Hamburg. Wann Kinder ein Smartphone bekommen sollten und warum es keine Handysucht gibt – Hamburger Experten klären Eltern auf.
"Immer, wenn ein Kind vor einem Smartphone sitzt, stirbt auf einem Baum ein Abenteuer.“ Von wem diese Weisheit stammt, ist nicht überliefert. Dafür weiß man, wer sie in sozialen Netzwerken wie Facebook postet oder auf „Gefällt mir“ drückt: Eltern, die sich sorgen, der Nachwuchs verbringe zu viel Zeit mit dem Handy.
Und schon ist man mittendrin in einer Debatte, die zu Hause genauso geführt wird wie unter Pädagogen, Medizinern und Medienwissenschaftlern. Die Kernfragen: Wer darf wie lange ans Handy und warum? Ab welchem Alter sollten Kinder ein eigenes Telefon besitzen? Und sind wir Eltern, die auf dem Spielplatz aufs Handy starren und am Esstisch noch schnell ein paar Mails beantworten, gute Vorbilder? Die Antworten darauf könnten unterschiedlicher kaum ausfallen.
Dreijährige schauen die "Maus" auf dem Tablet
Schon Einjährige wissen intuitiv, wie sie mit ihrem kleinen Fingerchen durch eine Bildergalerie navigieren. Dreijährige schauen wie selbstverständlich „Die Sendung mit der Maus“ auf dem Tablet, und Zwölfjährige unterhalten sich mit ihren Freunden natürlich über WhatsApp. Alles zeitgemäß? Oder doch eine bisher unterschätzte gesellschaftliche Gefahr, wie der Psychiater und Hirnforscher Manfred Spitzer von der Universität Ulm in seinem aktuellen Buch „Die Smartphone-Epidemie“ warnt.
Gerade erst hat der sechsfache Vater medienwirksam ein generelles Smartphone-Verbot für Kinder gefordert, erst 18-Jährigen sollte der Umgang erlaubt sein. Der Bestsellerautor und wohl bekannteste deutsche Internet-Skeptiker kommt zu der These: Digitale Medien machen unsere Kinder dumm, dick und depressiv. Es sei keine Kompetenz, wenn schon die Kleinsten wüssten, wie „man wischt“.
Handys erst ab 18? Manche fordern das
Dass so eine Generation von Putzkräften herangezogen werde, wie der Hirnforscher einmal sehr überspitzt formuliert hat, hält Professor Michael Schulte-Markwort für „reinen Populismus“. „Das Smartphone gehört zum Leben dazu. Wichtig ist doch, dass die Mischung stimmt. Es gibt Gemüse und Gummibärchen, Malefiz und das Handy“, sagt der Ärztliche Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am UKE. Man müsse den Kindern zutrauen, die Grenzen des Handykonsums selbst zu entdecken. „Meiner Erfahrung nach gelingt das auch“, sagt der zweifache Vater. „Ich weiß von Partys in Hamburg, bei denen die Jugendlichen nach der Ankunft alle ihre Telefone auf dem Küchentisch stapeln. Wer seines im Laufe des Abends herauszieht, hat verloren.“
Tatsächlich wissen schon die Jüngsten um den großen Nutzen ihres vibrierenden Universallexikons in der Hosentasche, aber auch um die Gefahren, wie das Ergebnis der repräsentativen Kinder-Medien-Studie 2018, für die sechs deutsche Medienhäuser das Nutzungsverhalten von knapp 7,3 Millionen Kindern untersucht haben, zeigt. Die Mehrheit der jungen Befragten glaubt, das Smartphone könne „Zeit rauben“, und außerdem sei es „doof, wenn der Papa stundenlang damit rumsitzt und nicht mit uns redet“.
Eltern müssten Vorbilder sein, sagt auch Professor Schulte-Markwort. „Es sollten in einer Familie Regeln gelten, an die sich alle halten. So könnten zum Beispiel vor dem Abendessen alle ihr Telefon in eine Schublade legen. Ein Ritual – wie das Ausziehen der Straßenschuhe an der Tür.“
Überwachungs-Apps schaden mehr als sie nützen
Grundsätzlich sollten Eltern ihren Kindern vertrauen, meint der Experte. Von Apps wie Family Link, mit denen bestimmte andere Apps gesperrt werden und sich eine „Bettzeit“ einstellen lässt, zu der sich das Gerät ausschaltet, sieht Schulte-Markwort genauso kritisch wie Apps, mit denen besorgte Eltern ihren Nachwuchs orten können. „Das ist alles komplett übergriffig. Spätestens in der Pubertät werden sich die Kinder dagegen massiv zur Wehr setzen.“
Claudia Lampert vom Hans-Bredow-Institut für Medienforschung an der Rothenbaumchaussee sieht Apps dieser Art nicht ganz so kritisch. „Diese technischen Tools können anfangs eine gute Hilfestellung für Eltern sein“, sagt die promovierte Erziehungswissenschaftlerin. „Wichtig ist aber, dass Eltern nicht ihre gesamte Verantwortung an diese App delegieren. Ich sollte als Mutter oder Vater schon schauen, ob das Kind mit der Oma in Kanada skypt oder auf welchen Seiten es genau unterwegs ist.“ Zudem sollten diese technischen Kontrollhilfen nicht langfristig genutzt werden. „Je älter die Kinder werden, desto mehr sollten wir ihnen auch zutrauen, eigenverantwortlich zu handeln.“
Doch wie viel Zeit vor dem Bildschirm ist angemessen? Was tun, wenn das Kind stundenlang daddelt, statt Hausaufgaben zu machen? Ab wann spricht man von Handysucht? „Gar nicht“, sagt Kinder- und Jugendpsychiater Schulte-Markwort. „Medizinisch gibt es diese Diagnose nicht. Es mangelt schlicht an validen Forschungsergebnissen dazu.“ Natürlich bestehe Handlungsbedarf, wenn das Kind nachts nicht mehr schlafe, weil es das Smartphone nicht mehr ausstellen könne. „Aber grundsätzlich müssen wir als Eltern damit aufhören, unser eigenes Fehlverhalten auf die Kinder zu übertragen. Schauen Sie sich mal morgens um 7 Uhr am Hamburger Flughafen um: Hunderte Anzugträger, die auf Bildschirme starren. Da käme niemand auf die Idee zu fragen, ob die alle handysüchtig sind.“
Eigenes Handy erst nach der Grundschule
Ab der weiterführenden Schule hält Schulte-Markwort ein eigenes Handy für sinnvoll. „Dann läuft auch viel Kommunikation der Schule über diesen Weg.“ Dem stimmt Diana Knodel, promovierte Informatikerin, zu. „Meistens kommt nach der Grundschule der Zeitpunkt, an dem die Kinder diesen Wunsch auch aktiv formulieren“, sagt die Hamburgerin, die gemeinsam mit ihrem Mann Philipp das auf digitale Unterrichtsmaterialien spezialisierte Start-up App Camps gegründet hat und allein im vergangenen Jahr im deutschsprachigen Raum mehr als 70.000 Schüler im Umgang mit digitalen Medien geschult hat. „Wichtig ist, dass die Eltern ihre Kinder im Umgang mit dem Smartphone von Anfang an vertrauensvoll begleiten“, sagt die Mutter von zwei Kindern, sechs und drei Jahre alt, die bisher wenig mit Handys zu tun haben.
Eltern sollten Kindern die Kontaktdaten erstellen, mit ihnen gemeinsam ein sicheres Passwort auswählen, über Sicherheitseinstellungen sprechen und auch auf die Gefahren des Internets, wie pornografische Inhalte, hinweisen. „Man kann den Kindern früh erklären, dass es zum Beispiel in Chats vielleicht besser ist, einen Avatar zu benutzen als ein echtes Foto“, sagt die Digitalexpertin.
Von elterlicher Kontrolle hält auch Diana Knodel wenig, aber man müsse natürlich schon beobachten, wie viel Zeit ein Kind mit dem Smartphone verbringe. Dafür gibt es keine allgemein verbindlichen Regeln, aber doch übereinstimmende Empfehlungen von Erziehungsratgebern: Bei Kindern im Alter zwischen drei und fünf Jahren sollte eine wöchentliche Bildschirmzeit von zwei Stunden nicht überschritten werden, Kinder im Alter zwischen sechs und neun Jahren dürfen maximal fünf Stunden pro Woche ans Handy und Kinder ab zehn Jahren höchstens neun Stunden.
Medienfreie Zeiten festlegen
Claudia Lampert vom Hans-Bredow-Institut für Medienforschung, die auch im Beirat von schau-hin.info sitzt, einer Informationsseite, die unter anderem das Bundesfamilienministerium erstellt hat, hält „medienfreie Zeiten“ für noch praktikabler als eine minutengenaue Festlegung der Bildschirmzeit. „Familien müssen eine gute Balance finden zwischen Online- und Offline-Zeit.“ Ihr Kollege Marcel Rechlitz, Diplom-Pädagoge und Erziehungswissenschaftler, ergänzt: „Beim Essen, vor dem Schlafen und vielleicht auch morgens vor der Schule könnte das Handy zum Beispiel tabu sein.“ Das Smartphone im Laufe des Tages einfach mal einzukassieren oder auszuschalten, sei schwierig: „Das führt dann womöglich zu sehr großen Konflikten.“
Und wie sieht es in der Schule aus? Während im Nachbarland Frankreich Präsident Macron eines seiner zentralen Wahlversprechen eingelöst hat und Handys an Schulen seit dem 3. September landesweit verboten sind, damit Schüler in den Pausen wieder miteinander statt mit dem Telefon spielen, und es auch in Bayern seit 2006 festgeschrieben ist, dass „Handys ohne Unterrichtszweck“ ausgeschaltet werden müssen, liegen die Verhaltensregelen in Hamburg im Ermessen der einzelnen Schule. „Das halten wir auch für sinnvoll, weil die Problemlage je nach Schule ganz unterschiedlich ist“, sagt Peter Albrecht von der Schulbehörde, die für die insgesamt 468 staatlichen und privaten Schulen der Stadt zuständig ist.
Drei Stadtteilschulen sind vorbildlich
Es sei wichtig, so Albrecht, den Kindern und Jugendlichen einen „vernünftigen Umgang mit den digitalen Medien“ beizubringen. Drei Stadtteilschulen (Ilse-Löwenstein-Schule/Stadtteilschule Oldenfelde/Schule Maretstraße) und drei Gymnasien (Ohmoor in Niendorf/Gymnasium Altona und Gymnasium Osterbek) seien diesbezüglich sehr erfolgreich Teil des Modellprojekts Digitale Schule. „Das ist natürlich besonders interessant hinsichtlich des Digitalpakts Schule.“ Diesen wollen alle 16 Bundesländer gemeinsam voranbringen und damit Schulen an schnelleres Internet anbinden und mit besserer Hardware zur Nutzung von Online-Unterrichtsmethoden ausstatten.
Es sei wichtig, die Kinder fit für die Zukunft zu machen, sagt auch Professor Michael Schulte-Markwort. „Die Uhr lässt sich nicht zurückdrehen. Und in zehn Jahren werden wir darüber lachen, welche Sorgen wir uns wegen der Handys gemacht haben.“ Man solle nur an die Generation der heutigen Großeltern denken. „Deren Eltern dachten auch, dass Ende sei nahe, als der Rock’n’Roll aufkam.“