Hamburg. Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) spricht im Abendblatt über Wutbürger, Demonstrationen und die Rolle der AfD.
War der harte „Shutdown“ wirklich nötig? Verstärkt stellen Demonstranten dies auch in Hamburg infrage, protestieren dabei teilweise gemeinsam mit Rechten und Verschwörungstheoretikern. Im Interview mit dem Abendblatt warnt Innensenator Andy Grote (SPD) nun deutlich vor einem „Corona-Wutbürgertum“ und bröckelnder Einigkeit im Kampf gegen die Pandemie. Zudem kündigt er eine nochmals verstärkte Polizeipräsenz an.
Hamburger Abendblatt: Herr Grote, bundesweit gibt es von Tag zu Tag mehr Menschen, die Corona für ein gigantisches Komplott halten. Was sagen Sie diesen Verschwörungstheoretikern?
Andy Grote: Wichtig ist, dass die ganz große Mehrheit der Menschen diese Auffassung nicht teilt. Es gibt nach wie vor ein großes Vertrauen in das staatliche Krisenmanagement und die Notwendigkeit der Maßnahmen. Es ist aber auch klar, dass die Beschränkungen umso kritischer diskutiert werden, je mehr das Infektionsgeschehen abflaut. Wir stehen da als Senat in der Verantwortung, genau zu erklären und zu begründen, warum welche Maßnahmen noch erforderlich sind. Auch wenn wir damit einen Teil der Menschen nicht erreichen.
Aus Sicht mancher Protestierender sind Sie als Innensenator einer derjenigen, die Corona bloß als Vorwand nutzen und die Demokratie Stück für Stück abschaffen wollen.
Grote: Die Mischung der Teilnehmer und Motive bei diesen Demonstrationen ist ja bunt. Mancher Protest von Betroffenen ist auch grundsätzlich nachvollziehbar, andere Strömungen wirken dagegen tatsächlich etwas skurril und diffus. Darunter sind auch Menschen, die schon ein biografisch belastetes Verhältnis zum Staat mitbringen und viel Misstrauen aufgebaut haben. Man darf da nicht den Anspruch haben, jeden Verschwörungstheoretiker überzeugen zu wollen.
Hat die Zahl der E-Mails, die Sie zu diesem Thema erreichen, zugenommen und hat sich der Ton verschärft?
Grote: Ja, klar, mein Büro erhält derzeit viele Zuschriften und Anrufe, darunter viele Fälle, in denen Menschen einfach nur Fragen haben. Aber es gibt wie immer auch Grenzfälle. Uns erreichen etwa Nachrichten, die erst einmal schwungvoll unfreundlich sind. Wenn man dann aber auf diese Leute eingeht, mäßigt sich der Ton bei manchen. Andere sind überzeugt, Corona sei kein echtes Problem, jedenfalls jetzt nicht mehr. Vor wenigen Wochen waren alle noch froh, dass wir keine Zelte auf dem Rathausmarkt aufstellen mussten, um die Leichen zu stapeln. Jetzt ist das scheinbar vergessen, und es wird als selbstverständlich hingenommen, dass wir bislang gut durch die Pandemie gekommen sind. Dass wir das durch diese Maßnahmen geschafft haben, wird gerne verdrängt.
Sie können ja auch nicht den Beweis antreten, dass es ohne die Maßnahmen radikal anders gelaufen wäre.
Grote: Spekulative Verläufe lassen sich nicht beweisen. Aber: Wir haben Vergleiche. Es ist ja nicht plausibel, dass Deutschland und Hamburg per se weniger betroffen gewesen wären als andere europäische Länder oder Regionen. Und deshalb kann man schon auf die hohe Plausibilität verweisen, dass es ohne die staatlichen Gegenmaßnahmen einen völlig anderen Verlauf auch bei uns gegeben hätte.
Andy Grote und Cornelia Prüfer-Storcks zur Corona-Lage:
Vor allem zu Beginn der Krise schien ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl zu herrschen – mit viel Verständnis für die Verbote, Nachbarschaftshilfe und Applaus vom Balkon. Bröckelt dieses positive „Wir-Gefühl“?
Grote: Die besonderen Umstände der Corona-Zeit haben viel überlagert. Es ist eine Illusion anzunehmen, dass eine Stimmung, die spezifisch mit der Epidemie zu tun hat, anschließend einfach so bleibt. Trotzdem glaube ich, dass bei vielen Menschen ein neues Bewusstsein entstanden ist, wofür eine starke solidarische Gesellschaft gut ist. Ein Staat, der auf den Prinzipien organisiert ist, dass man sich um alle kümmert und allen hilft, die Hilfe benötigen. Das haben wir geleistet. Es ist uns gelungen, das Virus in den Griff zu bekommen und gleichzeitig wirtschaftliche Notlagen aufzufangen.
Was muss als Nächstes passieren?
Grote: Wir müssen jetzt den Neustart schaffen, sehen, dass der Motor ökonomisch und gesellschaftlich wieder anspringt und dass wir dabei alle mitnehmen. Das größte Risiko aktuell ist, dass durch die wirtschaftliche Schwäche die Integrationskraft der Gesellschaft leidet und Spannungen entstehen. Es gibt so etwas wie ein „Corona-Wutbürgertum“ – dem müssen wir wirtschaftliche und soziale Stärke entgegensetzen. Das wird noch ein sehr kräfteraubender Weg.
Es sind ja merkwürdige Bündnisse, die sich aufgetan haben. Auf dem Rathausmarkt demonstrieren Rechts- wie Linksextreme Seit an Seit mit Spinnern, Esoterikern, Impfgegnern und normalen Menschen, die Angst vor dem Virus und den Folgen haben. Wie gefährlich sind solche Allianzen?
Grote: Ich würde derzeit nicht von einer Allianz sprechen. Ob zwischen den Beteiligten eine längerfristige Gemeinsamkeit entsteht, ist zumindest zweifelhaft. Für Rechtsextremisten oder rechtspopulistische Parteien ist diese Unzufriedenheit aber ein interessantes Potenzial, weil sie hoffen, daraus politisches Kapital schlagen zu können. Wir nehmen am Rande des Protestgeschehens in Hamburg bereits Rechte und Rechtsextremisten wahr, wenn auch eher in einer beobachtenden Rolle.
Welche Rolle spielt die AfD in diesem Zusammenhang?
Grote: Die AfD war am Anfang der Krise der Meinung, es wird viel zu wenig getan. Jetzt ist sie der Meinung, alle Einschränkungen müssten sofort weg. Das ist eine reine taktische Ausrichtung, um den Protest für sich zu nutzen.
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Glauben Sie, dass die AfD damit Erfolg hat?
Grote: Man kann nicht ausschließen, dass sie kurzfristig von der Unzufriedenheit profitiert. Entscheidend wird deshalb sein, wie wir mittel- und langfristig aus der Krise kommen. Und mit jedem weiteren Lockerungsschritt wird das Gefühl nachlassen, eingeschränkt zu sein und dagegen demonstrieren zu müssen.
In Berlin griffen Schläger Kamerateams von ARD und ZDF an, in Hamburg hat es zuletzt einen Angriff auf einen Kameramann gegeben, der von einer Mahnwache am Jungfernstieg berichten wollte. Im Ruhrgebiet attackierten Männer im Supermarkt zwei Polizisten, die sie wegen Verstößen gegen die Maskenpflicht aus dem Laden verweisen wollten. Radikalisiert sich der Protest?
Grote: Wir nehmen diese Zwischenfälle sehr wohl wahr und ahnden sie gegebenenfalls konsequent. Nach meinem Eindruck handelt es sich bei den Verursachern zum Teil um Personen, die ohnehin ein Gewaltpotenzial mitbringen und die Corona-Lage nur zum Anlass für solche Übergriffe nehmen.
Wann werden die „Corona-Wutbürger“ zu einem Fall für den Verfassungsschutz?
Grote: Wenn sich die Bewegung in eine Richtung entwickelt, die sich gegen unsere freiheitlich-demokratische Ordnung richtet. Oder wenn verfassungsfeindliche Kräfte, die das tun, zunehmenden Einfluss gewinnen – etwa als Redner oder Organisatoren dieser Demonstrationen. Bisher ist das nicht so. Nicht jeder Esoteriker ist gefährlich. Wir müssen hier dennoch sehr wachsam sein.
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Kann man politisch etwas dagegen unternehmen?
Grote: Die Botschaft an die Hamburgerinnen und Hamburger muss sein, dass wir als Stadt hier einen Riesenerfolg auf die Beine gebracht haben und man darauf stolz sein kann. Und diesen Erfolg dürfen wir nicht riskieren, sondern müssen das noch ein bisschen gemeinsam durchhalten.
Also hat der Infektionsschutz weiter Vorrang vor der Akzeptanz für die Maßnahmen?
Grote: Wir versuchen unsere Strategie nachvollziehbar und solide weiterzuführen. Keine Einschränkung wird länger aufrechterhalten als nötig. Und trotzdem kann es eben sein, dass es sich nicht jedem Einzelnen sofort erschließt. Wir können uns davon aber nicht leiten lassen. Es geht um Verantwortlichkeit für die Gesamtheit.
Am vorvergangenen Wochenende ging es etwa bei fantastischem Wetter überall in Hamburg sehr lebhaft zu. Die Polizei spricht von einer „kritischen Phase“, die nun beginne.
Grote: Wir merken bereits über die vergangenen Wochen, in denen sich die öffentliche Debatte immer stärker auf die Lockerungen konzentriert hat, dass es mehr Sorglosigkeit gibt. Klar ist, dass wir eine Situation wie am vorvergangenen Wochenende nicht wieder erleben wollen. Deshalb bereiten wir uns auf die beiden Feiertagswochenenden, die vor uns liegen, entsprechend intensiv vor.
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Erhöhen Sie den Kontrolldruck?
Grote: Wir erhöhen die Präsenz und bringen alles auf die Straße, was wir haben. Das ist eine Herausforderung, weil wir auch noch nebenbei eine Vielzahl von Versammlungen zu bewältigen haben müssen.
Zuletzt ist die Polizei mit sehr viel Augenmaß vorgegangen. Wird hier die Linie wieder verschärft?
Grote: Nein, nicht pauschal. Das hängt immer von der jeweiligen Situation ab. Wenn die Beamten beispielsweise jeden Einzelnen in einer großen Gruppe mit einem Verfahren belegen, kann das in der Praxis dazu führen, dass sich noch mehr Menschen zu eng um das Geschehen herum versammeln. Da kann es im Sinne des Infektionsschutzes sinnvoll sein, erst einmal sicherzustellen, dass sich Menschenansammlungen schnell auflösen.
Wie gut halten Gastronomen nach Ihrem Eindruck die neuen Hygieneregeln ein?
Grote: Es ist noch zu früh für einen vollständigen Überblick. Es gibt einzelne Verstöße, die wir auch konsequent ahnden. Aber die meisten gehen verantwortungsvoll mit den Auflagen um, um nicht zu riskieren, dass die Öffnung der Gastronomie wieder infrage gestellt wird. Aber auch hier behalten wir die Lage genau im Blick.
Infektiologen warnen eindringlich vor einer zweiten Welle. Wäre es möglich, noch einmal eine große Akzeptanz für harte Beschränkungen in der Bevölkerung zu finden?
Grote: Darüber möchte ich nicht spekulieren. Wir tun alles, damit Hamburg ein zweiter starker Anstieg der Infektionszahlen erspart bleibt. Insofern wird es sicherlich auch Maßnahmen geben, die wir noch monatelang aufrechterhalten müssen. Wie die Situation dann im September oder Oktober sein wird, kann heute noch niemand seriös vorhersagen.
Coronavirus: Verhaltensregeln und Empfehlungen der Gesundheitsbehörde
- Reduzieren Sie Kontakte auf ein notwendiges Minimum und halten Sie Abstand von mindestens 1,50 Metern zu anderen Personen
- Achten Sie auf eine korrekte Hust- und Niesetikette (ins Taschentuch oder in die Armbeuge)
- Waschen Sie sich regelmäßig die Hände gründlich mit Wasser und Seife
- Vermeiden Sie das Berühren von Augen, Nase und Mund
- Wenn Sie persönlichen Kontakt zu einer Person hatten, bei der das Coronavirus im Labor nachgewiesen wurde, sollten Sie sich unverzüglich und unabhängig von Symptomen an ihr zuständiges Gesundheitsamt wenden