Hamburg. Die Präsidentin der Hamburgischen Architektenkammer blickt kritisch auf die Entwicklung im Hamburger Wohnungsbau.

Karin Loosen ist auf vielen Baustellen der Stadt zu Hause: Seit sieben Jahren ist sie Präsidentin der Hamburgischen Architektenkammer – und blickt berufsbedingt besonders kritisch auf die Stadt und ihre Entwicklung.

Seit 30 Jahren ist die gebürtige Rheinländerin Wahlhamburgerin, bringt sich in die Debatten der Stadt ein und gestaltet sie mit – etwa in Oberbillwerder. Auch die Architektenkammer versteht sich längst als branchenübergreifende Diskussionsplattform und Impulsgeber: Mit der neuen Stiftung für Baukultur will die Kammer sich den Zukunftsthemen widmen und mit der ganzen Stadt ins Gespräch kommen.

Im Abendblatt-Podcast „Was wird aus Hamburg“ beantwortet Loosen die Frage, die derzeit viele Menschen umtreibt – wächst Hamburg noch, oder wuchert es schon? Werden die ambitionierten Wohnungsbauziele zur Last? Verschwindet zu viel Grün unter Beton? „Hamburg wächst nicht zu schnell und baut auch nicht zu viel“, stellt die Architektin klar.

Wohnungen: Corona hat die Bautätigkeit in Hamburg ausgebremst

Ihr Berufsstand sieht ganz andere Probleme, welche die Bautätigkeit ausbremsen: „Wir würden uns manchmal wünschen, dass Baugenehmigungen schneller erteilt werden“, sagt sie. Corona habe das bestehende Pro­blem noch verschärft: „Das Homeoffice in den Behörden hat die Dynamik noch einmal eingebremst“, kritisiert sie. Zusätzliche Probleme machen der Branche zu schaffen. Derzeit bremse der Baustoffmangel ganze Baustellen aus oder lege sie sogar lahm.

Loosen plädiert ausdrücklich für die Idee der Wachsenden Stadt. Mit dieser Losung begann Anfang des Jahrtausends eine neue Wahrnehmung Hamburgs auf nationaler und internationaler Ebene. Nach zwei Jahrzehnten, in denen die Bevölkerung von 1,72 Millionen auf 1,9 Millionen Einwohner wuchs, stellen sich allerdings vermehrt Wachstumsschmerzen ein.

Hamburg benötige mehr Orte der Innovation

 „Es ist doch toll, wenn wir bald zwei Millionen Einwohner haben“, sagt die 56-Jährige. „Es bedarf einer Attraktivität, damit eine Stadt innovativ bleibt und neue Technologien ausprobieren kann. Wir brauchen die guten, jungen Köpfe, die Lust haben, den Wandel mitzugestalten.“ Hamburg benötige mehr Orte der Innovation. Ein Vorbild sieht sie im Oberhafenquartier. Durch den Erhalt der alten Halle hat sich dort eine kreative Szene niedergelassen. „Das ist ein Stadtteil des Umbruchs mit einer besonderen Atmosphäre und tollen Ideen“, sagt Loosen. „Davon brauchen wir mehr in Hamburg.“

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Potenziale in der Stadt sieht sie vor allem an den lange vernachlässigten Orten, etwa den großen Einfallstraßen, den Magistralen. „Diese Verkehrsadern bekommen durch die Verkehrswende die Chance, wieder zu Stadträumen zu werden.“ Große Möglichkeiten sieht sie auch in der Stadterweiterung in Oberbillwerder. Dort, auf der grünen Wiese nördlich von Neuallermöhe, soll Hamburgs 105. Stadtteil entstehen. Nach Fertigstellung im nächsten Jahrzehnt sollen dort bis zu 15.000 Menschen wohnen und 5000 arbeiten.

Leben mit innovativen Mobilitätskonzepten

Der Anspruch ist hoch: Hier wird Stadt neu erfunden, hier soll ein Quartier mit lebendigen Nachbarschaften wachsen: Kultur, Sport und Bildung spielen eine zentrale Rolle, das Viertel soll Studenten, Familien und Senioren gleichermaßen ansprechen. „Der Plan ist gut durchdacht und bietet Raum für Innovation, Nutzungsmischung und neue Nachbarschaften“, sagt Loosen.

Sie war Mitglied des Beratungsgremiums, aus dem der Masterplan für Oberbillwerder hervorging. „Neu und anders ist, dass wir den Stadtteil gemeinsam mit der Landschaft entwickeln, die Wassergräben werden in die Stadtentwicklung eingewoben“, sagt sie. Hier entstehe eben keine Schlafstadt, keine Monostruktur, sondern ein lebendiges Quartier, ein Ort zum Arbeiten und Leben mit innovativen Mobilitätskonzepten und vielen Baugemeinschaften.

 Mit Freiräumen und Grünflächen in Hamburg sorgsamer umgehen

„Das sind Pioniere, die etwas Neues versuchen, etwa traditionelle Grundrisse aufbrechen oder neue Quartiersansätze schaffen.“ Oberbillwerder sei damit eine Alternative für Menschen, die raus aus der Stadt ziehen wollen. Allerdings betont Loosen auch, dass Stadterweiterungen auf der grünen Wiese nur noch die Ausnahme seien. „Da müssen wir aufpassen – wir können nicht ständig an die Ränder gehen.“

Zugleich mahnt sie, mit den Freiräumen und Grünflächen in Hamburg sorgsamer umzugehen. „Die dichte Stadt ist nur dann lebenswert, wenn die Freiräume hochqualitativ sind. Da ist noch einiges zu tun.“ Loosen wirbt dafür, die fünfte Fassade – also die Dächer – intensiver zu nutzen. „Auf den Dachlandschaften geht noch einiges, etwa über Freiflächen in luftiger Höhe.“

Gestaltung des öffentlichen Raums treibt sie um

Was sie ebenfalls umtreibt, ist die Gestaltung des öffentlichen Raums. „Ich ärgere mich über die unflätigen Einbauten, die sich auf den Straßen und Wegen unsortiert breitmachen, egal ob als Parkbegrenzungsbügel, Baumbügel, Blumenkisten, Parkautomaten oder Ladestationen.“ Sie fordert einen gesamtgestalterischen Ansatz für das Mobiliar, der die Stadt eleganter, schöner – und einheitlicher machen könnte. Leider scheitere diese Idee schon an unterschiedlichen Haltungen in den Bezirken. „Es wäre schön, Alltagsdesign in die Stadt zu bringen: Das sind doch Dinge, die wir benutzen.

 Warum können die nicht schön sein?“ Ihr schwebt ein Katalog vor, der beispielsweise funktionstüchtige und ästhetische Fahrradständer definiert. Kopenhagen sei ein Beispiel, wie ein verbindendes Industriedesign eine Stadt attraktiver macht. Auch die HafenCity habe den öffentlichen Raum großzügig gestaltet.

Verkehrsberuhigung in Hamburg treibe seltsame Blüten

„Der öffentliche Raum rückt stärker ins Bewusstsein“, ist sich Loosen sicher, die sich 1996 mit zwei Partnern mit dem Büro LRW Architekten und Stadtplaner selbstständig machte, das seit drei Jahren noch einen Juniorpartner hat. Die Pandemie wirke wie ein Verstärker, die Menschen nähmen den öffentlichen Raum anders wahr. „Das ist ein wichtiger Platz für Begegnungen. Es ist an der Zeit, dort genauer hinzuschauen.“ Auch die Verkehrswende verändere die Lage. „Die Menschen halten sich verstärkt auf den Straßen als Fußgänger, Radler, Rollerfahrer auf – und nicht mehr am Steuer eines Autos. Das verändert den Blick.“

Leider, so kritisiert Loosen, treibe ausgerechnet die Verkehrsberuhigung in Hamburg seltsame Blüten, etwa in der Kirchentwiete in Ottensen: „Das ist schade – da steht ein Potpourri von Blumenkästen und Betonkübeln in den Straßen herum, statt dort einfach Fahrradständer zu schaffen. Die sind praktisch und sehen besser aus.“

Verkehrswende hält sie für eine große Chance

 Die Verkehrswende hält sie für eine große Chance, warnt aber zugleich: „Wir sollten nicht die alten Fehler wiederholen und nun nach der autogerechten Stadt ihr einfach das Fahrrad überstülpen. Wir müssen die Verhältnismäßigkeiten im Blick behalten.“ Es bestehe die Gefahr, aus Begeisterung für das Fahrrad neue Monostrukturen zu schaffen: „Es gibt auch Konflikte zwischen Fußgängern und Radfahrern.“

Wie sieht die Zukunft der Stadt aus? Die Architektenkammer hatte vor drei Jahren einen großen Workshop „Hamburg 2050“ zu drei Schwerpunkten veranstaltet: Die „Stadt zu Fuß“ befasste sich damals mit der Stadt der kurzen Wege, die „Stadt ohne Arbeit“ mit den Umwälzungen der Digitalisierung und des Homeoffice und die „Stadt der Weite“ mit den nötigen Freiräumen. Was damals wie Zukunftsmusik klang, ist heute hochaktuell. „Da hatten wir schon einen guten Riecher“, sagt Loosen nicht ohne Stolz. „Wir sehen jetzt mit dem Homeoffice, wie sich Bedarfe verschieben. Wenn die Menschen zu Hause arbeiten, gehen sie mittags in ihrem Quartier ins Restaurant und kaufen vor Ort ein – und nicht mehr in der City.“ Damit werden die Viertel tendenziell wichtiger.

Menschen wird das nachhaltige Leben wichtiger

Und noch einen Trend macht die Architektin und Stadtplanerin aus: „Den Menschen wird das nachhaltige Leben wichtiger – sie wollen Kreisläufe erkennen: Naturkreisläufe oder Produktkreisläufe.“ Das Zauberwort lautet Lebensqualität im Alltag. So konzentrieren sich die Markthalle und das Restaurant im Oberhafenquartier schon heute auf Produkte aus der Region. Die Menschen sehnten sich nach gesundem Leben und Zugehörigkeit, glaubt Loosen. „Deshalb reden wir ja von einer Stadt der kurzen Wege, der sogenannten Zehn-Minuten-Stadt, in der man leben, wohnen, arbeiten und die Freizeit genießen kann, ohne große Wege zurückzulegen, ja, das meiste zu Fuß bewältigen kann.“

Optimistisch ist sie für ihre Branche, obwohl eine Studie der Architektenkammer zufolge derzeit bundesweit 30 Prozent der Planungsbüros die Pandemie spüren. „Wir stellen nun aber eine gewisse vorsichtige Entspannung fest“, sagt sie. Allerdings erreicht die Erholung nicht alle Berufsgruppen – gerade die Innenarchitekten litten noch unter Corona. Hinzu kommen weitere Probleme, die indirekt mit der Pandemie zu tun haben. So ärgert sich die Branche über die schleppende Vergabe von Baugenehmigungen. „Hinzu kam die Schwierigkeit, neue Aufträge zu generieren.“ Auch die Engpässe bei den Baustoffen belasten.

Chefin der Architektenkammer wirbt für die Bedeutung ihres Berufsstandes

Ausdrücklich wirbt die Chefin der Architektenkammer für die Bedeutung ihres Berufsstandes. „Wir werden gebraucht, weil wir den sich veränderten Lebenswelten Gestalt geben können. Wir leben in einer hochverdichteten Stadt – da gibt es so viele komplexe Herausforderungen, dass wir Maßanfertigungen brauchen – keine Lösungen von der Stange. Serielles Bauen funktioniert hier kaum.“ Sie ist sich sicher: „Uns gehen nicht die Bauaufgaben aus – sondern eher die Fachkräfte.“ Viele Büros suchten Nachwuchs.

Als Loosen 1984 an der Technischen Hochschule Darmstadt anfing, sah die Welt ganz anders aus – damals rieten viele von einem Architekturstudium ab. Heute ermuntert sie Jugendliche ausdrücklich: „Der Fachkräftemangel ist auch bei uns angekommen. Wir brauchen – gerade auch angesichts der Herausforderungen der Zukunft – mehr gute Architekten und Planer.“

Fünf Fragen an Karin Loosen

  • Meine Lieblingsstadt ist Hamburg – sonst wäre ich nicht aus dem Rhein-Main-Gebiet hergezogen. Ich mag die Dynamik hier und die faszinierende Landschaft. Hamburg ist eine extrem progressive, weltoffene Stadt – das ist anregend, gerade wenn man als junger Mensch nach dem Studium eine neue Heimat sucht. 
  • Mein Lieblingsstadtteil ist Ottensen, auch wegen seiner Nähe zur Elbe. Der Kontrast der Stadt mit ihrer Enge auf der einen Seite und der Weite der Elblandschaft auf der anderen macht den Reiz und die Spannung aus. Ottensen  hat sich seit 1991 extrem verändert – früher waren hier viele Punks unterwegs, inzwischen ist der Stadtteil sehr etabliert. Das sieht man auch an den Quadratmeterpreisen, die bis auf 10.000 Euro gestiegen sind. Diesen Wandel sehe ich kritisch. Auf der anderen Seite werden Ottensen und Bahrenfeld durch die A-7-Überdeckelung massiv gewinnen: Wir bekommen einen Riesenpark, der Hamburg zusätzlich Weite verleiht.
  • Mein Lieblingsort in Hamburg liegt in Elbnähe. Früher waren das der Jenischpark und Teufelsbrück, inzwischen gibt es viele neue, sich weiterentwickelte spannende  Orte Richtung Osten: der Holzhafen, die Columbia Twins an der Großen Elbstraße, Park Fiction auf St. Pauli, das Empire-Riverside-Hotel mit der Skyline Bar – und vielversprechende Orte wie Entenwerder und der Stadteingang Elbbrücken: noch etwas unentdeckt, aber hier verändert sich Stadt. Noch einen Ort mag ich besonders: An einem Tisch vor dem Café Paris sitzen und auf das Rathaus schauen.
  • Meine Lieblingsgebäude sind Häuser mit einem Mehrwert für das Quartier oder die Stadt, zum Beispiel die Wohnungsbauten von Gustav Oelsner in Altona. Beeindruckend ist auch, was an Nachhaltigkeitsbauten in der HafenCity entsteht – das Thema wird nun richtig ernst genommen und strahlt in die Stadt. Wer hätte gedacht, dass wir ein Hochhaus aus Holz bekommen? Als alte und neue Klassiker möchte ich natürlich das Chilehaus und die Elbphilharmonie nennen.
  •  Mit der Abrissbirne möchte ich nicht mehr fahren, es sei denn, den öffentlichen Raum mit all seinem Mobiliar etwas mehr aufräumen. Generell müssen wir jetzt nach­haltig bauen, Ressourcen schonen, graue Energie berücksichtigen, in Kreisläufen wirtschaften und somit weniger abreißen. Heute wäre man wohl so klug, den City-Hof stehen zu lassen.