Hamburg. Der SPD-Fraktionschef spricht im Sommer-Interview über die Gaskrise, HVV-Preise, Olaf Scholz und den Wohnungsbau in Hamburg.

Seit gut vier Jahren führt Dirk Kienscherf die SPD-Fraktion in der Bürgerschaft. Damit ist der 56-Jährige eine der zentralen Figuren im rot-grünen Regierungslager. Seit die Grünen bei der Wahl 2020 ihren Stimmenanteil verdoppeln konnten, ist die Aufgabe, die Koalition zusammenzuhalten, nicht einfacher geworden – auch darum ging es im Interview.

Hamburger Abendblatt: Herr Kienscherf, bevor Rot-Grün 2020 erneut zusammenfand, hatten Sie die Grünen vor weiteren „Foulspielen“ gewarnt. Würden Sie zur Halbzeit der Legislatur zustimmen, dass es atmosphärisch noch Luft nach oben gibt?

Dirk Kienscherf: Wir haben keine groben Foulspiele mehr erlebt. Ich finde, dass wir professionell zusammenarbeiten und gemeinsam das Ziel verfolgen, die Stadt in schwierigen Zeiten voranzubringen.

Nach außen dringen viele Nickligkeiten. Umweltsenator Jens Kerstan will keine Einfamilienhäuser mehr genehmigen – während der Bürgermeister damit kein Problem hat. Er will stattdessen Windräder notfalls auch in Naturschutzgebieten bauen, was die Grünen ablehnen. Auch Ihr Vorstoß zur Erweiterung des Anwohnerparkens war ja wohl nicht mit den Grünen abgestimmt. Das wirkt alles nicht sehr harmonisch.

Kienscherf: Es muss auch innerhalb einer Koalition immer Raum zur Positionierung geben. Wichtig ist, dass man das große Ganze im Blick behält. Beim Anwohnerparken habe ich bei meinen Sommergesprächen in den Stadtteilen oft gehört, dass man die Gebiete besser zuschneiden oder Berechtigungen für mehrere Zonen erteilen sollte. Das habe ich aufgenommen. Das war keine Kritik an der Verkehrsbehörde, sondern wir sind darüber im Gespräch.

Zum Anwohnerparken sagte Grünen-Fraktionschef Dominik Lorenzen vor Kurzem in der Bürgerschaft auf CDU-Nachfrage, „selbstverständlich“ sei es auch Sinn und Zweck der Gebühren, dass Leute ihre Autos abschafften. Sieht die SPD das genauso?

Kienscherf: Nein. Dass Menschen, weil die Gebühren so hoch sind, ihr Auto abschaffen, halte ich nicht für angemessen. Vielmehr dient das Anwohnerparken dazu, dass es in den hochverdichteten Stadtteilen besser läuft, etwa Gehwege nicht mehr zugeparkt werden und Anwohnern die Parkplatzsuche erleichtert wird.

Und die Windräder?

Kienscherf: Wir sind uns einig, dass wir aktuell keine Standorte für Windräder in Naturschutzgebieten suchen, sondern vorrangig woanders. Dem Bürgermeister war es wichtig, nichts grundsätzlich auszuschließen.

Mal inhaltlich gefragt: Wie fällt denn in wenigen Sätzen Ihre Bilanz zur Halbzeit der Legislatur aus?

Kienscherf: Vor dem Hintergrund der enormen Herausforderungen sind wir gut durch diese Zeit gekommen. Wir haben viele Dinge vorangebracht, die unabhängig von Corona wichtig für die Zukunft der Stadt sind, etwa die Science City Bahrenfeld, die Förderung von Innovationen, die Mobilitätswende und den Schnellbahnausbau. Für die Umsetzung des Klimaplans, die energetische Sanierung von Gebäuden und den Aufbau eines Wasserstoff-Netzwerks haben wir wichtige Weichen gestellt. Auch die Corona-Pandemie haben wir erfolgreich bewältigt – inklusive der vielen Wirtschaftshilfen und der Abfederung sozialer Härten. Auch wenn wir den Menschen natürlich viel zugemutet haben. Es war keine einfache Zeit.

Probleme gibt es dennoch. 2021 hat der Senat sein Wohnungsbau-Ziel krachend verfehlt, statt 10.000 wurden nur 7500 Wohnungen fertig. Ist es noch realistisch, 10.000 neue Wohnungen pro Jahr zu bauen?

Kienscherf: Man sollte das Ziel auf jeden Fall nicht aus den Augen lassen. Der Wohnungsbau ist eines der am meisten unterschätzten Themen unserer Zeit und eines der größten sozialen Probleme, die auf uns zukommen können. Dass das Bundeswirtschaftsministerium die Fördermaßnahmen abrupt umgestellt und die Energiesparstandards so hochgeschraubt hat, halte ich für einen Riesenfehler. Die von der Bundesregierung angestrebten 400.000 Wohnungen pro Jahr sind so nicht zu schaffen, da tickt eine Zeitbombe.

Sie meinen, dass Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck das Effizienzhaus 40 ab dem Jahr 2025 zum gesetzlichen Neubaustandard machen will.

Kienscherf: Genau. Gleichzeitig hat er die Mittel zur Förderung nach den bisherigen Standards eingefroren. Das bringt etliche soziale Wohnungsbauprojekte in Hamburg in Schieflage. Mit solchen Maßnahmen erreicht man nichts für den Klimaschutz, verhindert aber Wohnungsbau. Wir haben bereits eine große Verunsicherung durch die gestörten Lieferketten und die zu geringen Kapazitäten am Bau. Wenn jetzt auch noch die energetischen Auflagen erhöht werden, werden frei finanzierte Wohnungen statt jetzt 12 bis 13 Euro in wenigen Jahren mindestens 18 Euro Miete pro Quadratmeter kosten, netto kalt, also plus Betriebskosten – wer kann sich das denn noch leisten?

Auch aktuell läuft nicht jedes Wohnungsbauprojekt rund, Stichwort Holsten-Quartier. Nun hat die Stadt dem Investor Adler Group die Pistole auf die Brust gesetzt: Entweder erbringt er gewisse finanzielle Nachweise oder er ist raus. Wie wird dort vermutlich die Lösung aussehen?

Kienscherf: Mit diesem Investor kann man nicht verhandeln. Die Stadt sollte sich erst mal zurückhalten und keinen Kaufvertrag anstreben.

Warum nicht?

Kienscherf: Weil ich gar nicht wüsste, mit wem man da mittelfristig verhandeln kann und ob sich die wirtschaftliche Lage nicht noch so verändert, dass der Investor nicht mehr handlungsfähig ist. Die Adler Group muss sich erst mal neu sortieren. Die Stadt hat Zeit.

Nanu. Dort sollen mehr als 1000 Wohnungen entstehen, und wir haben Sie so verstanden, dass der Wohnungsbau dringlich ist.

Kienscherf: Natürlich brauchen wir diese Wohnungen. Aber mit dem Gelände ist schon viel zu viel spekuliert worden. Und die Stadt muss jetzt aufpassen, dass sie in dieser unübersichtlichen Situation da nicht hineingerät. Die Botschaft an Spekulanten muss sein: Glaubt nicht, dass wir jeden Preis dafür bezahlen.

Viele Bürger sorgen sich um die Energieversorgung. Der Bürgermeister schließt Einschränkungen auch für Mieter nicht aus, wenn es zu Gas-Engpässen kommen sollte. Wie ist Ihre Haltung dazu?

Kienscherf: Ausschließen kann man grundsätzlich wenig. Aber Mieter haben bei uns oberste Priorität. Niemand muss befürchten, dass er frieren muss oder nur an zwei Stunden am Tag warm duschen kann. Aber wir müssen uns auch um die Industrie kümmern. Wenn es dort zu Gas-Engpässen kommt, ist das nicht nur wirtschaftlich und beschäftigungspolitisch problematisch, sondern man muss auch beachten, was dort produziert wird und wozu das dient. Viele Grundstoffe aus der chemischen Industrie sind schlicht notwendig, um Lebensmittel zu verpacken.

Wenn man priorisieren müsste: Wäre es nicht klüger, die Unternehmen am Laufen zu halten und damit Jobs, Einkommen und Kaufkraft zu sichern als die warme Dusche?

Kienscherf: Beschäftigung ist wichtig. Aber die Versorgung der Bevölkerung ist noch wichtiger. Es bringt aber nichts, jetzt schon zu spekulieren, wer was bekommt. Die Lage ist ernst, aber wir sollten keine Panik schüren. Uns ist die Botschaft wichtig, dass niemand zu Hause drei Pullover extra anziehen muss.

Viele Kritiker sagen, der Bundeskanzler müsse sich in der Krise häufiger äußern und seine Politik erklären. Wie sehen Sie das?

Kienscherf: Der Bundeskanzler hat unbestritten große Qualitäten, wenn es darum geht, Pro­bleme konzeptionell anzugehen und zu lösen. Vielleicht ist Kommunikation nach außen dabei nicht sein Schwerpunkt. Andere machen es umgekehrt: viel reden, wenig tun.

Sie würden sich also auch freuen, wenn Herr Scholz etwas kommunikativer wäre?

Kienscherf: Kommunikation ist in Krisenzeiten sehr wichtig. Das wird jetzt auch stärker berücksichtigt. Aber man kann Menschen nicht komplett verändern.

Angesichts hoher Inflation und steigender Energie- und Lebensmittelkosten fordert die Linksfraktion entlastende Maßnahmen für die Hamburger. Was halten Sie davon?

Kienscherf: Wir haben uns als Land umfangreich an den Entlastungspaketen des Bundes über 30 Milliarden Euro beteiligt, und wir brauchen noch weitere. Es bringt überhaupt nichts, wenn einzelne Länder da vorpreschen. Wir setzen uns aber im Bund dafür ein, dass zum Beispiel das Bürgergeld, das Hartz IV ablösen soll, deutlich erhöht wird. Auch beim Wohngeld setzen wir uns für eine Erhöhung und eine Ausweitung des Bezieherkreises ein. Und in Hamburg erwarten wir von den Wohnungsgesellschaften, insbesondere der Saga, dass es bei Zahlungsschwierigkeiten der Mieter nicht zu Kündigungen kommt, und von Energieunternehmen, dass es keine Stromsperren gibt.

Dennoch könnte auch die Stadt etwas tun. Ein Beispiel: Sozialverbände fordern seit Jahren 20 Euro Zuschlag für Grundsicherungsempfänger, wie München es etwa macht. Warum nicht Hamburg?

Kienscherf: Weil wir bisher davon ausgegangen sind, dass man sein Leben trotz aller Herausforderungen von diesen Sätzen bewältigen kann. Im Übrigen ist Grundsicherung ein Bundesthema. Und die Kosten für Wärme übernimmt die Stadt – das betrifft diese Gruppe gar nicht.

Acht Prozent Inflation dagegen schon.

Kienscherf: Ja. Aber wenn wir anfangen, das durch Zuschläge auszugleichen, wird der Bund irgendwann nur noch eine Basis-Grundsicherung finanzieren – und alles weitere den Ländern überlassen. Wir dürfen diese Systematik aber nicht aufgeben, auch wenn ich bei der Höhe der Sätze durchaus Handlungsbedarf sehe.

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Anderes Beispiel: Gerade für ärmere Bürger, die sich keine Urlaube leisten können, sind Schwimm- und Freibäder wichtige Einrichtungen. Die Freibaddichte in Hamburg ist aber im Vergleich zum Umland beschämend. Warum ändert die SPD das nicht?

Kienscherf: Wir haben ja schon bei den bestehenden Freibädern Probleme, die Betriebszeiten aufgrund des Personalmangels aufrechtzuerhalten. Da sind wir dran. Aber neue Projekte halte ich für schwierig. Freibäder sind sehr kostenintensiv, und ich glaube nicht, dass Bäderland und die Umweltbehörde dafür Mittel haben.

Ein weiteres Beispiel: Der HVV soll attraktiver werden, hat aber in den vergangenen Jahren oft seine Fahrpreise erhöht.

Kienscherf: Der HVV leistet inzwischen deutlich mehr, er hat seine Angebote ausgeweitet, etwa mit neuen Express- und Quartiersbussen. Die Preiserhöhungen waren relativ moderat. Aber allen ist klar: Eine Rückkehr zum alten Tarifsystem vor dem 9-Euro-Ticket wird es nicht mehr geben – so habe ich auch Bundesverkehrsminister Volker Wissing von der FDP verstanden.

Das heißt, die Fahrpreise sollen dauerhaft gesenkt werden?

Kienscherf: Wir brauchen attraktive Tarife, aber vor allem ein attraktives Angebot, und wir müssen all das finanzierbar halten. Bei Befragungen von Fahrgästen, ob es am Preis oder am Angebot liegt, dass sie nicht häufiger mit Bus und Bahn fahren, sagen viele: Es liegt insbesondere am Angebot. In Wien, wo die Fahrpreise gesenkt wurden, gab es nur einen geringen Zuwachs bei den Fahrgästen. Je geringer das Einkommen von Menschen ist, desto wichtiger ist aber natürlich der Fahrpreis für sie. Deshalb hat der HVV das Azubi-Ticket für 30 Euro pro Monat eingeführt und den Preis für das Schülerabo auf 30 Euro gesenkt – letzteres entlastet Familien. Wenn allerdings die Fahrpreise für alle Menschen niedriger sein sollen als in der Zeit vor dem 9-Euro-Ticket, muss sich der Bund an der Finanzierung beteiligen. Das werden die Länder allein nicht schaffen.

Welchen Preis schlagen Sie vor?

Kienscherf: Es gibt ja einen Vorschlag der Verkehrsunternehmen für ein 69-Euro-Ticket. Andere plädieren für 60 Euro. Entscheidend ist die Finanzierung, also was die Länder machen können und was der Bund tun kann. Für die Länder gilt: Je günstiger die Ticketpreise werden, umso weniger Ausbau lässt sich betreiben und umso eher müssen wir anderswo Abstriche machen.

Sie haben schon mehrfach erklärt, Hamburg werde den privaten Autoverkehr reduzieren müssen. Was konkret aber sollte Autofahrer dazu bringen, auf Bus, Bahn und Fahrrad umzusteigen?

Kienscherf: Der öffentliche Raum ist begrenzt, insbesondere in den hochverdichteten Stadtteilen. Bei der jüngeren Generation ist der Wunsch nach einem eigenen Auto nicht mehr so ausgeprägt. Viele Menschen nutzen Carsharing-Angebote. In der inneren Stadt wird schon weniger mit dem Auto gefahren, viele Menschen verzichten ganz darauf. Wir werden in Hamburg weniger Flächen für den Autoverkehr zur Verfügung stellen, aber wir werden niemandem das Autofahren verbieten. Es muss unterschiedliche Konzepte geben für die verschiedenen Bereiche der Stadt. Die großen Entfernungen, die Pendlerströme müssen wir auf die Schiene verlagern. Deswegen bauen wir unter anderem die S 4 und die U 5 – das wird sich langfristig auswirken.

Zuletzt hat es in Hamburg wieder viele Corona-Infektionen gegeben. Im Herbst droht eine Verschlechterung der Lage. Müssen wir mit neuen Beschränkungen bei uns rechnen – und ist ein weiterer Lockdown möglich?

Kienscherf: Zunächst müssen wir abwarten, welche Konzepte die Bundesregierung zustande bringt. Dass wir in Richtung Lockdown laufen, sehe ich nicht. Viele Experten haben auch schon erklärt, dass sie sich einen Lockdown eigentlich nicht mehr vorstellen können. Allerdings wissen wir nicht, welche Corona-Varianten es noch geben und ob dann ein neuer Impfstoff zur Verfügung stehen wird. Wahrscheinlich werden Masken wieder eine wichtige Rolle spielen, vor allem bei Veranstaltungen in Innenräumen – da wird man vorsichtig sein müssen.