Neustadt. Der Auftritt des SPD-Kanzlerkandidaten in Hamburg wurde von musikalischen Klassikern begleitet. Wie die Titel zum Wahlkampf passen.
Für eine klassische Theaterkritik ist im Wahlkampf wenig zu holen: alles zu offensichtlich. Wahlkampf spielt auf Sieg, für den kleinsten gemeinsamen Nenner. Wo vorn, wahr, gut ist, wo die politische Musik passiert, da ist kein Bösewicht als Reibungsfläche leibhaftig anwesend. Es ist wie in Bad Segeberg bei Karl May – die Rollen sind klar verteilt. Doch hier sind mehr oder weniger alle Winnetou, aber niemand Santer. Die stehenden Ovationen gibt es lange vor dem Ende.
Sechs der Guten, die Hamburger SPD-Kandidaten für Berlin, formieren sich. Später werden sie in Reihe eins gebraucht, um Schulz’ rhetorische Körpertreffer zu beklatschen. SPD-Helfer versorgen das Publikum mit der Martin-Schulz-Gerechtigkeitskarte: Zehn Gebötchen im Scheckkartenformat.
Auch die SPD-Bühne auf der Michelwiese ist plakativ gedacht und gemacht. Keine Wand, sehr viel Luft nach oben. Die aus den USA importierte Unsitte, den Hintergrund des Redners mit Parteipersonal dichtzutapezieren, das chronisch verzückt zu schauen hat, den begeht die SPD an diesem Abend nicht.
An der Ironiebefreiung der Musikauswahl könnten die Kampa-Stragegen allerdings noch arbeiten. Denn die Band beginnt, als hätte die CDU die Musik zum akuten Umfragetief bestellt, mit dem um Beistand flehenden Klassiker „Stand By Me“, später kommen „Get Lucky“ und „Mercy“. Erst vor dem Auftritt von Bürgermeister Olaf Scholz wird die Trefferquote des Soundtracks besser, es gibt „Simply The Best“. Die sechs Bundestagskandidaten hatten sich noch brav hinter einem Rednerpult aufgestellt, Scholz schnappt sich das Mikro und prescht an den Bühnenrand.
Und je näher Schulz kommt, desto eleganter reagiert die Playlist. Auf „Start Me Up“ der Stones folgt zur Untermalung vom erstem Bad in der Menge „Wie sehr wir leuchten“ der Band Gloria auf, mit der Zeile „Ich bin dein bester Freund“. Maßgeschneidert, Respekt. Punktlandung im Wählergemüt. Dass Schulz’ Pult nicht auf der Bühne steht, sondern fast ebenerdig, ist natürlich kein Zufall. Ich bin einer von euch
Rhythmisches Klatschen zu Coldplay, Bilder aus dem Parteifamilienalbum
Wenn es menschelt, nähern sich bei Schulz Dialekt und Dialektik an. Dann verlässt er die Rolle, die alle zwei Minuten auf den nächsten Szenen-Applaus zusteuert, dann reagiert er spontan und nicht nur gekonnt. Stand-up-Politik, die kann er.
Das Ende, wenig überraschend: Rhythmisches Klatschen zu Coldplay, noch mehr Fotos aus dem Parteifamilienalbum auf der Leinwand. Doch mit nur ein wenig Distanz ist der Anblick wehender Fahnen ein berührendes, starkes, wahres Bild der Demokratie: Menschen, die sich unter eine Flagge zeigen, wer sie sind. Und wer nicht. Welche typischste Politiker-Geste gab es eigentlich vor dem bei Facebook geleasten Daumen, fragt man sich. Und kurz zuvor, als Schulz noch redete, stieg ein SPD-Luftballon in den Abendhimmel.