Hamburg. Vor 75 Jahren setzen die Briten in Hamburg wieder ein Parlament ein. Es sind 74 Männer – und sieben Frauen.

Die Lage ist katastrophal, das Elend unbeschreiblich, die Zukunft düster: Als sich die erste Bürgerschaft seit der Nazi-Zeit am 27. Februar 1946 im Rathaus versammelt, ist Hamburg eine zerstörte, teilweise unbewohnbare Stadt voller hungernder, frierender, sterbender Menschen ohne Hoffnung.

Auch ist die junge Demokratie keineswegs eine freie: Die Abgeordneten des ersten Nachkriegsparlaments sind nicht gewählt, sondern von den Siegern ernannt. Und ihr Auftrag ist nicht politisch, sondern organisatorisch: Es geht vor allem um die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Heizmaterial.

Gleich nach der Kapitulation der Stadt am 3. Mai 1945 setzte die britische Militärregierung zwei Bürgermeister ein, die Hamburg durch die ersten Nachkriegsmonate steuerten: Rudolf Petersen und Adolph Schönfelder.

Die richtigen Leute am rechten Fleck

Es sind die richtigen Leute am rechten Fleck. Petersen ist Kaufmann, 67 Jahre alt, parteilos und Gründer einer Überseehandelsfirma, die später in der heutigen Investmentgesellschaft MPC Capital aufgeht. Er stammt aus einer Familie herausragender Persönlichkeiten: Schon sein Großvater und dann auch sein älterer Bruder standen als Bürgermeister an der Spitze der Stadt.

 Schönfelder ist gelernter Zimmermann, 71 Jahre alt, Sozial­demokrat, schon vor dem Krieg Mitglied der Bürgerschaft und bis zu Hitlers Machtergreifung Polizeisenator. Die Nazis inhaftierten ihn schon 1933 und klagten ihn im Zweiten Weltkrieg sogar wegen Hochverrats an, ließen ihn dann aber wieder frei.

Zusammensetzung soll ein möglichst breites politisches Spektrum widerspiegeln

Für das erste Parlament werden 74 Männer zugelassen, aber nur sieben Frauen. Die Zusammensetzung soll dennoch ein möglichst breites politisches Spektrum widerspiegeln. 13 Abgeordnete sind Mitglieder des ebenfalls von den Engländern ernannten Hamburger Senats unter Petersen.

17 Politiker werden von den Parteien nominiert und von den Briten bestätigt. Hinzu kommen 45 Vertreter verschiedener Organisationen sowie sechs Abgeordnete aus Bergedorf und Harburg. Nicht mitmachen darf, wer in Hitlers NSDAP war oder mit NS-Organisationen kooperiert hat.

Die Aufgabe ist gewaltig. Der jahrelange Bombenkrieg mit dem furchtbaren Höhepunkt der „Operation Gomorrha“ hat große Teile der Stadt in Schutt und Asche gelegt. 53 Prozent der 563.600 Wohnungen sind vernichtet, ganze Stadtteile wie Hammerbrook und Ro­thenburgsort nur noch Ruinenfelder.

1953 hat Hamburg mindestens 180.000 Wohnungen zu wenig

Vor dem Krieg hatte der Durchschnittshamburger statistisch 13,6 Quadratmeter Wohnraum, jetzt sind es gerade mal sieben. Und das bleibt noch lange so: Bis 1948 werden rund 40.000 beschädigte Wohnungen wieder beziehbar gemacht, vor allem in Barmbek, Altona-Nord, Hamm, Horn, Dulsberg und der Jarre­stadt, aber nur rund 7800 neu gebaut. Noch 1953 hat Hamburg mindestens 180.000 Wohnungen zu wenig.

Nach einer ersten Volkszählung auf Befehl der Militärregierung hat die Freie und Hansestadt 1,405 Millionen Einwohner. Die allermeisten leben in doppelt und dreifach belegten Wohnungen. Viele sind in Behelfsheimen untergebracht, etwa in Wellblechbaracken, den „Nissenhütten“, die zu Hunderten in den Parks stehen. Oder hausen in den Kellern zerbombter Häuser. Nicht wenige schlafen abwechselnd im selben Bett.

Den Überlebenden fehlt es an Lebensmitteln

Der Alltag spielt sich überwiegend im Freien ab. Den Überlebenden fehlt es an Lebensmitteln, Kleidung und Brennmaterial. Bäume aus Parks und Grünanlagen landen in den Kanonenöfen. Auf den Kohlenzügen aus dem Ruhrgebiet, von Bergarbeitern in Sonderschichten beladen, fahren Halbwüchse zur Elbe und werfen die schwarzen Brocken neben die Gleise, wo andere sie aufsammeln.

Skrupel kann sich niemand leisten. In Köln hat der populäre Erzbischof Joseph Kardinal Frings in einer elektrisierenden Predigt die rettende Losung ausgegeben: „Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der Einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise, durch seine Arbeit oder durch Bitten, nicht erlangen kann.“ Seither wird das Organisieren von Ess- und Brennbarem auch in Hamburg „fringsen“ genannt.

Bürgerschaft beschließt eine Zuzugssperre

Viele Familien besitzen nicht einmal mehr die nötigsten Haushaltsgeräte. Die Vorräte sind so knapp, dass die kargen Rationen nicht mehr monatlich, sondern wöchentlich und dann auch täglich ausgegeben werden. Tausende „Butenhamborger“, im Krieg ins Umland evakuiert, sind in Ruinen heimgekehrt. Zehntausende Flüchtlinge aus den verlorenen Ostgebieten suchen in der zertrümmerten Stadt verzweifelt ein Dach über dem Kopf.

Am 1. April beschließt die Bürgerschaft deshalb notgedrungen eine Zuzugssperre. Sie wird bis 1950 gelten. Ausnahmen genehmigen die Arbeitsämter für Handwerker, Kaufleute oder Ärzte, aber auch für Verfolgte des Nazi-Regimes und zurückkehrende Emigranten.

Vor der ersten Sitzung am 27. Februar gründen die neuen Parlamentarier sechs Fraktionen. Stärkste Partei in der neuen Bürgerschaft ist mit 20 Sitzen die SPD um Bürgermeister Schönfelder. Besonders nahe stehen ihnen die 16 Gewerkschafter des Plenums.

CDU kann sich rasch als Partei der bürgerlichen Mitte etablieren

Die FDP kommt auf neun Sitze, die KPD auf acht und die CDU auf fünf. Sozialdemokraten und Kommunisten können auf erfahrene Politiker der Weimarer Zeit zurückgreifen. Trotz jahrelanger grausamer Verfolgung sind einige Parteistrukturen noch immer intakt. Die FDP wird erst nach dem Krieg gegründet, setzt aber politisch die Deutsche Demokratische Partei (DDP) fort, aus der jetzt erfahrene Politiker der Weimarer Zeit beim Aufbau der jungen Demokratie helfen wollen.

Auch die CDU ist neu, kann sich aber rasch als Partei der bürgerlichen Mitte etablieren. Die größte Gruppe besteht aus 23 Parteilosen, darunter Bürgermeister Petersen und der 39 Jahre alte Jurist Gerd Bucerius, seit zwei Wochen im Besitz einer britischen Lizenz für die „Zeit“. Die äußerst heterogene Fraktion der Fraktionslosen bricht schon im Sommer auseinander, und mit den meisten anderen schließt sich auch Bucerius der CDU an.

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Hauptaufgabe der ernannten Bürgerschaft soll eine neue Verfassung sein. Der Senat legt eine Arbeitsgrundlage vor, die schon sehr ausgereift und von den Briten bereits abgesegnet ist. Das bedeutet allerdings, dass jede Änderung kompliziert würde. Außerdem steht fest, dass im Herbst gewählt und sich dann eine neue, demokratisch legitimierte Bürgerschaft um das Thema kümmern wird.

Eine echte Kontrolle übt Hamburgs erstes Nachkriegsparlament nicht aus, auch sind Bürgermeister und Senat an Beschlüsse der Bürgerschaft nicht gebunden. Am 15. Mai verabschiedet die Ernannte Bürgerschaft die vorläufige Verfassung, am 8. Oktober beendet sie ihre Arbeit. Am 13. Oktober folgt die erste freie Bürgerschaftswahl seit 1932. Die SPD holt 43,1 Prozent, neuer Bürgermeister wird der legendäre Sozialdemokrat Max Brauer – und Adolph Schönfelder der erste Bürgerschaftspräsident.