Hamburg. Holger Martens hat sich vor zehn Jahren für eine ungewöhnliche Form der Unternehmensgründung entschieden – eine Erfolgsgeschichte.

Genossenschafts-Historiker gibt es so einige. Und einer von ihnen ist der Hamburger Holger Martens. Eine Historiker-Genossenschaft ist dagegen einmalig – und Martens ist ihr Gründer und Geschäftsführer. Historiker-Genossenschaft? Das klingt erst einmal merkwürdig. Dabei sind es eigentlich nur mehrere Geschichtswissenschaftler, die gemeinsam eine Firma gegründet haben. „Aber eben nicht als GmbH, sondern als Genossenschaft, bei der alle Mitglieder Teilhaber sind“, erläutert Martens. Letztlich wurde die Idee aus der Not geboren. Denn wer keine Stelle an einer Universität findet, hat es als freischaffender Historiker wahnsinnig schwer. „Umsatteln wollte ich aber nicht, also habe ich mich mit Gleichgesinnten zusammengetan.“

Neben Martens arbeiten noch drei Historikerinnen und drei Historiker in der Genossenschaft; die Hälfte ist fest angestellt, die anderen arbeiten auf Honorarbasis. Bei jedem Auftrag wird ein Teil der Einnahmen an die Genossenschaft abgeführt, von denen dann die Gehälter und andere Kosten bezahlt werden. Das Risiko tragen alle gemeinsam. „Die Grundidee jeder Genossenschaft ist, dass ihre Mitglieder profitieren“, sagt Martens, der sich als Geschäftsführer vor allem um die Akquise kümmert.

Historiker arbeiten Firmengeschichte auf

Auftraggeber sind meistens Unternehmen. „Vor allem wenn Firmenjubiläen anstehen, stellen viele fest, dass die Unternehmensgeschichte noch nie aufgeschrieben wurde“, sagt Martens. „Dann kommen wir ins Spiel.“ Der Aufwand ist ganz unterschiedlich – mal ist eine Jubiläumsschrift gewünscht, mal eine umfangreiche Chronik – und hängt auch von der Quellenlage ab. Einige Firmen haben gut sortierte Archive, bei anderen wurde nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen alles entsorgt. Dann wird in anderen Archiven recherchiert und mit früheren Mitarbeitern gesprochen.

Die Gefahr, dass bei solchen Arbeiten schöngefärbte Unternehmensgeschichten herauskommen, besteht für Martens nicht. „Das würden wir nicht machen. Und wer so etwas wünscht, wendet sich auch nicht an uns.“ Die Zeiten hätten sich in dieser Hinsicht auch geändert. Heute bestehe bei den allermeisten Unternehmen der Wunsch nach ehrlicher Aufarbeitung, gerade der Jahre 1933 bis 1945. Martens: „Da gibt es viel Offenheit. Manchmal erarbeiten wir dann eine umfangreiche Dokumentation für das Unternehmen, wovon eine Zusammenfassung in die Festschrift zum Jubiläum kommt.“

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„Die Welt hat nicht auf mich gewartet“

Neben Unternehmen, darunter auch viele Genossenschaften, sind Vereine und Stiftungen Hauptauftraggeber der Historiker. Privatpersonen eher selten. „Das Interesse an Familiengeschichte ist zwar groß, aber in der Regel sind wir dafür zu teuer“, erläutert Martens. Er selbst hat seinen Beruf auf Umwegen erreicht. In Krempe bei Itzehoe aufgewachsen, hat er nach dem Realschulabschluss eine Ausbildung zum Vermessungstechniker gemacht, bevor er auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur schaffte. Studiert hat er in Hamburg und England (University of East Anglia) neben Geschichte auch Politikwissenschaft. Nach seiner Doktorarbeit über die Nachkriegsgeschichte der SPD Schleswig-Holstein arbeitete er dann als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hamburger Universität, wo er zusammen mit Franklin Kopitzsch zu den Initiatoren der Arbeitsstelle für Genossenschaftsgeschichte gehörte.

So richtig voran kam er an der Uni aber nicht. „Da gab es wenig Geld, wenige Stellen und viele Bewerber“, erzählt er. „Die Welt hat nicht auf mich gewartet, und ich hatte Familie, also musste ich etwas ändern.“ Also hat er es mit der Historiker-Genossenschaft versucht. Zweimal, genau genommen. „Der erste Versuch ging gründlich schief“, erzählt Martens. 2005 war das, 30 Mitglieder hatten sich zusammengetan. Gescheitert ist es dann am Geld. „Darüber haben wir uns leider zerstritten.“ Vor zehn Jahren dann der zweite Versuch, der deutlich besser funktioniert. Weil die Genossenschaft kleiner ist und weil es eine klare Aufgabenverteilung gibt. „Meine Hauptaufgabe ist es, Aufträge reinzuholen, während die Kollegen vor allem inhaltlich arbeiten“, erläutert Martens. So wird die Arbeit gleichmäßig verteilt, und niemand fühlt sich ungerecht behandelt.

Warum Martens Büro nicht zufällig im zwölften Stock liegt

Auch wenn daher das Kaufmännische bei Martens’ Arbeit im Vordergrund steht, spielt das Historische weiter eine große Rolle. „Es ist ja nicht nur mein Beruf, sondern auch mein Hobby“, sagt der 59-Jährige. Er ist im Bundesvorstand der Arbeitsgemeinschaft ehemals verfolgter Sozialdemokraten, engagiert sich bei der Verlegung von Stolpersteinen und befasst sich – natürlich – mit der Geschichte der Genossenschaften.

Sein Büro ist denn auch alles andere als zufällig im zwölften Stock des Gewerkschaftshauses gleich neben dem Genossenschaftsmuseum. Das war von Burchard Bösche gegründet worden – der 2019 verstorbene Jurist war Partner in Olaf Scholz’ früherer Anwaltskanzlei und ein glühender Verehrer der Genossenschaftsidee. Von Bösche stammt der Satz: „Eine Kapitalgesellschaft ist nichts weiter als ein Haufen Geld, und der Sinn des Haufen Geldes ist, dass er größer wird. Die Genossenschaft ist eine Ansammlung von Menschen, die gemeinsam wollen, dass es ihnen besser geht.“

Neue historische Fachliteratur zu Genossenschaften gebraucht

Martens sieht es genauso. Und deshalb freut er sich, dass die Idee wieder „in“ ist. „Die Genossenschaftsbanken haben die Finanzkrise am besten überstanden, die Wohnungsgenossenschaften sind beliebt wie lange nicht, und es gibt wieder viele Neugründungen“, sagt Martens.

An einer, der „supercoop“ in Berlin, ist sein Sohn beteiligt. „Es ist ein Bio-Lebensmittelhandel. Alle Mitglieder arbeiten unentgeltlich mit und können so preisgünstig einkaufen.“ Wer kein Mitglied ist, kann auch kein Kunde sein. Martens befasst sich indes mit einer anderen Idee. Denn die historische Fachliteratur zu Genossenschaften ist überschaubar. „Das Standardwerk von Helmut Faust – Geschichte der Genossenschaftsbewegung – ist 45 Jahre alt. Da wird es eigentlich Zeit für etwas Neues.“ Wahrlich kein kleines Projekt, das Holger Martens sich da vornimmt.