Hamburg. Jana Husemann fordert: „Hamburg braucht mehr Hausärzte. Neun von zehn Corona-Patienten werden ambulant behandelt“.

Der Abschied wird schwer: Das Impfzentrum in den Messehallen schließt am 31. August die Türen. Liest man auf Twitter die Kommentare der dort Geimpften und die Sprüche der Mitarbeiter, kann schon so etwas wie Wehmut aufkommen.

Dazu trägt auch der Sprecher der medizinischen Leiter bei, Dr. Dirk Heinrich, der voller Elan zuletzt eine Grafik twitterte und schrieb: „Der Abstand wird kleiner.“ Es ging um den Fortschritt beim Impfen und die Zahl der erstmals und der vollständig Immunisierten in Hamburg.

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Hausärzte-Chefin: Wer geimpft werden wollte, wurde geimpft

Längst kleiner geworden ist der Abstand zwischen den Dosen im Impfzen­tren und denen, die in Haus- und Facharztpraxen verimpft werden. Seit es genügend Impfstoff gibt, laufen die niedergelassenen Ärzte denen im Impfzentrum den Rang ab. Trotz aller Motivation der beteiligten Mediziner, diese Pandemie in den Griff zu bekommen, gibt es ernüchternde Erkenntnisse. Dr. Jana Husemann (39) ist die Vorsitzende des Hausärzteverbandes. Mit Kolleginnen und Kollegen versorgt sie in einer Praxis auf St.  Pauli mehr als 2500 Patienten.

Nach nur wenigen Monaten voller Diskussionen um Termine, Astrazeneca und Zweitimpfungen sagt sie: „Es liegt an den Menschen, dass das Impftempo abgenommen hat. Wer geimpft werden wollte, wurde geimpft. Jetzt kommt es auf die Zweifler an. Ich denke, dass die, die nicht geimpft werden wollen, nicht zu überzeugen sind. Bei ihnen sind es zumeist ideologische Gründe. Manche Menschen haben auch nur Angst vor dem Unbekannten. Es gibt aber Potenzial bei denen, die schwanken.“

Husemann schätzt die erreichbare Impfquote auf 70 Prozent

Auf 70 Prozent schätzt sie die erreichbare Impfquote. Impfen oder sich infizieren – das sei künftig die Alternative. Experten erwarten die vierte Welle und eine Ausbreitung der Delta-Variante von Corona. Was mit der aus Südamerika bekannten Lambda-Mutante ist, erscheint nach heutiger Kenntnis ungewiss. Sie ist in Europa bereits angekommen. Aber ist sie noch ansteckender?

Husemann empfiehlt, die Auffrischungsimpfungen vorzubereiten, den „dritten Piks“. „Nicht, dass wir wieder über Nacht in den Hausarztpraxen unsere Abläufe umstellen müssen. Vor allem der Einsatz von Biontech muss geplant werden, damit man nichts verwirft und alle sieben Dosen aus dem Vial auch verimpfen kann.“ Auch Johnson & Johnson kommt in die Praxen. Husemann weiß: „Das war vor den Sommerferien der Renner, weil viele vor dem Urlaub vollständig geimpft sein wollten. Es ist damit zu rechnen, dass auch für Johnson & Johnson eine Auffrischungsimpfung notwendig wird. Denn ob Johnson & Johnson den gleichen langfristigen Effekt wie die Doppelimpfungen, sei dahingestellt.“

Diese Corona-Impfstoffe sind in Deutschland zugelassen

  • Biontech/Pfizer: Der erste weltweit zugelassene Impfstoff gegen das Coronavirus wurde maßgeblich in Deutschland entwickelt. Der mRNA-Impfstoff, der unter dem Namen Comirnaty vertrieben wird, entwickelt den vollen Impfschutz nach zwei Dosen und ist für Menschen ab zwölf Jahren zugelassen. Laut Bundesgesundheitsministerium (BMG) hat er eine Wirksamkeit von etwa 90 Prozent – das heißt, die Wahrscheinlichkeit, schwer an Covid-19 zu erkranken, sinkt bei Geimpften um den genannten Wert. Ebenfalls von Biontech stammt der erste für Kinder im Alter von fünf bis elf Jahren zugelassene Impfstoff in Deutschland.
  • Astrazeneca: Der Vektorimpfstoff des britischen Pharmaunternehmens wird unter dem Namen Vaxzevria vertrieben. Aufgrund von seltenen schweren Nebenwirkungen empfiehlt die Ständige Impfkommission (Stiko), den Impfstoff nur für Patienten zu verwenden, die älter als 60 Jahre sind. Offiziell zugelassen ist der Impfstoff aber für Menschen ab 18 Jahren. Vaxzevria weist laut BMG nach zwei Impfdosen eine Wirksamkeit von bis zu 90 Prozent in Bezug auf schwere Erkrankungen auf.
  • Moderna: Der von dem US-Unternehmen entwickelte mRNA-Impfstoff mit dem Vertriebsnamen Spikevax ist für alle ab 12 Jahren zugelassen, die Stiko empfiehlt aufgrund eines erhöhten Risikos schwerer Nebenwirkungen aber, ihn auf die Altersgruppe der über 30-Jährigen zu beschränken. Der Moderna-Impfstoff hat laut BMG eine Wirksamkeit von bis zu 90 Prozent in Bezug auf schwere Erkrankungen, wenn der volle Impfschutz nach zwei Impfdosen erreicht worden ist.
  • Johnson&Johnson: Das US-Unternehmen hat einen Vektorimpfstoff entwickelt, der bereits nach einer Impfdosis Schutz vor dem Coronavirus entwickelt. Er wird unter dem Namen Covid-19 Vaccine Janssen vertrieben. Das Präparat hat laut BMG eine Wirksamkeit von bis zu 70 Prozent bezogen auf schwere Erkrankungen – zudem ist die Zahl der Impfdurchbrüche im Vergleich zu den anderen Impfstoffen erhöht, daher empfiehlt die Stiko für mit Johnson&Johnson Geimpfte schon nach vier Wochen eine zusätzliche Impfdosis mit Comirnaty oder Spikevax, um den vollständigen Impfschutz zu gewährleisten.
  • Novavax: Das US-Unternehmen hat den Impfstoff Nuvaxovid entwickelt. der mitunter zu den sogenannten Totimpfstoffen gezählt wird. Er enthält das Spike-Protein des Covid-19-Erregers Sars-CoV-2. Dabei handelt es sich aber genau genommen nicht um abgetötete Virusbestandteile, die direkt aus dem Coronavirus gewonnen werden. Das Protein wird stattdessen künstlich hergestellt. Das menschliche Immunsystem bildet nach der Impfung Antikörper gegen das Protein. Der Impfstoff wird vermutlich ab Ende Februar in Deutschland eingesetzt und soll laut BMG in bis zu 90 Prozent der Fälle vor Erkrankung schützen.
  • Weitere Impfstoffe sind in der Entwicklung: Weltweit befinden sich diverse Vakzine in verschiedenen Phasen der Zulassung. Die Europäische Arzneimittelbehörde EMA prüft derzeit das umstrittene russische Präparat Sputnik V sowie die Impfstoffe der Hersteller Sinovac, Sanofi und Valneva. Der deutsche Hersteller CureVac hat seinen Impfstoff vorerst aus dem Zulassungsverfahren zurückgezogen.

Nach wie vor großer Aufklärungsbedarf bei Corona-Impfungen

Die Furcht vor Impfreaktionen oder gar Impfschäden sei eher bei Jüngeren verbreitet. „Bei ihnen kann das Immunsystem auch etwas heftiger auf die Impfung reagieren. Das sind aber ganz überwiegend vorübergehende harmlose Beschwerden. Bei Biontech sind extrem selten unter jungen Männern Herzmuskelentzündungen aufgetreten.“

Deshalb gebe es nach wie vor großen Aufklärungsbedarf. Dabei wenden sich die Impfkandidaten offenbar noch immer zuerst an ihre Hausärzte. Die haben zuletzt ein Wechselbad durchlaufen. In den Praxen tobte das pralle Leben mit aufgebrachten Patienten wegen fehlender Termine und Impfstoffs, wegen Sorgen um extrem seltene Sinusvenenthrombosen bei Astrazeneca. Damit hatten vor allem die Medizinischen Fachangestellten (MFA) zu kämpfen. Sie haben, anders als Pflegekräfte im Krankenhaus, keine Lobby.

Praxen behandelten neun von zehn Corona-Patienten

„Die MFAs machen einen Wahnsinns-Job, ohne dass sie dafür einen staatlichen Bonus erhalten wie alle anderen. Als es noch keine Schutzkleidung gab und wir Plexiglasscheiben aufbauen mussten, die Patientenströme getrennt, Infektsprechstunden eingerichtet und später das Impfen begonnen haben, lastete großer Druck auch auf den MFAs“, sagt Huseman.

Dabei hätten die Praxen neun von zehn Corona-Patienten behandelt. Nur dadurch seien die Krankenhäuser nicht „übergelaufen“ mit Covid-Patienten. „Richtig gewürdigt hat das niemand.“ Auch die Patienten haben in Sorge vor einer Infektion die Praxen gemieden. „Es gab schwerere Krankheitsverläufe, zum Beispiel bei einem Patienten mit einer Lungenerkrankung, der schon eine niedrige Sauerstoffsättigung hatte. Er musste ins Krankenhaus, das hätten wir im Normalfall ambulant hingekriegt.“

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Nur auf dem Papier ist Hamburg mit Ärzten überversorgt

Der Herbst wird herausfordernd für alle. Schon bei der Schwankungsbreite politischer Entscheidungen, „ständig neuer Regelungen und mehr Bürokratie“ sieht Husemann die Hausärzte zu wenig einbezogen. „Man hat stillschweigend angenommen, die Hausarztpraxen würden das schon umsetzen.“ Für Husemann ist es eine banale Erkenntnis, in der Pandemie eine neue Warnung: „Wir brauchen mehr Hausärztinnen und Hausärzte in Hamburg.“

Ein Baustein dafür sei die Reform des Medizinstudiums. Es müsse beispielsweise ein verpflichtendes Quartal in der ambulanten Versorgung im Praktischen Jahr geben. „Das müssen die Länder schnell auf den Weg bringen.“ Schaut man die nackten Zahlen an, ist Hamburg mit niedergelassenen Ärzten mehr als gut, nämlich überversorgt.

Husemann warnt vor drohender Unterversorgung mit Ärzten

Doch die Realität spreche eine andere Sprache. „Es ist leider so, dass auf Hausarztsitzen zum Beispiel Diabetologen sitzen oder Infektiologen. Die machen keine umfassende hausärztliche Medizin und auch keine Hausbesuche. Da das nur auf dem Papier Hausärzte sind, gaukelt es eine Überversorgung vor. In Wahrheit sind wir von einer Unterversorgung mit Hausärzten nicht mehr weit entfernt.“ Für die zen­trale Rolle in der Pandemiebekämpfung ist das keine optimistische Prognose.

Durch die 132 Neuinfektionen am Freitag ist die Sieben-Tage-Inzidenz auf 35,7 gestiegen. 40 Covid-Patienten müssen in den Krankenhäusern der Stadt behandelt werden, 16 intensivmedizinisch. Eine Woche zuvor lag der Inzidenzwert bei 21,5. Von den 78.962 Menschen, die sich mit dem Coronavirus infiziert haben, gelten 76.200 als genesen.