Hamburg. Spezialeinheit sucht verschwundene Kinder, Jugendliche und „Altfälle“, wie einen seit sechs Jahren verschollenen Radfahrer.
In den kommenden Tagen, vermutlich am 9. April, wird Paul Schulz offiziell für tot erklärt, auf den Tag genau sechs Jahre, nachdem der 79-Jährige mitten in Hamburg spurlos verschwand. Das mag versicherungsrechtlich von Interesse sein, vielleicht auch wichtig für die Angehörigen. Jens Buck (59) interessiert das nicht. Denn für den Ersten Kriminalhauptkommissar ist ein Fall erst dann kein Fall mehr, wenn der Vermisste gefunden worden ist. Und danach sieht es hier nicht aus.
Der Ermittler und seine Kollegen haben unfassbar viel Zeit und Energie in die Suche nach Schulz investiert, ohne einen Schritt voranzukommen. Schulz ist und bleibt wie vom Erdboden verschluckt. Es ist wie verhext. „Natürlich belastet es schon, wenn man sich so in einen Fall verbeißt und sich kein Ermittlungserfolg einstellt“, sagt Jens Buck.
Fall Paul Schulz gehört zu den rätselhaftesten Fällen
Im Hamburger Landeskriminalamt leitet Buck die Sachgebiete 441 (Kommissionsermittlungen) und 442 – so heißt die am 1. Dezember 2020 neu geschaffene Spezialstelle für Langzeitvermisste und Altfälle mit zehn erfahrenen Beamten – in ihr ist auch die mit ungeklärten Kapitalverbrechen befasste Soko „Cold Cases“ aufgegangen.
Der Fall Paul Schulz gehört zu den rätselhaftesten Fällen, die Buck – einst Chef des Raubdezernats -- in seinen 44 Jahren bei der Polizei untergekommen sind. Am 9. April 2015 sehen Schulz und seine Ehefrau im Winterhuder Fährhaus zunächst ein Theaterstück, danach radeln sie nach Hause zurück, ins neun Kilometer entfernte Hummelsbüttel.
Anfang 2020 übernimmt das LKA 44 den Fall
Auf Höhe der Kreuzung Am Karpfenteich/ Josthöhe schlägt Schulz einen anderen Weg ein als seine Frau und fährt weiter in Richtung Ring 3. Dass die beiden verschiedene Routen nehmen auf den letzten Metern, ist nicht ungewöhnlich, finden die Ermittler später heraus. Als der 79-Jährige aber um 2.30 Uhr noch immer nicht zu Hause eingetroffen ist, alarmiert seine Frau die Polizei. Doch die findet: nichts, nicht einmal sein Fahrrad, ein schwarz-silbernes Damenrad der Marke Kettler. Auch in den Wochen, Monaten und Jahren danach: nichts.
Anfang 2020 übernimmt das LKA 44. Noch einmal lassen die Ermittler ein nahe gelegenes Gewässer mit Tauchern absuchen. Sie ermitteln in Henstedt-Ulzburg, wo der Vermisste aufgewachsen ist. Sie besuchen Schulz’ Sohn in Mainz, sie sprechen wieder und wieder mit der Familie und Bekannten.
Beamte öffnen Dutzende alte Verkehrsunfallakten
Und sie öffnen Dutzende alte Verkehrsunfallakten. Ein Beamter nimmt, weil es einen Zusammenhang geben könnte, sogar das Stück („Anderthalb Stunden zu spät“), das Schulz und seine Frau an jenem Abend sahen, noch einmal unter die Lupe. Gibt es Parallelen zur Lebenssituation des Rentners? Doch auch jetzt, nach fünf Jahren, mehreren Öffentlichkeitsfahndungen (zuletzt im August 2020) und Plakataktionen, fehlt von dem Mann jede Spur. Anhaltspunkte für eine Straftat? Bisher keine.
Die Stelle für Langzeitvermisste wird erst dann aktiv, wenn Hinweise auf eine Straftat vorliegen oder eine Gefahr für Leib und Leben bejaht werden kann – Letzteres war im Fall Paul Schulz keine Hürde. Der 79-Jährige hat eine leichte Demenz und einen Herzschrittmacher, dessen Batterien längst hätten gewechselt werden müssen.
Bei Kindern geht die Polizei grundsätzlich von einer akuten Gefahrenlage aus
Bei vermissten Kindern hingegen geht die Polizei grundsätzlich von einer akuten Gefahrenlage aus, „dann klingelt das Telefon sofort bei uns“, sagt Buck. Bei sang- und klanglos verschwundenen Jugendlichen nehmen die Beamten nach Absprache mit den örtlich zuständigen Wachen nach zehn Tagen und bei Erwachsenen die Suche nach vier Wochen auf.
Die meisten Vermisstenfälle von Kindern und Jugendlichen klären sich indes binnen weniger Stunden oder Tage auf – hier hilft die Alltagstechnik weiter. So spürten die Hamburger Ermittler vor wenigen Wochen per Handy-Ortung ein Mädchen auf, das über Dänemark in seine frühere Heimat Schweden ausgebüxt war. Wie sich herausstellte, hatte die 14-Jährige Heimweh. Inzwischen ist sie wieder zurück in Hamburg.
Immer wieder kommt es vor, dass Hamburger abtauchen
Gerade bei jüngeren Vermissten, sagt Buck, sei die Durchsicht der sozialen Netzwerke ein vielversprechender Ermittlungsansatz. TikTok, Snapchat, Facebook, Instagram – häufig finde sich dort schon ein Hinweis, ein verräterisches „Selfie“ auf einem Strand etwa könne Bände sprechen.
Nutzen hingegen Erwachsene nach ihrem Verschwinden weiter fleißig ihre Kredit- und Kontokarten, kann das auch ein Hinweis darauf sein, dass sich die vermeintlich Vermissten woanders eine neue Existenz aufbauen wollen. Immer wieder, so Buck, komme es vor, dass Hamburger abtauchen, ohne darüber ein Wort zu verlieren. Das mag moralisch verwerflich sein, gegenüber Verwandten und Freunden geradezu brutal – strafbar ist es jedoch nicht.
94 Fälle von Langzeitvermissten
Derzeit hat Bucks Team 94 Fälle von Langzeitvermissten in „näherer Betrachtung“. Auch ein Altfall aus den 90er-Jahren ist nun wieder auf dem Tisch der Ermittler gelandet. Damals verschwand ein junger Hamburger spurlos, es gab Hinweise, dass eine Sekte damit etwas zu tun haben könnte. Viel dürfe er aktuell noch nicht dazu sagen, so Buck. „Aber wir prüfen noch einmal genau, was es mit diesem Sektenbezug auf sich hat. Wir sind da auf einem guten Weg.“
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Insgesamt gelten seit Anfang der 1980er-Jahre laut BKA-Datenbank – Stand: Juni 2020 – 588 Männer, Frauen und Kinder aus Hamburg als vermisst. Zu ihnen gehört auch Hilal Ercan, die Zehnjährige verschwand am 27. Januar 1999 spurlos, zuletzt gesehen wurde sie im Luruper Einkaufszentrum „Elbgaupassage“. Es folgte die größte Suchaktion der Nachkriegsgeschichte. Vergessen ist ihr Schicksal bis heute nicht: Auf der Suche nach dem Kind gruben Beamte im September 2018 nach einem Zeugenhinweis Teile des Volksparks um.
Grundsätzlich habe jeder Vermisstenfall seine ganz eigenen, spezifischen Facetten, stets werde „in alle Richtungen ermittelt“, sagt Buck. Das sei keine Floskel. Stecke sein Team bei den Ermittlungen in einer Sackgasse, kämen beim „Brainstorming“ mitunter ganz unorthodoxe Ideen aufs Tapet.
Die Suche gleicht einer Schnitzeljagd
Die Suche selbst gleiche einer Schnitzeljagd. Aus unterschiedlichsten Quellen – etwa Archiven und alten Akten – müssten Informationen zusammengetragen und (neu) bewertet werden. „Wir müssen immer mit Wahrscheinlichkeiten und Hypothesen arbeiten“, sagt Buck.
Natürlich bedeute „in alle Richtungen ermitteln“ auch, dass regelhaft geprüft werde, ob das nähere Umfeld des Vermissten mit seinem Verschwinden zu tun haben könnte. Vermisstenfälle erforderten immer viel Fingerspitzengefühl – gerade im Umgang mit den Angehörigen. Durch welche Hölle sie über Jahre und Jahre gehen müssen, es lässt sich kaum ermessen.