Hamburg. Kleines Mädchen war nach angeblichem Unfall in Klinik gebracht worden. Nun muss sich der Vater wegen Totschlags verantworten.
Die kleine Sandra (Name geändert) hatte ihr Leben noch vor sich. Die ersten Schritte, die ersten Worte, der erste Schultag, der erste Kuss… Unendlich viele schöne Erlebnisse und Erfahrungen hätte sie machen können. Doch nichts davon ist ihr vergönnt. Sandra ist tot, sie wurde nur knapp zwölf Wochen alt. Die letzten Tage verbrachte sie in einer Klinik, wo Ärzte um ihr Leben kämpften. Vergebens. Der Säugling war nicht mehr zu retten.
Wieso musste Sandra so früh sterben? Hat ihr Vater sie so schwer verletzt, dass sie starb? Oder war es, wie der 31-Jährige es nach dem Tod des kleinen Mädchens angab, ein Unfall? Darum geht es seit Freitag im Prozess vor dem Schwurgericht, wo sich Paulo E. wegen Totschlags verantworten muss. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Vater der kleinen Sandra vor, sie am 15. Mai dieses Jahres heftig geschüttelt und ihren Kopf gegen einen Widerstand geschlagen zu haben. Dadurch erlitt das Mädchen laut Anklage eine Schädelfraktur, schwere Hirnblutungen und Einblutungen in die Netzhäute. Eine Woche später erlag der Säugling seinen massiven Verletzungen.
Baby totgeschüttelt? War es ein Unfall?
Mit schweren Schritten hat der Angeklagte vor Prozessbeginn den Saal betreten. Der 31-Jährige, der seit knapp sechs Monaten in Untersuchungshaft sitzt, ist ein groß gewachsener, kräftiger Mann mit Stiernacken und breitem Kreuz. Seine Tochter muss in seinen Armen winzig ausgesehen haben. Den Blick starr geradeaus gerichtet, setzt sich der Mann auf seinen Platz und beantwortet mit ruhiger Stimme die Fragen zu seinen Personalien. Sein Mandant werde zur Sache aussagen, kündigt der Verteidiger für den nächsten Verhandlungstag an.
Bisher hatte Paulo E. angegeben, er sei mit seiner Tochter auf dem Arm ausgerutscht und hingefallen. Doch die Verletzungen, die der Säugling erlitten hat, passen laut Ermittlungen nicht zu dieser Version. Laut rechtsmedizinischen Untersuchungen deutet viel auf ein Schütteltrauma-Syndrom hin, heißt es in der Anklage. Von einem Schütteltrauma sprechen Mediziner, wenn ein Säugling am Rumpf oder an den Armen gepackt und heftig geschüttelt wird, so dass der Kopf des Kindes peitschenartig vor und zurück fliegt. Dabei entstehen häufig schwerste, mitunter sogar tödliche Verletzungen.
Baby totgeschüttelt? Gericht spielt Notrufe ab
In jenen verhängnisvollen Momenten, als das Sterben von Sandra begann, war der Vater mit der Tochter allein zu Hause. Paulo E. hatte am Nachmittag selber Polizei und Feuerwehr benachrichtigt. Das Gericht spielt im Prozess die Notrufe ab, die der Angeklagte getätigt hat. Zunächst hat er bei der Polizei angerufen und gesagt: „Ja, also, ich hätte gern einen Krankenwagen bestellt. Mein Kind…“ Doch weiter kommt er nicht. Wenn es um einen medizinischen Notfall gehe, müsse er die 112 anrufen, wird der 31-Jährige informiert.
„Ja, okay, mache ich“, antwortet der Vater. Er klingt ruhig und gefasst. In der gleichen, kontrollierten Tonlage führt er ein nächstes Gespräch mit der Feuerwehr. Es gehe um seine Tochter, erzählt er und gibt seine Adresse durch. „Ich bin hingeflogen mit dem Kind.“ Es atme noch, teilt er weiter mit, aber „der Kopf ist blau. Es gibt stöhnende Geräusche von sich.“ Der Helfer am Telefon gibt ihm dem Mann unter anderem den Rat, die Atmung seiner Tochter zu überwachen. „Mache ich“, antwortet Paulo E. Und er solle den Kopf des Kindes gut festhalten. „Den habe ich sowieso.“
Die gefasste Stimme des Vaters irritiert
Menschen verhalten sich in extremen Stresssituationen sehr unterschiedlich. Manche sind vollkommen aufgelöst, andere besonnen. Manche sind panisch, andere erstarrt. Es gibt viele mögliche Reaktionen. Und doch ist es irritierend, die so durch und durch gefasste Stimme des Vaters zu hören. Ist Paulo E. ein Mann, den nichts aus der Ruhe bringen kann — auch nicht die Tatsache, dass seine kleine Tochter offenbar schwer krank beziehungsweise schwer verletzt ist?
Eine, die einen Einblick in Verhalten und Charakter des Angeklagten geben könnte, ist Sofie R. Die 31-Jährige hat mit Paulo E. in einer Wohnung im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses in Wandsbek gelebt, sie waren eine Weile ein Paar. Und sie haben zusammen ein Kind bekommen, die kleine Sandra. Was genau mit ihrer Tochter an jenem verhängnisvollen 15. Mai passiert ist, kann die examinierte Altenpflegerin nicht wissen. Sie war, während das Unglück geschah, den Ermittlungen zufolge zum Einkaufen beim Discounter. Als sie das Haus verlassen hatte, war ihre Tochter noch gesund. Als sie zurückkam, war nichts mehr wie vorher.
Mutter des Säuglings tritt als Nebenklägerin auf
Jetzt im Prozess gegen Paulo E. tritt die junge Frau als Nebenklägerin auf. An diesem ersten Verhandlungstag wird Sofie R. als Zeugin gehört. Als die 31-Jährige den Gerichtssaal betritt, würdigen die Mutter des verstorbenen Säuglings und der Angeklagte einander keines Blickes. Er starrt stoisch vor sich hin, während sie an seinem Platz vorbei auf ihren Stuhl zusteuert. Und sie, eine zierliche Frau mit rotem Haar, sieht ebenso konsequent an ihm vorbei. Mit zarter Stimme nennt Sofie R. ihre Personalien.
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Dann wird die Öffentlichkeit auf Antrag ihres Anwalts ausgeschlossen. Die Aussage der 31-Jährigen betreffe auch die gemeinsame Lebensgestaltung der jungen Familie und gebe damit Einblick in ihre Persönlichkeit, ihr Wesen, ihr Leben und „den höchstpersönlichen Lebensbereich“, begründet die Kammer die Entscheidung. So viel ist im Anschluss über die Aussage der Mutter zu erfahren: Als sie vom Einkaufen zurückkam, so hat es Sofie R. erzählt, sei sie auf den Rettungswagen getroffen und habe dann ihr Kind ins UKE begleitet.
Schwere Fälle von Schütteltrauma in den letzten Jahren
So ähnlich haben es auch andere Mütter in vergleichbaren Situationen in früheren Prozessen geschildert. In den vergangenen sieben Jahren hat es in Hamburg mehrere schwere Fälle von Schütteltrauma bei Babys gegeben. Zwei Kinder überlebten mit allerschwersten Behinderungen, und ein zwölf Monate alter Junge starb. So wie jetzt die kleine Sandra.