Hamburg/Köln. Gutachten wirft Stefan Heße Verfehlungen im Missbrauchsskandal vor. Erzbischof hat Amt de facto niedergelegt – Nachfolge noch offen.
Dies hat es so in der Katholischen Kirche Deutschlands noch nicht gegeben: Der Hamburger Erzbischof Stefan Heße hat Papst Franziskus am Donnerstagabend gebeten, ihn mit sofortiger Wirkung von seinen Aufgaben zu entbinden. Zuvor hatten Gutachter ihm vorgeworfen, in seiner Zeit als Generalvikar des Erzbistums Köln bei der Vertuschung von Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch katholische Priester mitgewirkt zu haben.
In dem nur Stunden zuvor veröffentlichten Bericht werden Heße, der bis 2015 Generalvikar und Personalchef in Köln war, elf Pflichtverletzungen zur Last gelegt. Bei sieben von ihnen handele es sich um nicht ordnungsgemäß gemeldete Missbrauchsfälle, so die mit der Prüfung beauftragten Strafrechtler.
Erzbischof Heße hat sein Amt de facto bereits niedergelegt
Heße hat sein Amt de facto bereits niedergelegt: Generalvikar Ansgar Thim leitet ab sofort kommissarisch das katholische Erzbistum Hamburg. In der Leitung des Erzbistums wird der 63-Jährige durch Alexander Becker, den Verwaltungsdirektor des Erzbistums, und Weihbischof Horst Eberlein unterstützt. Im Rahmen seiner neuen Aufgabe hat Generalvikar Thim bereits erste Termine wahrgenommen.
Der Erzbischof Heße nehme keine Termine mehr wahr, sagte ein Sprecher am Freitag. Es gilt als wahrscheinlich, dass Papst Franziskus Heßes Rücktrittsgesuch annimmt. Sollte das der Fall sein, müsste der Papst in der nächsten Zeit einen Nachfolger für Stefan Heße benennen.
Heße hatte den in Mecklenburg-Vorpommern geborenen Thim 2015 zu seinem Generalvikar ernannt. Zum Erzbistum Hamburg gehören knapp 400.000 Katholiken in Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg.
Erzbischof Heße: "Mir ist bewusst, dass ich Fehler gemacht habe"
Heße betonte in seiner Online-Stellungnahme, sich nie an Vertuschung beteiligt zu haben. Gleichwohl räumte er ein: „Bei allem war und ist mir bewusst, dass ich dabei Fehler gemacht habe – denn niemand ist fehlerfrei, auch ich nicht. Erst recht mit dem Blick von heute werden mir damalige Fehler bewusst“, so Heße.
Er bedaure, wenn er durch sein Handeln beziehungsweise sein Unterlassen Betroffenen und ihren Angehörigen neuerliches Leid zugefügt haben sollte. Mit dem Schritt, sein Amt zur Verfügung zu stellen, wolle er Schaden vom Amt des Erzbischofs sowie vom Erzbistum Hamburg abwenden.
Heße wendet sich an Gemeinden
Mit einem öffentlichen Brief wandte sich der Erzbischof auch an seine Gemeinden im Bistum. Darin begründete er nochmals seine Entscheidung. „Wesentlich ist für mich, dass ich mich der Verantwortung für mein damaliges Handeln stelle. Jetzt, wo die Dinge endlich auf dem Tisch liegen, kann und will ich mich ihnen entschlossen und direkt stellen. Ich übernehme meine Verantwortung für damalige Fehler und das Versagen des Systems“, heißt es in dem Schreiben.
Zu seiner persönlicher Zukunft bemerkte er: „Ich weiß heute nicht, wie mein Weg als Mensch, als Christ und als Seelsorger nun weitergehen wird. Ich habe keinen Plan B in der Tasche.“
Die Gutachter Björn Gercke und seine Kollegin Kerstin Stirner zeichnen in ihrem 800-Seiten-Bericht ein düsteres Bild von den Verhältnissen im Erzbistum Köln. Die Auswertung der Akten von 1975 bis 2018 habe unter anderem ergeben, „dass sich Jahrzehnte offenbar niemand getraut hat, solche Fälle (von Kindesmissbrauch) zur Anzeige zu bringen“, kritisierte Gercke.
„Im Erzbistum Köln gab es immer wieder Bestrebungen von einzelnen Verantwortungsträgern, Fälle sexuellen Missbrauchs nicht öffentlich werden zu lassen.“ Die Co-Gutachterin Stirner warf Heße in einem Fall bewusste Vertuschung vor: „Da wissen wir aus den Akten, dass ein Protokoll bewusst nicht gefertigt wurde.“
Tag der Wahrheit für Hamburgs Erzbischof
Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) Hamburg hatte schon im Vorwege gefordert, dass Heße sein Amt ruhen lassen soll. Zu den neuen Erkenntnissen sagte die BDKJ-Vorsitzende Joana Düvel: „Die Ergebnisse sind einerseits schockierend und bestätigen andererseits nur unsere Befürchtungen.“ Da bei dem Gutachten nur auf Aktenbasis gearbeitet werden konnte, sei davon auszugehen, dass das wirkliche Ausmaß noch viel größer sei. Der BDKJ fordert, das sämtliche relevanten Archive in allen deutschen Bistümern und Orden für Aufarbeitungen geöffnet werden.
Erzbischof Rainer Maria Woelki kündigte als erste Konsequenz aus dem Gutachten an, dass Weihbischof Dominikus Schwaderlapp und der Offizial (Leiter der Rechtsabteilung eines Bistums) Günter Assenmacher mit sofortiger Wirkung beurlaubt werden.
Woelki lasten die Experten keine Pflichtversäumnisse an
Weihbischof Schwaderlapp erklärte: Die Untersuchung halte ernste Versäumnisse fest, die er zu verantworten habe. „Tiefer noch beschämt mich, zu wenig beachtet zu haben, wie verletzte Menschen empfinden, was sie brauchen und wie ihnen die Kirche begegnen muss. Das ist ein Versagen als Seelsorger und als Mensch.“ Daher biete er Papst Franziskus seinen Amtsverzicht an und bitte Erzbischof Woelki um Beurlaubung.
Im Gegensatz zu Stefan Heße und Schwaderlapp wurde Kardinal Woelki in dem Gutachten ausdrücklich entlastet. Bei ihm seien keine Pflichtverletzungen feststellbar gewesen, hieß es. Was Woelkis jüngst kritisierten Umgang mit den Missbrauchsvorwürfen des Priesters O. anging, seien sie zu der Ansicht gelangt, dass kein Pflichtverstoß vorliege, da der beschuldigte Priester nicht mehr vernehmungsfähig gewesen sei, als die Vorwürfe bekannt wurden.
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Schwerer noch als die Pflichtverstöße wiegt, wie wenig die Gutachter aus 236 überprüften Aktenvorgängen mit 243 Beschuldigten und mindestens 386 von Missbrauch betroffenen Menschen belastbar feststellen konnten.
Wichtig zu wissen: Die Aufgabe der Gutachter war es nicht, Missbrauchsfälle aufzuklären. Sie sollten „nur“ feststellen, ob die Verantwortlichen damit pflichtgemäß umgegangen sind.
Nicht feststellbar, ob Bestandteile der Akten vernichtet worden sind
Doch selbst das lässt sich nach ihrer Auffassung nur unzureichend nachvollziehen. Die Aktenführung des Erzbistums weise über Jahrzehnte nicht einmal Seitenzahlen auf, sodass niemand heute feststellen kann, ob Bestandteile der Akten vernichtet worden sind. Dokumentiert sind allerdings im Untersuchungszeitraum zwischen 1975 und 2018 zwei größere Aktionen von Aktenvernichtung – die allerdings wiederum den damaligen Vorschriften entsprachen.
Aus dem erhaltenen Material jedoch lasse sich der Wille der Betroffenen herauslesen, die Institution Kirche und vor allem die Priester zu schützen – auf Kosten der Missbrauchsopfer: „Brüder im Nebel“, so hatte Kardinal Meisner vielsagend ein Konzentrat der „Giftakten“ des Erzbistums beschriftet, das er persönlich bewachte.
Mit Laien, die sich Missbrauchstaten zuschulden kommen ließen, sprang das Erzbistum anders um. Dort gab es keine Pflichtverletzungen, in diesen Fällen reagierte das Erzbistum konsequent, zügig und pflichtgemäß mit Entlassungen oder Sanktionen.
Gutachter mochten nicht von „systematischer Vertuschung“ durch Erzbistum sprechen
Dennoch mochten die Gutachter nicht von einer „systematischen Vertuschung“ durch das Erzbistum sprechen, es gebe aber wegen fehlender Verfahrenswege und klarer Zuständigkeiten eine „systembedingte Vertuschung“.
In immerhin 24 in den Akten dokumentierten Vorgängen lassen sich nach Auffassung der Gutachter dennoch mehr 75 Pflichtverletzungen nachweisen, die vor allem der Führungsetage anzulasten sind.
Als „Pflichtverletzung“ definierten die Gutachter Versäumnisse bei der Aufklärung, fehlende Anzeigen bei kirchlichen und weltlichen Behörden, Verzicht auf Sanktionen, Verzicht auf Prävention weiterer Taten und Versäumnisse bei der Opferfürsorge.
Woelki: Ich habe diesen Tag herbeigesehnt und ich habe diesen Tag gefürchtet
Bei dem mittlerweile verstorbenen Amtsvorgänger Woelkis, Erzbischof Höffner (1969–1987), stellten die Gutachter acht Pflichtverletzungen fest. Höffners ebenfalls bereits verstorbener Nachfolger Kardinal Meisner (1989–2014) war sogar für fast ein Drittel der Pflichtverletzungen verantwortlich. Versäumnisse sehen die Gutachter zudem bei den ehemaligen Generalvikaren (Leiter der Bistumsverwaltung) Norbert Feldhoff (13 Fälle) und Dominikus Schwaderlapp, Generalvikar von 2004 bis 2012.
„Ich habe diesen Tag herbeigesehnt und ich habe diesen Tag gefürchtet wie nichts anderes“, sagte Erzbischof Woelki bei der Übergabe des Gutachtens.
Das Gutachten sei sowohl der Staatsanwaltschaft wie auch den päpstlichen Behörden in Rom zugeleitet worden. Zu weiteren Schritten will er sich am kommenden Dienstag äußern.