Hamburg. Beim ersten der beiden Elbphilharmonie-Konzerte von Sir Simon Rattle mit dem London Symphony Orchestra lief nicht alles rund.

Die erste grundsätzlich gute Nachricht: Bei Sir Simon Rattle und seinem neuen Orchester sind die Flitterwochen in vollem Gange, die Flirtfreude aneinander ist unübersehbar groß. Wenn man in wenigen Monaten im Lebenslauf eines Chefdirigenten wie Rattle die Nachfolge der Berliner Philharmoniker als neue erste Geige antritt, dann sollte es tunlichst deutlich mehr sein als ein Brotjob.

Doch so solide der Ruf des London Symphony Orchestra auch ist, so charming, unkonventionell und bunt das Programm beim ersten der zwei Konzerte im Großen Saal der Elbphilharmonie mit seiner Kontrastmischung aus ­Romantischem und Barockem sich auch las: Es klemmte einiges, ­im Stilverständnis und den Proportionen ebenso wie in der Balance der Ausführung. Alles in allem war es ein interessant sonderbarer Abend, zwischen Ehrgeiz, Vergnügen und Versprechen seine Mitte ­und seinen Schwerpunkt ­suchend. Ein runder, ein rundum toller Abend war es nicht. Das kann im zweiten, gestern mit Klassikern des 20. Jahrhunderts, ja noch gekommen sein.

Überdosis Glück

Die zweite grundsätzlich gute Nachricht: Wenn man Schuberts „Unvoll­endete“ mit samtweichen Samthandschuhen auf Händen trägt, wie die Briten es zu ­Beginn ihres Programms taten, ist das vermeintlich gut ­bekannte Stück immer wieder kaum wiederzuerkennen und sorgt für eine Überdosis Glück im Unglück, nicht zuletzt auch wegen der Tiefenschärfe und der Eindringlichkeit, die der Große Saal bieten kann.

In anderen Räumen wäre man schon froh, die leisen, wirklich sehr leisen Pizzicato-Achtel der tiefen Streicher kurz nach der Einleitung überhaupt klar zu hören. Hier war noch Platz für verfeinernde Ausgestaltung durch klitzekleine Crescendi und Decrescendi, ein aufschlussreicher Beleg für die Detailverliebtheit, deren elegante Befriedigung Rattle in seinen Philharmoniker-Jahren verinnerlichte. Und auch danach bewegten sich die hohen Holzbläser mit einer filigranen Vorsicht durch die zwei Sätze, dass man manche der Huster in den Saalrängen insgeheim dorthin wünschte, wo Schuberts Wienerwald übel dunkel und knietief schlammig ist.

Koženás Stimme wirkte nicht

Eigenwillig und letztlich auf hohem Niveau verunglückt waren im Anschluss Gustav Mahlers Rückert-Lieder, für die Rattle seine Ehefrau Magdalena Kožená als Solistin seiner Wahl präsentierte. Denn was in anderen Konzertsälen einfacher und problemärmer gewesen ­wäre, erwies sich in diesem Raum als Blockade: Dass Kožená direkt am Bühnenrand stand, der für Gesangs­solisten andernorts eine übliche Position wäre, tat ihrer Hörbarkeit in der nicht überall barmherzigen Elbphilharmonie keinen Gefallen.

Schon in Block E, knapp oberhalb der Bühne, kamen stellenweise nur noch Andeutungen dessen an, was Kožená an Aus- und Nachdruck in ihren Part hineinlegte. Und da sie ­offenbar selbst schnell bemerkte, wie problematisch ihr Standort war, verspannte sie immer mehr. Ihr Mezzosopran – charakterstark, aber nicht der größte – blieb hinter den Gestaltungsnotwendigkeiten zurück, die neben dem großen Orchesterapparat nach sanft getragener Schlichtheit und dem Leuchten eines Leitsterns verlangen. Koženás Stimme wirkte nicht, sie wirkte oft nur mit.

Gesamteindruck blieb unerfüllend

Anderer Komponist, neues Glück: In den drei großen Händel-Arien nach der Pause („Pensieri, voi ...“, „Scherza infida“ und „Dopo notte ...“) postierte sich Kožená günstiger, mittig hinter den Streichern und noch zwischen den Holzbläsern. Und dort kam sie, endlich, weiter aus sich heraus. Diese Musik lag ihr besser, doch muss sie sich dieses Diven-Repertoire inzwischen nicht nur mit virtuosen Kolleginnen, sondern auch mit jüngeren Countertenören teilen.

Diese Konkurrenz verleitet womöglich zu ­Aktionismus, so sehr, dass Kožená es oft übertrieb mit ihren Stop-and-go-Tempodehnungen und das spätbarocke Ausdrucksmaterial eigenwillig vernebelte. Dass Rattles neues Londoner Orchester – bei aller frisch erblühten Liebe – kein auf Originalklang trainiertes, historisch informiertes Spezialisten-Ensemble ist, sondern sich mit allem arrangieren kann, was ihm auf die Pulte kommt, machte sich in den ­Allerweltsphrasierungen ­bemerkbar.

Spätbarocker Prunk

Aufklärung und Wiedergutmachung sollte danach die Suite leisten, die Rattle selbst, noch als junger Vielversprechender in Birmingham, aus Rameaus letzter Oper „Les Boréades“ erstellt und nun für den nächsten Start mit einem neuen Orchester wieder aus seinem Repertoire-Archiv geholt hatte. Spätbarocker Prunk, der noch mehr Fingerspitzen­gefühl, Herzblut und Spielwitz verlangt als einige bekanntere Zeitgenossen.

Und auch hier, trotz Donnerblech und Windmaschine und etwas Trommel-Tamtam, blieb der ­Gesamteindruck unerfüllend, pauschal und, nun ja: bieder. Barocke Gefühlsausbrüche und gut ausgeleuchtete, klassisch gelernte Mittelwege vertragen sich nicht. Nach ­Rameau-Revolutionären wie Harnoncourt, Gardiner, Minkowski oder zuletzt Currentzis kann man mit Spielen auf ­Sicherheit bei Rameau nur alt aussehen.