Hamburg. Der Dirigent und das London Symphony Orchestra übertreffen sich am zweiten Abend in der Elbphilharmonie selbst.
Nach dem Konzert, im Menschenstrom auf der Treppenspindel hinab zur Plaza, fällt im Gemurmel hier und da der Ausdruck „moderne Musik“. An seinem zweiten Abend in der Elbphilharmonie hat das London Symphony Orchestra ein Stück von Elliott Carter aus dessen Todesjahr 2012 gespielt. Das ist wirklich modern. Und die Werke von Janácek, Berg, Bartók?
Stammen aus dem 20. Jahrhundert, klar, haben ja aber schon das eine oder andere Jahrzehnt auf dem Partiturrücken. Wäre es da nicht an der Zeit, die Messskala für „modern“ ein wenig in Richtung Gegenwart zu verschieben? Für die Reihe ProArte mit ihrem gediegenen Publikum ist es jedenfalls ein geradezu gewagter Schritt, einen ganzen Abend mit den genannten Komponisten zu bestreiten.
Musiker holten Publikum aus Komfortzone
Gewagt – und gewonnen. Mit ihrem frisch inthronisierten Chefdirigenten Simon Rattle holen die Musiker das Publikum aus der Komfortzone (wenn man die ungerührten Huster ausnimmt). Nicht einen Moment lässt die Spannung nach. Zwar müssen die ersten Geigen in der Ouvertüre zu Janáceks Oper „Aus einem Totenhaus“ noch ein paar ihrer Spitzentöne sortieren. Der Konzertmeister aber stürzt sich kopfüber in sein horrend virtuoses Solo, das Orchester entfaltet einen Klang so scharf wie eine Messerklinge, die Ketten rasseln. Das ist Oper in einer Nussschale.
In Carters „Instances“ bläst die Trompete Soli von der Einsamkeit amerikanischer Landschaften, dann wieder tun sich die Holzbläser zu zwitschernden und keckernden Grüppchen zusammen, dass der Esprit nur so funkelt. Kaum zu glauben, dass diese frische, luzide Musik aus der Feder eines 103-Jährigen stammen soll.
Faust behält die Kontrolle
Das Herz des Programms ist, wie könnte es anders sein, das Violinkonzert von Alban Berg, „Dem Andenken eines Engels“. Ganz leicht gerät der Herzschlag aus dem Takt, als die Solistin Isabelle Faust sich bei den einleitenden Arpeggi leicht in der Tonhöhe vergreift. Ist sie nervös? Rührt daher ihr schnelles, fast überelektrisches Vibrato? Jedenfalls behält sie die Kontrolle über das Geschehen, technisch wie musikalisch. Faust stellt sich in den Dienst dieser Trauermusik.
Jeden Winkel leuchtet sie aus, in magischer Verbindung mit Rattle und den Musikern. Als die Klarinetten den Bach-Choral „Es ist genug“ intonieren, in fast unhörbarem Pianissimo, da ist es, als gäbe es kein Innen und Außen mehr, kein Ich und Du, nur noch ein großes Ganzes. Rattle lässt der unglaublichen Konzentration noch lange nach dem Schlusston ihren Raum, und alle, alle lassen sich ergreifen.
Musiker spielen wie um ihr Leben
Auch bei Bartóks Konzert für Orchester nach der Pause spielen die Musiker wie um ihr Leben. Die Streicher sind vor Glut der Kernschmelze nah; einen wärmeren Holzbläserton, leuchtenderes Blech kann man sich nicht wünschen. Immer wieder gehen die Musiker über Grenzen. Für Rattle? Vielleicht. In jedem Fall: für alle, die das Glück haben, dabei zu sein.