Hamburg. Ermittlungserfolge im Zusammenhang mit dem Handykommunikationsnetzwerk erzeugen hohe Mehrbelastung bei Landgericht und Polizei.

Ein Ermittler nannte es „eine ganz dicke Goldader“. Nahezu Schlag auf Schlag ging es im vergangenen Jahr: Wohnungsdurchsuchungen, die Sicherstellung von beträchtlichen Mengen Drogen sowie Millionen Euro Bargeld, Haftbefehle gegen Verdächtige. Es war der Erfolg aus den Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Handykommunikationsnetzwerk Encro-Chat, in dem sich vorzugsweise Kriminelle über ihre Verbrechen austauschten.

Encro-Chat: Großer Erfolg gegen Organisiertes Verbrechen

105 Verdächtige wurden mittlerweile verhaftet, insgesamt rechnet die Polizei im Zusammenhang mit den Encro-Chat-Erkenntnissen mit einer Verfahrensanzahl im mittleren dreistelligen Bereich. Was als außerordentlich großer Erfolg gegen das Organisierte Verbrechen gewertet kann, bindet bei der Polizei und auch bei der Justiz erhebliche Kapazitäten. Bei der Staatsanwaltschaft liegen mittlerweile 160 Encro-Chat-Verfahren vor. Und mehr als 40 solcher Verfahren sind inzwischen beim Landgericht eingegangen.

Es sind Verfahren, die besonders zügig abgearbeitet werden müssen, weil die meisten der Verdächtigen in Untersuchungshaft sitzen. Die Fälle tragen dazu bei, dass die Belastung der Kammern des Landgerichts deutlich zugenommen hat. Die Zahl der neu eingegangen Strafverfahren bei den Landgerichten stieg von 395 im Jahr 2019 auf 437 im vergangenen Jahr und führte dadurch zu einer „spürbaren Mehrbelastung“, wie Gerichtssprecher Kai Wantzen dem Abendblatt auf Anfrage sagt.

Personelle Unterstützung wegen Mehrbelastung

Jetzt soll das Landgericht angesichts dieser Mehrbelastung vorübergehend personell unterstützt werden. Das Besondere: Die Verstärkung soll vom Oberlandesgericht (OLG) kommen, das aktuell bei den Staatsschutzsenaten Kapazitäten frei hat. Insgesamt haben sich vier Richter vom OLG bereit erklärt, sich zum Landgericht abordnen zu lassen, jeweils zu 50 Prozent und maximal bis Ende des Jahres.

„Zeitweilig sind weniger Verfahren eingegangen als erwartet“, erläutert Wantzen bezüglich der Staatsschutzsenate, die unter anderem für Prozesse gegen mutmaßliche IS-Unterstützer zuständig sind. „Abzusehen ist aber, dass wieder mehr Verfahren eingehen werden“, betont der Gerichtssprecher.

Andere Verfahren müssen wegen Encro-Chat-Verfahren warten

Wegen der deutlichen Zunahme der Verfahren beim Landgericht unter anderem wegen Encro-Chat, die als Haftsachen vorrangig verhandelt werden müssen, können etliche andere Verfahren bis auf weiteres nicht verhandelt werden — jene, bei denen niemand in Untersuchungshaft sitzt.

„Dass manche Prozesse immer wieder zurückgestellt werden müssen, ist für alle unbefriedigend, nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Kolleginnen und Kollegen, deren Ziel es ist, für möglichst zügige Verfahren zu sorgen, und sehr hart dafür arbeiten“, erklärt Wantzen. 

Bekanntestes Beispiel eines Prozesses, der bislang wegen vordringlicher Haftsachen noch nicht terminiert werden konnte, ist das Verfahren gegen den früheren Leiter des Bezirksamtes Hamburg-Nord, Harald Rösler, im Zusammenhang mit der sogenannten Rolling-Stones-Affäre.

Rolling-Stones-Affäre: Verfahren noch nicht terminiert

Der 71-Jährige ist angeklagt, für das Konzert vom September 2017 im Stadtpark 300 reservierte Kauf- und 100 Freikarten vom Veranstalter verlangt und diesem den Stadtpark für nur 205.000 statt der mindestens angemessenen etwa 600.000 Euro überlassen zu haben. Anklage wurde bereits im März 2020 erhoben, doch die zuständige Große Strafkammer muss zunächst mehrere Haftsachen verhandeln, darunter zwei Encro-Chat-Verfahren. 

Auch die Staatsanwaltschaft ist derzeit mit Verfahren aus den Ermittlungen im Zusammenhang mit Encro-Chat hoch belastet. Von den rund 160 Encro-Chat-Verfahren, die derzeit bei der Anklagebehörde vorliegen, sind in 50 bereits Anklagen erhoben worden.

Ermittlungserfolge ermöglichen tiefe Einblicke

„Die Hauptlast der Bearbeitung liegt sicher bei den Ermittlungsbehörden“, so Liddy Oechtering, Sprecherin der Staatsanwaltschaft. „Polizei und Staatsanwaltschaft haben bereits etliche besonders umfangreiche und komplexe Verfahren zur Anklage gebracht. Der dafür notwendige Aufwand ist enorm. Auch durch zusätzlichen Einsatz in den jeweiligen Fachabteilungen wird die Masse an Vorgängen kaum zeitnah zu bewältigen sein.“

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„Die Ermittlungserfolge zu Encro-Chat haben uns tiefe Einblicke in die Welt der organisierten Kriminalität ermöglicht“, sagt Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) dazu. „Damit diese Straftaten effektiv verfolgt werden können, muss die Justiz adäquat aufgestellt sein. Dafür machen wir uns im Senat stark. Denn die Justiz muss in der Lage sein, mit den zahlreichen und komplexen Verfahren umzugehen. Der Rechtsstaat wird sich auch bei Encro-Chat beweisen.“