Hamburg. Jenisch, Sieveking, Petersen – diese Namen kennt fast jeder in der Stadt. Zwölfter Teil der Serie über große hanseatische Traditionen.

Wagen und gewinnen, beides im ausgeprägten Sinn des Wortes: 1837 hatten drei Hamburger Freunde und Geschäftspartner die Idee ihres Lebens. Bei einer Versteigerung erwarb das risikofreudige Trio ein seinerzeit weitgehend brachliegendes Areal an der Ostseite der Alster, das Gut Uhlenhorst. Der urkundlich notierte Kaufpreis: 106.500 Mark Courant, damals ein stattliches Vermögen. Doch mussten die Herren August Abendroth, Adolph Jencquel und Carl Heine noch tiefer in die Tasche greifen. Mit vereinten Kräften ließ das Trio die Landschaft entwässern, in Grundstücke aufteilen und mit Wegen erschließen.

Die Rechnung ging auf. Und wie. Die Uhlenhorst entwickelte sich vorstellungsgemäß zu einem angesehenen Stadtteil Hamburgs und bescherte den Investoren eine fürstliche Rendite. Das Geschäft hatte sich bezahlt gemacht.

Treffen in der Tanzschule

Es gehört zu den wundersamen Fügungen Hamburger Geschichte, dass heute, fast zwei Jahrhunderte später, zwei der damals beteiligten Familien miteinander liiert sind – nicht immer noch, sondern auf ein Neues. Silke-Kathrin Abendroth und Claus-Ascan Jencquel sind seit 36 Jahren verheiratet. Im Gegensatz zu vergangenen Zeiten, in denen oft und gerne in eigenen Kreisen geehelicht wurde, lernte sich das Paar zufällig bei einem Kurs in der Tanzschule Wendt an der Rothenbaumchaussee kennen.

Die drei erwachsenen Söhne Moritz, Hubertus und Johann-Philipp, zwischen 28 und 34 Jahre alt, stellen die zwölfte Generation der Jencquels und die sechste in Hamburg ansässige Generation der Abendroths. Damit haben zwei der vornehmsten Dynastien der Hansestadt die Weichen gen Zukunft gestellt. Ihre Vorfahren machten sich als Bürgermeister, Senatoren, Präses der Handelskammer und erfolgreiche Kaufleute einen Namen. Andere wirkten als Bierbrauer, Bankiers, Reeder oder Juristen. Sie gründeten die Hamburger Sparkasse, riefen das Seebad Cuxhaven ins Leben, beteiligten sich an der Hamburg-Bergedorfer Eisenbahn, engagierten sich für schöne Künste und die Schwächeren der Gesellschaft.

Besuch in Aumühle

Bevor wir die Wurzeln der Abend­roths und Jencquels vor mehreren Jahrhunderten entschlüsseln, begeben wir uns in die Neuzeit. Auf zur Teestunde nach Aumühle. Vor der Haustür einer Villa direkt am Sachsenwald wartet ein vitaler Mann mit grauen Schläfen, reichlich Lachfalten und auf Anhieb offenherzigem Visier. „Moin“, sagt Claus-Ascan Jencquel. „Herzlich willkommen.“ Der 63 Jahre alte Diplom-Kaufmann und Major der Reserve ist geschäftsführender Gesellschafter einer inhabergeführten Unternehmensgruppe.

„Wir sind uns der Familiengeschichte bewusst und gehen bescheiden damit um“, antwortet er auf dem Weg ins Wohnzimmer auf Nachfrage, „aber kaufen kann man sich davon nichts.“ Ein gewisser Wohlstand sei selbst erarbeitet. Das Wort Wohlstand spricht er mit spitzem S-T aus, augenzwinkernd und mit Betonung. So ähnlich haben es auch sein Vater Ascan-Bernd, sein Großvater Ernst-Ascan, der Urgroßvater Oscar und der Ururgroßvater Adolph getan, der Investor auf der Uhlenhorst. Dieser hatte unmittelbar vor dem vortrefflichen Uhlenhorst-Deal bei einer geplatzten Bodenspekulation fast sein gesamtes Vermögen in den Sand gesetzt. Er verzagte keinesfalls, sondern griff erneut an. Volles Risiko voraus.

Kleines Familiengeheimnis

Dass ein ausgeprägter Mutterwitz und Humor auch in Bezug auf die eigene Person im Hause Jencquel zum guten Ton gehören, wird sich mit zunehmender Gesprächsdauer intensiv erweisen. Man bildet sich auf die Sternstunden der Vergangenheit nichts ein. Vor allem ruht man sich darauf nicht aus. Diese hanseatische, irgendwie lässige Note können Neureiche nicht erlernen. Man hat sie – oder man hat sie eben nicht. Das betrifft zudem ein kleines Familiengeheimnis, das erst zum Ausklang dieses besonderen Termins herauskommt. Es passt ins Bild, dass auch Frau Jencquel recht zurückhaltend auf die Historie ihrer Familie zu sprechen kommt. Silke-Kathrin, eine Nachfahrin des 1842 verstorbenen Bürgermeisters Amandus Abendroth, betätigt sich beruflich als geschäftsführende Gesellschafterin der Engel & Völkers Sachsenwald GmbH.

Der Kaufmann und Senator Jacob Hinrich Jencquel lebte von 1765 bis 1826.
Der Kaufmann und Senator Jacob Hinrich Jencquel lebte von 1765 bis 1826. © Klaus Bodig / HA | Klaus Bodig / HA

Die drei Jungs wurden getreu dem Familiencredo geschäftlicher Unabhängigkeit und eigenständigen Handels erzogen. Wie der letztgeborene Johann-Philipp beweist. Nach einem Waldspaziergang mit den Hunden gesellt er sich hinzu, wie seine Eltern unbekümmert, fröhlich, aufgeschlossen. Auf dem Wohnzimmertisch stehen sündhaft leckeres, verdammt kalorienreiches Gebäck, Tee und Kaffee. Nach einem Studium der Betriebswirtschaftslehre in München machte sich Jencquel jr. als Gastronom selbstständig. Seine „Edelsatt“-Restaurants in Winterhude und im Karolinenviertel konzentrieren sich auf Burger, Currywurst und andere Spezialitäten vom Rot-, Dam- und Schwarzwild aus heimischen Revieren.

Ahn wurde Brauer

Nun jedoch zurück zum Anfang dieser Hamburger Familiensaga, die auf zwei Sippen basiert. Beginnen wir bei der älteren. Die Jencquels, so ist es in Band 23 des Hamburger Geschlechterbuchs akkurat verzeichnet, stammen ursprünglich aus Gudow im Herzogtum Lauenburg. Anno 1614, mithin vor mehr als 400 Jahren, erwarb der aus dem Raum Mölln/Ratzeburg nach Hamburg gezogene Jürgen Jenckel das Bürgerrecht. Später übernahm er eine Brauerei am Rödingsmarkt.

Mit schwunghaftem Handel brachte man es zu einer Menge. Famos florierten besonders die Geschäfte mit Portugal. Und da die Portugiesen mit dem „ck“ der Jenckels nichts anzufangen wussten, wurde daraus das seinerzeit europaweit verständlichere Jencquel. Das war pragmatisch. Das war geschäftstüchtig. Man blieb dabei. Über Generationen zählte unternehmerisch der Blick nach vorn: Von Ausnahmen abgesehen, musste man sich seinen Wohlstand neu erarbeiten. In der Regel gelang dies zufriedenstellend. Den Begriff Reichtum würde kein Jencquel in den Mund nehmen, bewahre – damals und heute nicht.

Das Wappen der hanseatischen Familie Jencquel.
Das Wappen der hanseatischen Familie Jencquel. © Unbekannt | Unbekannt

Flügelwechsel zu den Abendroths. Der eingangs erwähnte Hamburger Bürgermeister Amandus Abendroth war ein Sohn des aus dem Erzgebirge stammenden Notars und Gerichtsprokurators Abraham Abendroth. Amandus Abendroth stand bei seinen Mitbürgern ob seiner Standhaftigkeit hoch im Kurs. Nach der Besetzung Hamburgs durch die Franzosen wurde er seines Dienstes enthoben und in die Verbannung geschickt. Später wurde er erneut zum Bürgermeister gewählt. Weitere Verdienste der Abend­roths und Jencquels würden mehrere Seiten füllen. Beschränken wir uns also auf diese Eckdaten.

Heutzutage gibt es weltweit noch rund 30 Jencquels. Die meisten von ihnen leben im Großraum Hamburg, darunter auch Claus-Ascans Bruder Joachim mit seiner fünfköpfigen Familie. Weitere Angehörige sind in Luxemburg, Frankreich, Argentinien und Venezuela ansässig.

Kürzlich Familientreffen

Die Abendroths sind als Namensträger durch Silke-Kathrin Jencquels Cousin Henning Abendroth in Hamburg sowie einen weiteren Cousin mitsamt Ehefrau und drei Kindern in Bolivien präsent. Das letzte organisierte Familientreffen der jencquelschen Namensträger aus dem hiesigen Umfeld fand unlängst in Hamburg statt.

Erst zum Schluss erfährt der Besucher mehr durch Zufall, denn durch Nachbohren von einem interessanten Detail. Claus-Ascan Jencquels Mutter, eine geborene von Amsberg, ist die älteste Schwester des 2002 verstorbenen Prinzgemahls Claus der niederländischen Königin Beatrix. Folglich ist der heutige Gastgeber in Aumühle ein Cousin von Willem-Alexander, dem amtierenden König der Niederlande. „Das wollen wir aber lieber nicht veröffentlicht sehen“, sagt Claus-Ascan Jencquel beim Abschied an der Haustür. Letztlich stimmt er dann doch zu.

Irgendwie passt solche Zurückhaltung ins Bild einer Dynastie, die sich am liebsten vornehm zurückhält. Mit Hoheiten, Adeligen und Orden hatte das hanseatische Großbürgertum von jeher nichts am Hut. Auswärtige Adelige konnten in Hamburg früher kein Bürgerrecht erwerben. Adolph Jencquel, der vom dänischen König geadelt werden sollte, lehnte dankend ab. Seine Tochter Adolphine Schramm, Mutter des Hamburger Bürgermeisters Max Schramm, hatte diese Einstellung ebenfalls verinnerlicht. Als sie vernahm, dass ihren beiden noch unverheirateten Schwestern von Adeligen der Hof gemacht wurde, bezeichnete sie das ihrer Mutter gegenüber mit spitzer Feder als „schlimmste Heimsuchung“.

Dann schon lieber ein „gewisser Wohlstand“. Möglichst unbemerkt.

Die Familien Abendroth und Jencquel

Die 1985 in Herbert-Weichmann-Straße umbenannte Adolph­straße verwies 140 Jahre auf Adolph Jencquel, einen der Entwickler der Uhlenhorst.  Baurs Park in Blankenese war einst als jencquelscher Lustgarten bekannt. Auch eine Grünanlage in Neumühlen trug den Namen der Kaufmanns- und Senatorenfamilie. Fotos der Würdenträger hängen im Rathaus.

Die Mutter des Barons Caspar Voght, einem Begründer des Jenischparks, war eine geborene Jencquel. Die Abendroths sind im Stadtbild ebenfalls präsent. Beispiele sind der Abendrothsweg in Hoheluft-Ost oder die Auguststraße in Uhlenhorst. Das Wappen (Foto) ist an der Rathausfassade in Stein gemeißelt. Es gibt die Stiftung Abendroth-Haus mit Hilfsange­boten für junge Frauen und Familien.