Hamburg. Tschentscher: Entwicklung in Afghanistan dramatisch. Vereine setzen humanitäre Projekt fort. Angst um Mitarbeiter.
Die Angst ist schon über Wochen ihr Begleiter. Jede Nachricht und jede neue Eroberung der Taliban schlägt auch in der afghanischen Community in Hamburg ein – mit etwa 40.000 Menschen ist sie eine der größten in Europa. Trotz der Machtübernahme und der noch extremer gewordenen Gefahr versuchen Initiativen in der Hansestadt aber weiterhin, den Menschen in ihrem Herkunftsland zu helfen.
Zwar seien elf von 14 verschiedenen Hilfsprojekten in Afghanistan vorübergehend gestoppt – so bald es möglich sei, solle die Arbeit aber fortgeführt werden, sagte Nadia Nashir vom afghanischen Frauenverein dem Abendblatt. „Wir werden alles tun, um auch in dieser schweren Zeit weiter an der Seite der afghanischen Bevölkerung zu stehen.“
Afghanistan: Kabul zu gefährlich für weitere Hilfen
Der Verein verteilt mit 190 Mitarbeiterinnen in Afghanistan unter anderem Hilfsgüter und betreibt mobile medizinische Kliniken. „Die Lage im Land ist sehr unterschiedlich und ändert sich stündlich“, sagt Nashir. In Kabul etwa sei es im Moment zu gefährlich, den dort gestrandeten Binnenflüchtlingen zu helfen. Besser sieht es etwa in Kunduz aus. „Unsere Schule dort ist weiter geöffnet, unsere Mitarbeitenden verteilen seit gestern Corona-Nothilfe-Pakete an unterversorgte Familien – und auch Brunnen bohren wir weiter“, sagt Nashir.
Auch der an der Feldstraße ansässige Verein „Visions 4 Children“ glaubt daran, trotz der Rückkehr der islamistischen Taliban weiter Kinder in Afghanistan unterstützen zu können. „Wir haben derzeit Schulprojekte in Kabul, Herat und Mazar-e-Sharif“, sagt die Sprecherin Lilli Gretemeier. „Die Städte sind ohne Gewalt von den Taliban übernommen worden, die Gebäude nicht betroffen, die Schulen jedoch aus Sicherheitsgründen nun derzeit erstmal geschlossen worden.“ Wie es danach weitergehe, sei aber noch ungewiss.
Hamburger Bürgerschaftsabgeordneter mit Live-Schalte nach Kabul:
Hamburg will 200 gefährdete Afghanen aufnehmen
Nach der faktischen Machtübernahme der Taliban in Afghanistan hat Hamburg angeboten, Menschen aus dem Land aufzunehmen. „Die Entwicklung in #Afghanistan ist dramatisch“, schrieb Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) am späten Montagabend auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. Hamburg habe angeboten, „unmittelbar & unbürokratisch 200 Gerettete aufzunehmen“.
Innensenator Andy Grote (SPD) sagte dem NDR, man sei in konkreten Gesprächen mit dem Bund und wolle in Hamburg Erstaufnahmekapazitäten zur Verfügung zu stellen.
Gerettete Afghanen schon am Mittwoch in Hamburg
Eine Obergrenze sei nicht diskutiert worden. „Es geht schon darum, dass alle Bundesländer sich hier solidarisch zeigen.“ Entsprechend habe Hamburg seine Bereitschaft zur Aufnahme von mindestens 200 Personen dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gemeldet. „Es handelt sich nicht nur um Ortskräfte, sondern es handelt sich um Menschen, die aus Afghanistan gerettet wurden“, sagte Senatssprecher Marcel Schweitzer am Dienstag.
„Die Bundeswehr ist unterwegs, um bis zu 250 Gerettete aus Afghanistan mit 13 Bussen vom Frankfurter Flughafen in die Erstaufnahme nach Hamburg zu bringen“, kündigte Tschentscher am Dienstagabend via Twitter an. In der Nacht zu Mittwoch wird in Frankfurt eine Maschine mit Evakuierten aus Kabul erwartet.
Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Jennifer Jasberg nannte es eine Schande, dass viele Tausend Menschen um ihr Leben fürchten müssten, weil sie sich in der Vergangenheit im Interesse von Menschenrechten und Demokratie als Kooperationspartner angeboten hätten. „Sie verdienen Schutz und Anerkennung für die Risiken, die sie in den letzten Jahren eingegangen sind.“ Die AfD sprach sich gegen die Aufnahme gefährdeter Menschen aus Afghanistan aus. Wer wie die „Linksgrünen“ neue Asyl-Einladungen und Anreize versende, handele unverantwortlich und gedankenlos.
Hilfsorganisation Plan International in Sorge
Als sicher gilt, dass Schulunterricht für Mädchen unter der Herrschaft der Taliban nur eingeschränkt möglich sein wird. Die Hilfsorganisation Plan International, die in Hamburg ihren Sitz hat, ist in großer Sorge. „Alles, was Mädchen und Frauen in den vergangenen Jahrzehnten in ihrem Land unter schwierigen Bedingungen erarbeitet haben, machen die Taliban innerhalb kürzester Zeit zunichte“, so die Sprecherin der Geschäftsführung, Kathrin Hartkopf.
Weder aus Hamburg noch vor Ort ließe sich die weitere Entwicklung vorhersagen, heißt es von den Hilfsvereinen. „In Afghanistan ist im Moment niemand sicher“, sagt Nadia Nashir. „Und auch unsere Mitarbeitenden riskieren täglich ihr Leben, indem sie sich als Lehrerinnen, Schulleiterinnen, als Ärztinnen und in vielen anderen Positionen arbeiten und einsetzen. Sie alle wissen nicht, wenn sie am morgen das Haus verlassen, ob sie abends unversehrt zurückkehren können.“ Obwohl die Lage in Teilen des Landes momentan ruhig sei, bleibe die Angst vor „unkontrollierten Gewaltausbrüchen“ sehr groß. Sie bezeichnete die Mitarbeiterinnen deshalb als „stille Heldinnen“.
Kolleginnen vor Ort könnten in Gefahr sein
Für den Verein „Visions for Children“ ist entscheidend, ob die Taliban eine Entwicklungsarbeit von Hilfsorganisationen tatsächlich zulassen werden. „Alle haben Angst, die Kolleginnen vor Ort sowie das Team hier“, sagt die Sprecherin Lilli Gretemeier. „Sollten die Taliban ihre Aussagen revidieren, dann wären unsere Kolleginnen einer realen Gefahr ausgesetzt – denn in der Vergangenheit haben die Taliban alle Personen, die mit ‘Ausländern’ gearbeitet haben, mit dem Tod bestraft“.
In diesem Fall sei es „unsere Verantwortung, ihnen den nötigen Schutz zu gewähren“. Das bedeute möglicherweise, sie nach Deutschland zu bringen. Da sie seit mehr als 20 Jahren auch mit Deutschen in Afghanistan zusammengearbeitet hätten, könnten sie demnach im Auftrag der Bundesregierung ausgeflogen werden. Der afghanische Frauenverein geht dagegen nicht davon aus, im Falle einer Evakuierung eine Hilfe vom deutschen Staat zu erhalten. „Die Bundesregierung bezieht ihr Angebot ausschließlich auf deutsche Staatsbürger und Ortskräfte, die die Bundeswehr unterstützt haben“, betont Nadia Nashir.
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Afghanische Community bangt um Verwandtschaft
Mitglieder der afghanischen Community rechnen bislang nicht damit, dass eine große Zahl von Afghanistan bis nach Europa flüchten wird. Aber sie bangen weiter um ihre Verwandtschaft. „Wir hatten große Befürchtungen, dass unsere Familienangehörigen bei den Schusswechseln verletzt werden“ sagt Yama Waziri vom Verein „First Contact“.
Die afghanische Bevölkerung wolle bloß in Frieden leben. Insbesondere vielen Waisenkindern, die schutzlos auf den Straßen lebten, müsse geholfen werden. „Wir dürfen dieses Land nicht allein lassen, egal wer an die Macht kommt.“
Der Verein „Visions for Children e. V.“ nimmt Spenden auf dem Konto IBAN DE 66251205100001617501 entgegen. Der afghanische Frauenverein hat das Spendenkonto IBAN DE 28 57 08 0070 0680 8505 00. Weitere Informationen im Internet auf www.afghanischer-frauenverein.de und visions4children.org.