Hamburg. Freispruch in „Cold Case“-Prozess schlägt Wellen. Soko-Chef und LKA-Leiter wegen dubioser Ermittlungen in interner Kritik.

Fehlende Dokumente in der Akte, „hoch dubios“ erscheinende Zeugenaussagen, möglicherweise „verbotene Ermittlungsmethoden“ – die scharfe Kritik der Vorsitzenden Richterin Anne Meier-Göring an der Polizeiarbeit im Rahmen eines „Cold Cases“- Prozesses zieht weite Kreise. Polizei und Staatsanwaltschaft kündigen eine genaue Aufarbeitung an; der 54-jährige Frank S., der vom Vorwurf der fraglichen Vergewaltigung im Jahr 1980 freigesprochen wurde, prüft weitere rechtliche Schritte.

Die falsche Verdächtigung habe seinen Mandanten sehr belastet, sagte der Strafverteidiger Jan Jacob dem Abendblatt. „Wir fordern eine Aufarbeitung und werden diese genau beobachten.“ Falls sie nicht im nötigen Umfang geschehen sollte, wären etwa Schadenersatzforderungen in Erwägung zu ziehen. Frank S. war vorgeworfen worden, im Jahr 1980 als 16-Jähriger ein gleichaltriges Mädchen vergewaltigt und mit zwölf Messerstichen nahezu getötet zu haben – die von der Soko „Cold Cases“ dazu vorgebrachten Indizien hatten aber nach mehreren Enthüllungen vor Gericht „kaum oder keinen“ Beweiswert mehr, wie die Vorsitzende Richterin festgestellt hatte.

Offiziell gibt man sich bei der Polizei gelassen

Bei der Polizei schlugen der Freispruch und vor allem die Ausführungen der Richterin wie eine Bombe ein. Offiziell gibt man sich gelassen. „Wir nehmen die Vorwürfe sehr ernst und werden den Vorgang intensiv aufarbeiten, um Fehler zu erkennen und zukünftig zu vermeiden“, sagt Polizeipräsident Ralf Martin Meyer, den die Nachricht bei einer Dienstreise im Baltikum erreichte. Vor allem weil die Urteilsbegründung noch nicht schriftlich vorliege, heißt es aus Kreisen der Polizei, könne man noch nicht konkret zu den Vorwürfen Stellung nehmen.

Die Richterin Anne Meier-Göring
Die Richterin Anne Meier-Göring © picture alliance/Daniel Reinhardt/dpa | Unbekannt

Hinter den Kulissen herrscht aber bei vielen Entsetzen. „Sollte sich bewahrheiten, dass nicht objektiv gearbeitet, sondern mit einer ganz konkreten Richtung ein Schuldiger konstruiert wurde, zerstört das Vertrauen und beschädigt die Polizei“, so ein Beamter. In ihrer Urteilsbegründung hatte die Richterin Anne Meier-Göring von „Anhaltspunkten“ gesprochen, dass es Fehlverhalten der Ermittler im Umgang mit allen wesentlichen Beteiligten des Prozesses gegeben haben könnte – es zeichnet sich nun auch immer mehr ab, dass die Staatsanwaltschaft nicht über den gesamten Verlauf der Ermittlungen im Bilde war. So fand sich etwa eine ­E-Mail des Opfers an Soko-Chef Steven Baack nicht in der Gerichtsakte – darin bezeichnete die Frau es als möglich, dass nicht Frank S., sondern der sogenannte „Göhrde-Mörder“ sie damals angegriffen haben könnte. Auch kam im Verlauf der Hauptverhandlungen mehrfach die Behauptung auf, dass die Ermittler etwa den Angeklagten mit dem Verweis auf mutmaßliche DNA-Spuren unter Druck gesetzt hätten, die es in Wirklichkeit nie gab.

Staatsanwaltschaft zweifelte an Sinneswandel von Zeugen

Im Zusammenhang mit der Aussage des zweiten Hauptbelastungszeugen Martin T. gibt es mehrere Vorwürfe: Auch ihm soll von DNA-Spuren berichtet worden sein; zudem habe der Soko-Chef Baack ihm von einer hohen Belohnung für Hinweise erzählt. Martin T. wurde außerdem selbst in jener Zeit einer Straftat bezichtigt – Baack schrieb daraufhin offenbar eine Mail an den Richter und betonte Martin T.s hilfreiche Hinweise in dem „Cold Case“-Verfahren.

Kommentar: Vertrauen beschädigt

Nach einer ersten Vernehmung, in der Martin T. die Tatwaffe nicht mit dem späteren Angeklagten in Verbindung brachte, sagte er bei einer zweiten Sitzung plötzlich, sie habe eindeutig Frank S. gehört. Die Staatsanwaltschaft hinterfragte den Sinneswandel des Zeugen nach eigenen Angaben mehrfach, beantragte aber schließlich einen Haftbefehl gegen Frank S.Auch dabei gab es Ungereimtheiten: In dem zugehörigen Bericht schrieb Baack zunächst, dass Frank S. bei der Verhaftung zugegeben habe, das Messer aus der Tatnacht bereits einmal in den Händen gehalten zu haben. Der Angeklagte sagte später, er habe davon gesprochen, dies möglicherweise getan zu haben. Zwei andere Polizisten, die bei der Verhaftung anwesend waren, können sich nach eigenen Angaben an die Aussagen nicht mehr erinnern.

Opfer der Vergewaltigung offenbar suggestiv befragt

Bei der Hauptverhandlung hatte die Richterin Anne Meier-Göring zudem festgestellt, dass das Opfer der Vergewaltigung offenbar suggestiv befragt worden ist. Viele „Insider“ bei der Polizei sehen die Vorwürfe dennoch abwartend: Denn Meier-Göring hatte bereits während eines Prozesses wegen der sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht 2015/2016 scharfe Kritik an der Polizeiarbeit geübt, die damals teils energisch zurückgewiesen wurde.

Dass es jedoch ganz offenbar vor dem aktuellen Prozess mindestens zu Fehlern bei den Ermittlungen gekommen ist, wird verwundert aufgenommen. Gerade die Dienststelle „Cold Cases“ habe keinen so extremen externen Erfolgsdruck, wie Dienststellen, die gefährliche Täter ermitteln müssen, die erneut zuschlagen könnten. Auf ein paar Monate mehr oder weniger Ermittlungsarbeit kommt es nicht an. Intern rätselt man nun, ob sich die Ermittlungsgruppe selbst zu sehr unter Druck gesetzt haben könnte, oder ob sie unter Erfolgsdruck gesetzt wurde.

Zudem wird neben der Zukunft von Soko-Chef Steven Baack auch der Chef des Landeskriminalamts, Frank-Martin Heise, hinterfragt. „Cold Cases“ gilt als sein Steckenpferd, er hatte auch die persönliche Führungsaufsicht über die Gruppe. Eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft sagte auf Anfrage des Abendblatts, dass sie den Fall intern ebenfalls nachbereiten würden.