Hamburg. Die Polit-Ökonomin und Sachbuch-Bestsellerautorin Maja Göpel baut The New Institute in Hamburg auf.
Schon in normalen Zeiten gleicht der Aufbau eines neuen Instituts einem Kraftakt – in Zeiten der Pandemie wird er zur Herkulesaufgabe. Maja Göpel, Polit-Ökonomin und Politikberaterin, ist eine wissenschaftliche Direktorin des New Institute, das Erck Rickmers in der Warburgstraße ansiedeln wird.
Derzeit muss Göpel den neuen Thinktank aus dem Homeoffice in Brandenburg aufbauen, mit Videokonferenzen und eingeschränkter Mobilität. Hamburg kennt die 44-Jährige gut, hier hat sie studiert und im Weltzukunftsrat mitgearbeitet. „Mich locken das Institut, die Vision, der Job - und auch die Stadt“, sagt sie im Interview per Video.
Hamburger Abendblatt: Sie werden in diesem Jahr mit dem Erich-Fromm-Preis ausgezeichnet. Ihr Buch „Unsere Welt neu denken“ gehört zu den „Spiegel“-Jahresbestsellern. Besser könnte es für Sie im Moment nicht laufen ...
Maja Göpel: Im Hinblick auf die Offenheit der Menschen für meine Botschaften trifft das zu. Besonders interessant ist, warum sie genau jetzt ankommen. Mache ich irgendwas anders? Ist das Thema jetzt angewärmt genug? Liegt es am Zeitpunkt? Wahrscheinlich ist es die Kombination aus allem.
Sie haben einmal gesagt, das neue Institut will der Erklärbär sein …
Göpel: Wir diskutieren noch unterschiedliche Missionen von Wissenschaft in Gesellschaft. Für mich ist der Erklärbär direkt abgeleitet aus der Nachfrage, die die „Scientists for Future“ ausgelöst haben.
Die Sie 2019 mitbegründet haben.
Göpel: Genau. Wir haben damals gemerkt, dass die Forderungen der jungen Leute von der Politik nicht ernst genommen wurden. Dabei berufen sie sich auf unsere wissenschaftlichen Studien. Die Forderungen mögen zwar radikal klingen. Das liegt aber eher daran, dass Politik und Gesellschaft zu lange gewartet haben, den Klimawandel ernst zu nehmen – und nicht daran, dass die Analysen falsch sind. Nach der Gründung und Pressekonferenz haben wir viele Nachfragen von Initiativen bekommen, die mehr Studien, Zusammenhänge oder auch Bewertungen von Vorschlägen nachgefragt haben. In dieser sehr politisierten Zeit zu versuchen, diese Sachen verständlich zu erklären – das ist der Erklärbär. Darüber hinaus wollen wir natürlich auch relevante neue Ideen entwickeln.
Was hat Sie denn besonders an das Institut gelockt?
Göpel: Das Institut widmet sich tatsächlich „meinen Themen“: Es betrachtet Menschen als Gestalter ihrer Zukunft, blickt auf die Qualität von Veränderungsprozessen und liefert eine zukunftsgewandte ökonomische Perspektive. Außerdem ist es international ausgerichtet und sehr stark an der Vermittlung orientiert. Das ist ein unglaubliches Geschenk! Ich stand immer mit einem Bein im akademischen Bereich und mit einem Bein in der Gesellschaft. Ich bin oft an die Universität zurück, weil ich nachdenken und reflektieren wollte, was ich erlebt habe. Diese Herangehensweise als Grund-DNA in ein Institut einzubauen ist neu – vor allem im deutschen Raum. Deshalb finde ich die Vision von Herrn Rickmers fantastisch.
Bis zu 35 Fellows aus Wissenschaft, Kultur, Wirtschaft, Politik, Aktivismus und den Medien sollen am New Institute einmal leben und arbeiten. Über welche Fellows freuen Sie sich denn besonders?
Göpel: Ich freue mich sehr auf die Zeit mit dem Philosophen Markus Gabriel, der im Sommer für ein Jahr kommt. Er wird sich am New Institute mit Werten und Wertungen auseinandersetzen. Das ist der Schritt von der Ethik und der Philosophie in die Ökonomie. Ich suche im Bereich Ökonomie noch nach Leuten, mit denen ich gerne zusammenarbeiten möchte, und führe erste Gespräche. Eine Koryphäe ist der Ökonom Tim Jackson mit seiner Arbeit zu neuen Wohlfahrtsmodellen, aber ich bin auch mit zwei tollen Professorinnen aus dem globalen Süden im Kontakt. Ökonomie-Fellows kommen dann erst 2022.
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Kommen wir zu den Fragen, die sich das Institut stellt. Eine lautet: Wie kann ein nachhaltiges Wertesystem für das 21. Jahrhundert aussehen?
Göpel: Dazu sollten wir uns folgende Fragen stellen: Worum geht es im Leben und im Zusammenleben? Was macht Lebendigkeit aus? Wir waren so fixiert auf Technologieentwicklung, es gab eine Faszination für die Finanzmärkte – dabei entsteht dort im Zweifel nichts, was Menschen besser leben lässt. Lange wurde nicht kritisch hinterfragt, wie die Digitalisierung uns dienen kann, ökologische und soziale Probleme zu lösen. Die Zukunft erscheint durch die Corona-Krise plötzlich sehr offen. Die Rückbesinnung auf das Wesentliche schiebt sich nach vorne: Worum geht es in zukünftigen Wirtschaftssystemen? Haben wir im Fokus auf immer mehr, immer schneller, immer weiter nicht irgendwo den Kompass verloren?
Das klingt nach einer Abkehr von dem Wachstumsdenken. Ist das die Ökonomie, die wir lernen müssen?
Göpel: Wir haben dieses Wort „Wachstum“ dermaßen entkernt, dass es alles bedeutet und platt mit „besser“ assoziiert wird. Aber einen Krebs, die CO2-Emissionen oder die Corona-Infektionen beispielsweise weiterwachsen zu lassen wäre wirklich nicht positiv. Wir tun uns einen großen Gefallen, wenn wir den Begriff Wachstum aus dem Diskurs verbannen und Worte nutzen, die konkreter ausdrücken, wo wir hinsteuern wollen. Welche Form von ökonomischer Aktivität soll stattfinden und wie wollen wir sie bilanzieren und finanzieren?
Wie sollen wir dann den ökonomischen Erfolg messen?
Göpel: Der Frage nach ökonomischem Erfolg ist eine Verständigung über Fortschritt im 21. Jahrhundert vorgeschaltet. Heute gelten ja viele Entwicklungs- und Geschäftsmodelle als ökonomisch „erfolgreich,“ deren ökologische und soziale Kosten nicht ehrlich bilanziert werden. Hohes menschliches Wohlergehen und gute Gesundheit für bis zu 10 Milliarden Menschen herzustellen, ohne dass die Ökosysteme aus der Balance kippen, wäre zum Beispiel so eine Formel. Die haben wir auch in etwa so in den globalen Nachhaltigkeitszielen definiert. Auf ihre Erreichung sollten wir wirtschaftliche Rahmenbedingungen ausrichten, sodass ökonomischer Erfolg und Fortschritt besser zusammenfinden. Denn diese Strukturen, wie unsere oft beschworenen Märkte, sind weder Naturgesetze noch neutral. Wir können sie verändern.
Sie sind Transformationsforscherin – was ist darunter zu verstehen?
Göpel: Die Transformationsforschung befasst sich nicht nur mit schrittweisen Anpassungen wie zum Beispiel Effizienzsteigerungen, sondern mit strukturellen Veränderungen von menschgemachten Systemen. Das macht sie so interessant. Die Transformationsforschung fängt an einem konkreten Problem an und betrachtet es aus unterschiedlichen Perspektiven, also ganzheitlich. Die Fragen der Nachhaltigkeit zum Beispiel kriegen wir nicht mit einer Disziplin gelöst. Sobald es um gesellschaftliche Veränderungen geht, brauche ich die Sozialwissenschaften genauso wie die Naturwissenschaften und Ingenieure. Ich benötige aber auch ein ökonomisches Denken, denn das koordiniert menschliche Kooperation. Mit unterschiedlichen Personen und verschiedenen „Brillen“ auf ein Problem zu schauen, bietet oft neue Ideen zu dessen Überwindung. Das finde ich unglaublich spannend!
Sie selbst wuchsen mit mehreren Familien in einem ökosozialen Gemeinschaftshaus in einem Dorf nahe Bielefeld auf. Könnten solche Gemeinschaftshäuser Teil der Transformation sein?
Göpel: Viele der Konzepte der Kreislaufwirtschaft oder der Sharing-Economy sind viel einfacher zu organisieren, wenn es kleinere Räumlichkeiten gibt. Wenn wir zum Beispiel nicht anfangen, die Städte und ihr Umland anders zu denken, dann werden wir auch in Zukunft viel auf Pkws angewiesen sein und vollgeparkte Städte behalten. Oder die Corona-Krise: Es braucht ein Netzwerk, um Kinder weiter angemessen zu unterstützen. Wir kooperieren gerade zwischen drei Familien, weil sonst alle meschugge werden. Eine vielfältige Gruppe, die sich einer Aufgabe gemeinsam stellt, ist oft Teil neuer Lösungen. Nachdem wir stark globalisiert und individualisiert haben, ist die Suche nach dem Netzwerk und der Zugehörigkeit eine natürliche Gegenbewegung. Wir müssen also unsere Lebensform anpassen.
Ist das die zentrale Stellschraube für Transformation?
Göpel: Wir haben schon immer unsere Lebensformen verändert. Wir sind nicht die gleichen Menschen, die wir vor 150 Jahren waren. Wir sehen anders aus, essen andere Nahrungsmittel, nutzen andere Informationen, haben andere Bildungssysteme. Transformation ist immer auch ein Ergebnis solcher Anpassungen, und der Begriff beschreibt erst einmal Phasen tiefer struktureller und kultureller Veränderung, wertneutral. Das Dritte Reich oder Donald Trump als Präsident waren auch ziemlich transformativ. Fragen wir nach Transformationen für Nachhaltigkeit, ist eine ehrliche Auseinandersetzung mit den Naturgesetzen unserer Erde zentral. Eine Ausgangsfrage lautet dann: Was ist der Homo sapiens der Zukunft? Wer wollen wir sein, wenn es um die Gestaltung der Lebensräume und -erfahrungen der Zukunft geht? Da streite ich mich mit einigen vermeintlich liberalen Ökonomen. Dass wir immer gleich sind, mit immer gleichen Präferenzen des „mehr für mich selbst“, das können die evolutionär und historisch interessierte Sozialwissenschaft und die Psychologie nicht bestätigen.
Menschen tendieren dazu, an Traditionen festzuhalten. Macht Transformation Angst, weil sie mit Veränderungen verbunden ist?
Göpel: Auf jeden Fall! Dazu ist die eigene Position im aktuellen System sehr wichtig: Für manche ist eine Transformation zur Nachhaltigkeit vielversprechend, für andere mit einem Verlust von Privilegien verbunden. Drei Milliarden Menschen auf diesem Planeten müssen hungern, weil sie nicht genug haben. Der Kontext entscheidet, ob ich die Veränderung für mich als einen Zugewinn wahrnehme – oder sie sich wie ein Verlust anfühlt. Woran wie uns gewöhnt haben, möchten wir oft nicht abgeben. Erst recht nicht, wenn es uns von außen genommen wird oder wir das Gefühl haben, dass andere nicht mitziehen. Dann fühlt sich das Leben fremdgesteuert und die Entscheidungen ungerecht an. Deshalb ist Transformation in konkurrenzorientierten Gesellschaften oft viel beängstigender. Es ist beklemmend, den Job zu verlieren und kein sicheres Einkommen mehr zu haben, wenn ich nicht darauf vertraue, weiter an der Gemeinschaft teilhaben zu können. Daher gehen soziale und ökologische Fragen immer zusammen.
Ist Transformation eigentlich ein eher linkes Projekt?
Göpel: Die Nachhaltigkeitsorientierung würde ich nicht mehr im linken Lager verorten. Alle haben verstanden, dass es um Sicherheitsfragen, Risikokalkulationen und zukünftige Wertschöpfungsketten sowie die Welt unserer Kinder und Enkel geht. Die Gruppen, die Umweltschutz und den Klimawandel für irrelevant halten, sind sehr geschrumpft.
Corona ändert gerade für viele Menschen alles. Erschwert die Pandemie die Bereitschaft zu Veränderungen? Oder macht sie manches so leichter?
Göpel: Das ist offen. Umfragen zeigen weiter die Lücke zwischen Überzeugung und eigener Veränderung. In Deutschland etwa haben 80 Prozent der Befragten angegeben, dass sie sich ein nachhaltigeres und inklusiveres Deutschland nach der Krise wünschen. Einen anderen Lebensstil wollten sich aber nur 50 Prozent aneignen. Die Verteilungseffekte der Corona-Maßnahmen, der Pleitewellen und der wahnsinnigen Krisengewinne werden sich noch zeigen. Es bedarf meines Erachtens eines Lastenausgleichs. Dabei sollte es darum gehen, Chancengleichheit und Diversität zu erhalten sowie soziale Schieflagen zu korrigieren. Sonst schlägt das Gefühl von Ungerechtigkeit in Zynismus oder Wut um. Im Bereich der Pflege sind wir da nah dran.
Welche Erkenntnisse können wir denn aus der Corona-Krise mitnehmen?
Göpel: Systemisches und vorausschauendes Denken. Vorausschauendes Handeln kann drastischere Maßnahmen in der Zukunft verhindern. Ich sehe noch niemanden mit Corona sterben oder durch Wasserknappheit verdursten, und doch ergibt es Sinn, jetzt zu handeln und die Kurve der Infektionen oder CO2 Emissionen zu senken. Wir haben zudem gesehen, dass die nationale Agenda bei den großen Fragen nicht funktioniert. Grenzen sind durchlässig. Weder CO2 noch das Virus macht an Grenzen Halt. Wenn wir es schaffen, diese Erkenntnisse aus der Krise mitzunehmen, kann man ganz anders über gutes Regieren diskutieren.
Sie haben gesagt: „Verbote können uns befreien“. An welche Verbote denken Sie da?
Göpel: Mir als Konsumentin wird momentan vermittelt, dass es meine Aufgabe oder gar Freiheit ist, sämtliche Konzerne der Welt mit meinem Einkaufsverhalten zu kontrollieren. Dabei ist es Aufgabe des Staates, das Gemeinwohl zu sichern. Das ist wie eine Art TÜV: Es sollten nur die Produkte zugelassen werden, mit denen wir den Planeten nicht unnötig stark belasten und deren Preis nicht auf Menschenrechtsverletzungen beruht.
Käme eine S-Klasse durch diesen TÜV?
Göpel: Wenn die S-Klasse einen ausreichend ambitionierten CO2-Standard einhält und den Prinzipien einer Kreislaufwirtschaft entspricht, natürlich. Aber wenn man Ingenieuren die Aufgabe gäbe, gute verlässliche, individuelle Mobilität mit minimalem ökologischem Fußabdruck und der höchsten sozialen Vereinbarkeit zu entwickeln, dann würden die Entwickler sicher nicht auf die heutige Ansammlung von primär stehenden Blechbüchsen kommen. Vom Antrieb bis zur Karosserie bis zur Kombination verschiedener Fortbewegungsmittel oder der Planung von Städten würde der Fokus vom Produkt auf Dienstleistungen gelenkt: Wie bediene ich das Mobilitätsbedürfnis der Menschen mit möglichst geringen Nebenwirkungen?
Mit welchem Gefühl blicken Sie auf die Bundestagswahl im September?
Göpel: Diese Wahl wird total interessant, weil wir alle gerade hinter unseren Laptops eingesperrt sind und die zivilgesellschaftliche Energie nicht zum Tragen kommt. Mir geht es zumindest so. Man erzählt immer irgendwas in dieses kleine rechteckige Gerät und sieht gar nicht, wie es ankommt oder wer vielleicht eine Anschlussidee hätte. Richtig ermutigt war ich, als ich als Expertin bei dem Bürgerdialog „Deutschlands Rolle in der Welt“ mitwirken durfte.
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Göpel: Ich war in der Gruppe, die sich mit den Themen Nachhaltigkeit und Klima beschäftigt. Da kamen sehr informierte und kritische Nachfragen. Diese Ehrlichkeit zu sagen, es muss sich echt viel ändern und wir sind bereit, viel zu ändern, hat mir viel Mut gemacht. Wir unterschätzen die Kreativität und Veränderungsbereitschaft, die sich freisetzen lässt, wenn Menschen eingeladen und in ihren Anliegen ernst genommen werden – also die Transformation mitgestalten.