Hamburg. Vor 50 Jahren einigte sich Hamburg mit dem Bund auf den Bau eines Netzes von Schnellstraßen durch die Stadt.
Wären Zeitreisen nicht nur eine physikalische Spielerei, man würde ein paar zeitgeistbeseelte Stadtplaner gerne einmal ins Jahr 1970 katapultieren. Wer immer noch glaubt, in Hamburgs Verkehrspolitik habe sich wenig getan, sollte einmal die Asphaltträume der ausgehenden 60er-Jahre betrachten. Es ist genau 50 Jahre her, da präsentierte der Senat seinen großen Plan für neue Straßen in und um Hamburg. Ein dichtes Netz von Autobahnen sollte die mobile Wirtschaftswundergeneration endlich staufrei durch die autogerechte Stadt bringen.
So wie es heute Mainstream ist, den Umbau zur Fahrradstadt zu forcieren, war es damals fast unumstritten, schnellstmöglich viele Kilometer zuzubauen. Was im Wege war, ob Wasser oder Wohnungen, musste weg. Die Abrissbirnen sollten nicht weniger, sondern mehr beseitigen. Der „Spiegel“ nölte schon 1963 über die „Scheu“ im Straßenbau und „das sparsame Denken“ der Hamburger.
Widerstand gegen die Pläne gab es kaum
Einer der größten Fürsprecher der autogerechten Stadt zu dieser Zeit war Otto Sill. Seit 1951 leitete er das Tiefbauamt, 1964 wurde er Hamburgs Oberbaudirektor und blieb es bis zu seinem Ruhestand 1971. Er träumte, inspiriert von amerikanischen Metropolen, von der großen Lösung der Verkehrsnot. Leistungsfähige Straßenzüge mit dreispuriger Richtungsfahrbahnen, eine Alsterquerung, zwei neue Elbtunnel, monumentale Hochstraßen und zweistöckige Kreuzungen sollten die Staus bekämpfen. Auf der Deutschen Straßenbautagung in München prägte er 1956 sogar einen Begriff: „Stadtautobahn“.
Widerstand gegen die Pläne der autogerechten Stadt gab es kaum, höchstens ein paar weitsichtige Mahner wie den Architekten Werner Kallmorgen, den Schöpfer des AK Altona. Er sei „dagegen, unsere Innenstädte zu zerstören zugunsten eines so reaktionären Möbels, wie es das Auto ist“, sagte er 1957. Einen weiteren Gegner fand Sill ausgerechnet im Ersten Bürgermeister Max Brauer, dem der „Spiegel“ damals eine Postkutschen-Gemütlichkeit attestierte. Brauer wetterte in der SPD-Zeitung „Vorwärts“ über die Stadtautobahnen: „Die ganze Idee ist grotesk. Sie würde die menschliche Siedlung in einer Großstadt unter diesem Autobahnnetz begraben.“
Das Auto ist „Fußball und Lippenstift“ zugleich
Mit dieser Ansicht stand er allein – und nach Brauers Rücktritt 1960 wurden die Ausbaupläne noch kühner: Ein Jahr darauf wurde das „Große A“ ersonnen – ein System, das wie der Buchstabe aus Fernautobahnen und Tangenten sich über die Stadt legen sollte. Kernziel war ein 135 Kilometer langes Stadtautobahnnetz – mit einer Stadtautobahn als Querbalken.
Um diese Bauwut zu verstehen, muss man die Zahlen lesen und den Psychologen lauschen. Im Hamburger Abendblatt brachte es Paul Koeßler 1949 auf den Punkt: Das Auto „nimmt unter allen technischen Erzeugnissen eine Sonderstellung ein, denn es ist eine Maschine, die auch als Sportgerät und Modeartikel betrachtet wird“, in dieser Hinsicht „Fußball und Lippenstift“ zugleich. Das Auto stand wie kein zweites Produkt für den Wohlstand im Wirtschaftswunderland, war Symbol der Freiheit und Ausdruck von Individualität. Jeder, der es sich leisten konnte, wollte ein Auto. Und jedes Auto wollte Straßenraum.
Zahl der zugelassenen Fahrzeuge wuchs exponentiell
Exponentiell wuchs die Zahl der zugelassenen Fahrzeuge in Hamburg: Waren 1950 nur 23.473 Pkw angemeldet, zählte man 1960 schon 175.321 Pkw und 1970 sogar schon 433.079 Autos. Heute sind übrigens fast 800.000 Personenkraftwagen in der Hansestadt zugelassen.
Die Ausbaupläne von 1970 definieren viele ältere Ideen, die nun endlich in Beton gegossen werden sollten. Darunter befindet sich – aus heutiger Sicht geradezu grotesk – eine Autobahn unterhalb der Alster. Für diese Route gab es verschiedene Varianten: Sie sollte zunächst an der Sechslingspforte beginnen und bis Pöseldorf führen, dann sollte sie auf der Uhlenhorst starten und an der Rabenstraße enden oder an der Alsterchaussee. Diese Kerntangente mitten durch Harvestehude und Winterhude sollte die Kennedybrücke und die Ost-West-Straße entlasten. Bestehende Gebäude spielten keine Rolle.
„Schneller als erwartet wird es in Hamburg eine Stadtautobahn geben“, titelte das Hamburger Abendblatt am 21. Februar 1970. „Nach langwierigen Verhandlungen mit dem Bundesverkehrsministerium kann der größte Teil des Streckennetzes mit Hilfe von Bundesmitteln ausgebaut werden.“ Der Senat habe den Plänen von Otto Sill zugestimmt. Seine Vision von kreuzungsfreien Straßen, die als Hochstraßen oder Tunnel sich zweistöckig durch die Stadt winden, schien endlich wahr zu werden. Ganze Fleete wie der Isebekkanal sollten unter einer Asphaltdecke verschwinden.
Automobiles Wolkenkuckucksheim
Der Wallring sollte mit Hochstraßen und Tunneln entlastet werden. Zudem sollte ein Autobahnkreuz West an der Osdorfer Landstraße bis ins Schanzenviertel verlängert werden. Während die A 7 schon im Bau war, sollte der Osten ebenfalls eine Tangente von der A 1 bis zur A 7 bekommen. Beginnend in Moorfleet sollte diese Stadtautobahn über den Horner Kreisel, Wandsbek zur City Nord und dann weiter über den Flughafen Fuhlsbüttel bis zum „Düsenflughafen Kaltenkirchen“ führen. Schon 1980, versprach Sill, werde ein bedeutender Teil verwirklicht sein. Tatsächlich wurde manches (aus)gebaut wie die Bundesstraßen 73 und 75 durch Harburg.
Vieles aber blieb ein automobiles Wolkenkuckucksheim: Das Scheitern hatte gleich mehrere Gründe: Zum einen bremste die Ölkrise nicht nur die Wachstumseuphorie, sondern auch die Wirtschaft aus. Zum anderen begann den Planern zu dämmern, dass neue Straßen die Stauprobleme nicht lösten, sondern noch verschärften – neue Straßen ziehen neue Autos an. 1973 beauftragte der Senat die Architekten von Gerkan, Marg und Partner mit einem städtebaulichen Gutachten „Hamburg – Bauen am Wasser“. Als die Ergebnisse vorlagen, war klar, dass Fleete eben keine natürlichen Stadtautobahnen sind, sondern Wasseradern im Stadtorganismus.
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In jenen Jahren änderte sich auch das Denken der Bürger – auch im Nachgang zu der 68er-Bewegung. Staatliches Handeln wurde nicht nur kritischer aufgenommen, sondern aktiv von Bürgerinitiativen bekämpft. In einem Bericht der „Zeit“ von 1973 unter dem schönen Titel „Bürger gegen Beton“ wird ein junger Widerstandskämpfer aus Winterhude zitiert: „Es ist der Tick dieser Aufbaugeneration aus der Nachkriegszeit – sie kann nicht aufhören.“
Unterstützung bekamen diese Bürgerinitiativen schließlich von der Wirtschaftsflaute – sie ließ die Steuereinnahmen wegbrechen und zwang den Staat, sich zu bescheiden. „Von ‚Stadtautobahn‘ ist überhaupt keine Rede mehr“, klagte das Abendblatt im Frühjahr 1979. „Das ist heute ein Reizwort wie Kernkraftwerk.“ Auch Stadtplaner sahen das Heil bald nicht mehr in immer mehr Beton, sondern einer behutsamen Stadterneuerung.
Wer die damaligen Pläne von 1970 mit der Realität von heute vergleicht, sieht große Lücken. Die Länge der Autobahnstrecken in der Stadt beträgt derzeit 82 statt 135 Kilometer, der zweite Elbtunnel am Baumwall ist ebenso ein Treppenwitz der Geschichte geblieben wie der Alstertunnel. Aber wer weiß, was Stadtplaner in 50 Jahren von unserem heutigen Denken halten.