Hamburg. Neue Zahlen zu Angststörungen und Depressionen. Therapie beginnt oft erst 30 Wochen nach Diagnose. Was Experten raten.

Krankhafte Angst, Depressionen, Essstörungen: Trotz nachgewiesener seelischer Leiden durch die Corona-Pandemie erhalten Kinder und Jugendliche in Hamburg immer seltener rechtzeitig Hilfe. Die Wartezeit auf einen Platz bei einem Psychotherapeuten hat sich für sie von durchschnittlich 13 auf 30 Wochen mehr als verdoppelt. Das ergab eine Umfrage der Psychotherapeutenkammer, die dem Abendblatt vorliegt.

Zwei von drei Psychotherapeuten nannten diesen Wert. Hamburgs Kammer-Präsidentin Heike Peper warnte davor, dass sich die Corona-Auffälligkeiten zu chronischen Krankheiten auswüchsen. „Die Pandemie wirkte wie ein Brennglas für die Situation in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Corona hat den Trend noch einmal verstärkt.“ Die jungen Patientinnen und Patienten benötigen mehr Therapiezeit und kommen seit Corona schneller wieder.

Corona Hamburg: Kinder warten lange auf Hilfe

Heike Peper ist Präsidentin der Hamburger Psychotherapeutenkammer.
Heike Peper ist Präsidentin der Hamburger Psychotherapeutenkammer. © Privat | Unbekannt

Hamburgs Psychotherapeuten fordern zügige Sonderbedarfszulassungen, um auf mehr Arztsitzen mehr Therapeuten zu haben, die sich der betroffenen Kinder annehmen. Die Kassenärztliche Vereinigung sagt: Nach den Regeln des Gemeinsamen Bundesausschusses gelte Hamburg als „überversorgt“. KV-Sprecher Jochen Kriens sagte allerdings auch: „Trotz dieser statistischen Werte ist uns bewusst, dass (auch durch Corona) der Bedarf an psychotherapeutischen Leistungen für Kinder und Jugendliche wächst.“

Die KV habe aus diesem Grund in den vergangenen Jahren Anträge auf Sonderbedarfe vor dem Zulassungsausschuss „in aller Regel“ befürwortet. Kriens sagte: „Seit 2018 sind insgesamt acht entsprechende Sonderbedarfszulassungen durch den Zulassungsausschuss erteilt worden.“

Corona Hamburg: Beängstigend hohe Zahlen zu psychischen Auffälligkeiten

Pedram Emami, Präsident der Hamburger Ärztekammer.
Pedram Emami, Präsident der Hamburger Ärztekammer. © MARCELO HERNANDEZ / FUNKE Foto Services | Foto:

Eine weitere Lösung für schnellere Hilfen wären die privatärztlichen Psychotherapeuten und Privatkliniken. Ein gesetzlich versicherter Jugendlicher hat das Recht, sich eine Leistung woanders zu holen und von der Krankenkasse erstatten zu lassen, wenn er nachweisen kann, dass kein Kassen-Therapeut ihn in einem bestimmten Zeitraum behandeln kann. „Wenn die Krankenkassen diese Kostenerstattung erleichtern würden, wäre vielen Kindern und Jugendlichen geholfen“, sagte Psychotherapeutenkammer-Präsidentin Peper.

Von mehreren Krankenkassen kamen zuletzt beängstigend hohe Zahlen zu psychischen Auffälligkeiten bei Kindern. Die Hamburger Ärztekammer hatte beim Ärztetag einen Antrag eingebracht, der auch beschlossen wurde. Darin steht: „Durch die Lockdowns und damit nur sporadisch erfolgende Besuche von Schulen und Kindertagesstätten in der Corona-Pandemie hat sich die psychische Gesundheit der Kinder dramatisch verschlechtert.“ Kammerpräsident Dr. Pedram Emami sagte: Jetzt müssten schnell ausreichend Therapieangebote her.

Corona Hamburg: Drehtür-Effekt wie bei Alkoholikern

Dieses Phänomen kennt man man sonst vor allem bei Alkoholkranken und dem „Trockenlegen“: Es heißt Drehtür-Effekt. Kaum ist der Abhängige raus aus der Therapie, geht es gleich wieder rein. Die Corona-Pandemie hat eine vergleichbare Auffälligkeit bei Kindern und Jugendlichen hervorgebracht, die in psychotherapeutischer Behandlung sind. Jeder Zweite sagt in einer Umfrage der Hamburger Psychotherapeutenkammer unter ihren Mitgliedern: Die Behandlungsdauer bei den jungen Patientinnen und Patienten ist insgesamt länger geworden. Sogar 62 Prozent geben an: Es gebe „zahlreiche“ Kinder, die kurz nach abgeschlossener Behandlung wieder in die Praxis kommen.

Das sind Alarmzeichen für den Seelenzustand der heranwachsenden Generation nach mehr als zwei Jahren Pandemie voller Lockdowns, Schulschließungen und Ungewissheit über Kontakte im öffentlichen und privaten Leben.

Auch interessant

Auch interessant

Auch interessant

In dem Antrag der Hamburger Ärztekammer beim 126. Deutschen Ärztetag in Bremen heißt es unter anderem: „Kinderärztinnen und Kinderärzte haben immer häufiger Schwierigkeiten, ihre Patientinnen und Patienten mit schweren psychiatrischen Störungen an Therapeutinnen und Therapeuten anzubinden. Es muss deshalb dringend und mit umfassenden Maßnahmen gegengesteuert werden, um den jungen Menschen Unterstützung für so schwerwiegende Probleme anzubieten.“

Druck auf Krankenkassen steigt Corona Hamburg: Schnelle Hilfe für psychisch kranke Kinder

Der Mangel an sozialen Kontakten und das Homeschooling machen mehr den Jugendlichen als den Kindern im Grundschulalter zu schaffen. Gerade in der Pubertät, wenn die eigene „peer group“ wichtiger wird als die Familie, wirken Kontaktbeschränkungen wie ein persönliches Entwicklungshindernis. Darauf machte auch Psychotherapeutenkammer-Präsidentin Peper aufmerksam.

Der Druck auf die Krankenkassen steigt. Die Botschaft scheint bei ihnen angekommen. Aus ersten Abrechnungsdaten für die Zeit der Pandemie haben sie bereits herausgelesen: Paketboten litten besonders unter der neuen Lebens- und Arbeitswelt – Stichwort: Amazonisierung. Es wurde von zu Hause bestellt wie noch nie. Gleichfalls, so fand die Krankenkasse Barmer heraus, erkrankten Kita-Erzieherinnen und Pflegekräfte extrem häufig an Depressionen und Burn-out. Techniker Krankenkasse und DAK sprachen mit Blick auf die Dauer der psychischen Erkrankungen insgesamt für Hamburg von einem „Rekordhoch“.

Die DAK sah ein Plus von 5,3 Prozent bei erstmalig aufgetretenen depressiven Phasen oder Depressionen unter den 10- bis 14-Jährigen. Außerdem waren 20 Prozent mehr Grundschulkinder wegen einer Adipositas (Fettleibigkeit) in ärztlicher Behandlung.

Barmer: Mehr Krankschreibungen wegen psychischer Erkrankungen

Susanne Klein ist Landesgeschäftsführerin der Barmer in Hamburg
Susanne Klein ist Landesgeschäftsführerin der Barmer in Hamburg © Barmer | Unbekannt

Jetzt gibt es weitere alarmierende Zahlen der Barmer über Erwachsene für das Jahr 2021, die dem Abendblatt vorliegen. Danach nahmen die Krankschreibungen in Hamburg aufgrund psychischer Leiden um zehn Prozent gegenüber 2020 zu. Barmer-Landeschefin Susanne Klein sagte: „Arbeitsunfähigkeiten aufgrund psychischer Erkrankungen machten im Jahr 2021 fast 30 Prozent aller Krankheitstage in Hamburg aus. Mit Abstand folgten mit gut 18 Prozent Fehlzeiten wegen Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems, also beispielsweise Rückenschmerzen.“

Ob in Zukunft die vielgepriesene Videosprechstunde eine Sitzung ersetzen kann, da zeigen sich Hamburgs Psychotherapeuten skeptisch. Die Forderung nach dieser Form der Behandlung befindet sich auf dem letzten Platz der Wunschliste in der Umfrage. Jedoch gab jeder zweite befragte Therapeut an, seinen Therapiealltag bereits umgekrempelt zu haben. Videosprechstunden wurden überhaupt eingerichtet, Gruppentherapie angeboten, die Sprechstundenzeit ausgedehnt. Auch der Sonnabend ist für professionelle seelische Hilfestellungen in der Praxis längst kein Tabu mehr.