bringen Farbe ins Spiel.

Was in der Innenbehörde zu sehen ist, bleibt intern

Hier in der Innenbehörde werden Videos ausgewertet, die den Schlaf rauben müssen. Jugendliche IS-Terroristen sind darin zu sehen, beinahe noch Kinder, die Wehrlose abschlachten. Hier werten Beamte die Details von Anschlägen aus, bei denen zum Teil Dutzende von Menschen sterben mussten. Hier müssen sich Menschen Folterszenen anschauen. Die, die hier arbeiten, dürfen außerhalb nicht sprechen über das, was sie erleben. Dürfen sich nicht austauschen mit dem Partner, müssen nach Dienstschluss allein damit klarkommen. Alle hier haben eine Geheimnisverpflichtung unterschrieben.

Von gerade mal drei Hamburger Verfassungsschützern der gut 200 Mitarbeiter – vom Chef, der Stellvertreterin und dem Pressesprecher – kennt man außerhalb der Mauern am Johanniswall den Klarnamen. Alle anderen erzählen, dass sie bei der Verwaltung arbeiten.

Psychologische Betreuung und Supervision der Mitarbeiter

Was macht das mit den Menschen? „Die Kolleginnen und Kollegen haben sehr starken Bezug aufeinander. Da die Mitarbeiter ihre Erlebnisse nicht zu Hause aufarbeiten können, setzen wir alles daran, dass sie sich hier austauschen. Dass sie Ansprechpartner haben, die ihnen helfen, das Gesehene und Gehörte zu verarbeiten“, sagt Voß. Deshalb hat die Behörde psychologische Betreuung und Supervision als wichtige Aufgaben der Zukunft definiert. Worauf der Senatsdirektor auch etwas stolz ist: „Trotz der hohen Belastung haben wir einen wahnsinnig hohen Zulauf.“ Auf zuletzt fünf freie Stellen kamen 190 Bewerber.

Voß spricht offen über verheerende Fehler und Versäumnisse der deutschen Sicherheitsbehörden – beispielsweise im Fall des NSU. Jahrelang ermordeten Rechts-Terroristen ausländische Mitbürger. Weil die Sicherheitsbehörden wegsahen? Oder weil, wie es Opfer-Anwälte formulierten, der Verfassungsschutz die Ermittlungen sogar behinderte? Acht Verfassungsschutzchefs mussten in der Folge gehen, es wurden krasse Fehler aufgedeckt. „Im Verfassungsschutz blieb kein Stein auf dem anderen. Die Behörden waren nach Aufdeckung des NSU im Ausnahmezustand“, sagt Voß, der erst wenige Wochen bevor die Taten als Terrorserie erkannt wurden, als stellvertretender Chef zum Hamburger Verfassungsschutz gewechselt war.

Bedrohungslage hat sich gewandelt

Während der Geheimdienst Jahrzehnte im Verborgenen wirkte, sucht die unter Voß um rund 50 Stellen gewachsene Behörde die Öffentlichkeit. Podiumsdiskussionen, Vorträge, Gesprächsreihen – der Verfassungsschutz ist dabei. „Wir werden eingeladen und gehört", sagt Voß. 9/11, also die Terroranschläge 2001 in New York, die auch in einer unscheinbaren WG in Harburg geplant worden waren (und wo Polizeien und Nachrichtendienste in vielen Ländern komplett versagt hatten), hätten zum Akzeptanzwandel in der Bevölkerung beitragen.

Islamistischer Salafismus, links­extremistische Gewaltexzesse wie zur G-20-Konferenz, Rechtsterrorismus – in der Zeit des Verfassungsschutz-Chefs Voß hat sich die Bedrohungslage gewandelt. „Die aktuell größte Bedrohung für die freiheitliche Demokratie ist die ,Entgrenzung‘“, sagt Voß. „Entgrenzung“ ist eines seiner Lieblingswörter. Er spricht davon, wenn sich die Grenzen zwischen berechtigtem politischen Protest und Gewalt vermengen, wenn Extremisten mehrheitsfähige Themen besetzen und missbrauchen. „Es ist quasi wie ein schleichendes Gift, wenn die Grenzen zwischen demokratischem und verfassungsfeindlichem Spektrum subtil gelockert und aufgelöst werden.“

Voß spricht immer wieder von "Entgrenzung"

Das jüngste Beispiel, vor dem die Behörde warnte, betrifft die Klimaproteste. Nachdem die Jugend-Bewegung „Fridays for Future“ so populär geworden war, versuchte sich die laut Verfassungsschutz gewaltorientierte linksextremistische Bewegung „Interventionistische Linke“ anzudocken. Nur dass sich die jungen Klimaschützer nicht instrumentalisieren ließen. „Aber viele wohlmeinende Bürger sind zu unkritisch und lassen sich mit ihrem legitimen Engagement beispielsweise gegen Rechtsextremisten vereinnahmen“, kritisiert Voß die fehlende Abgrenzung.

Im April warnte der Verfassungsschutz vor einem Wilhelmsburger Fußballverein. Getarnt als Amateurclub, soll „Adil“ von Islamisten gegründet worden sein, um Mitglieder für die verfassungsfeindliche Hizb-ut Tahrir zu gewinnen. Propaganda getarnt als gemeinnützige Arbeit und Sport ­instrumentalisiert durch Extremisten – auch das ist für Voß „Entgrenzung“.

Drei Fragen an Torsten Voß

  1. Was ist ihr wichtigstes Ziel für die nächsten drei Jahre? Mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erfolgreich dafür zu sorgen, dass Extremisten in Hamburg an Boden verlieren.
  2. Was wollen Sie in den nächsten drei Jahren beruflich erreichen? Ich habe einen wunderbaren, hochinteressanten und verantwortungsvollen Job, daher habe ich derzeit keine persönlichen Ziele im Sinne von Ambitionen. 
  3. Was wünschen Sie sich für Hamburg in den nächsten drei Jahren? Dass es in allen Bereichen der Gesellschaft eine noch größere Sensibilität für extremistische Bestrebungen gibt – nicht erst dann, wenn eine Gewalttat oder gar ein Anschlag passiert ist.