Hamburg. Jahrelang wohnte die Erfolgsautorin in Altona. Hier beschreibt Dörte Hansen, warum Hamburg ihr vertraut und doch fremd geblieben ist.
Der Satz, der mir als Erstes in den Sinn kommt, wenn ich an Hamburg denke, ist dieser: Ich hatte eine Wand in Altona. Und zwar in einer Altbauwohnung, zweites Stockwerk, rechts. Sobald ich an sie denke, spüre ich ein Ziehen in der Herzgegend, vielleicht nicht so stark wie das, was Tania Blixen fühlte, wenn sie wehmütig an ihre Farm in Afrika zurückdachte. Aber doch stark genug, um jedes Mal, wenn ich heute durch Hamburg gehe, an diese Wand in Altona zu denken und mich für einen Augenblick zurückzusehnen in meine schmale Küche mit den alten Fliesen.
Es war ein Haus der Gründerzeit, zehn Parteien, vierstöckig, von denen es in dieser Stadt sehr viele gibt. Ganze Straßenzüge hat man in der Zeit um 1900 so gebaut: Etagenhäuser für die vielen Menschen, die zur Zeit der Industrialisierung plötzlich an die Elbe strömten. Arbeitskräfte für den Hafen und für die Fabriken der aufstrebenden Stadt. Es sind Häuser mit Fassaden, die sich zwischen Jugendstil und Neoklassizismus oft nicht ganz entscheiden können – und hinter den Fassaden Wohnungen, die knochenförmig aussehen mit ihren langen, schmalen Fluren, an deren Enden dann die Zimmer liegen.
Dörte Hansen: Leben im Hamburger Knochen
In Hamburg gibt es Tausende von diesen „Knochen“, und sie sehen alle aus wie der, in dem ich gut zehn Jahre lang zu Hause war: Pitchpine-Dielen, hohe Wände, an den Decken etwas Stuck und an den Küchenwänden diese typischen Hamburger Fliesen, blau oder grün gemustert. Meine waren grün, ein bisschen schnörkelig, aber noch schlicht genug, um zeitlos schön zu sein.
Man kann in Hamburg sehr viel prachtvoller wohnen als in einem Altonaer Knochen – in den herrschaftlichen Landhäusern und Stadtpalais an Elbe oder Alster, auch gediegener in den Kapitänshäusern von Övelgönne oder Blankenese, stilvoller in den alten Backsteinbauten der historischen Innenstadt, imposanter in den Neubauwohnungen der HafenCity, aber kein Wohnstil ist für mich mit so viel Hamburg-Gefühl verbunden wie der Knochen mit seinem winzigen Balkon zum Innenhof – und seinem Schlauch von Duschbad, 85 Zentimeter breit, das von Immobilienmaklern heute gerne etwas euphemistisch als „Hamburger Badezimmer“ bezeichnet wird.
Die Stadt hat mich geduldig aufgenommen
Vielleicht liegt es daran, dass diese Wohnungen für Menschen wie mich gebaut worden sind. Sie sind die Unterkünfte für die Zugewanderten gewesen, die Herangewehten, Neuen, Nicht-Hamburger, die sie hier die „Quiddjes“ nennen. Hamburg duldet seine Quiddjes, aber es umarmt sie nicht. Die Stadt hat mich, wie viele andere Landkartoffeln aus der norddeutschen Provinz, geduldig aufgenommen, etwas nachsichtig und eher höflich als herzlich, so kam es mir zumindest vor.
Mir gefallen diese Höflichkeit und diese vornehme Zurückhaltung. Hamburg kumpelt nicht wie Köln, es poltert auch nicht wie Berlin. Es schmeichelt nicht wie München, und es glitzert nicht wie Düsseldorf. In Hamburg hält man etwas Abstand, lässt ganz gerne eine Handbreit Luft zwischen sich und seinem Gegenüber.
Wie Helmut Schmidt einen Ritterschlag erteilt
Selbst wenn man jemanden mit seinem Vornamen anspricht, heißt das noch lange nicht, dass man ihn unbedingt gleich duzen muss! Die Hamburger haben den eleganten Mittelweg erfunden: „Peer, Sie haben bisher keinen schweren Fehler gemacht“ – so klang es beispielsweise, wenn Altkanzler Helmut Schmidt seinem Parteikollegen Steinbrück einen Ritterschlag erteilte, mit „Hamburger Sie“. Verbindlich, aber bloß nicht zu vertraulich! Man achtet auf die Zwischentöne, und man macht sich nicht so schnell gemein in dieser Stadt, mit nichts und mit niemandem.
1897, mitten in der Gründerzeit mit ihren vielen Neuankömmlingen, entstand der „Verein der geborenen Hamburger“. Man wollte sich ein bisschen abgrenzen von all dem fremden Volk, das da von außen auf die Stadt einströmte. Mir scheint, das tun die Hamburger auch heute noch ganz gern. Die feinen Unterschiede bleiben wichtig. Wer erst nach der Geburt in diese Stadt kommt, bleibt ein Quiddje, lebenslang.
Hamburger Hautevolee
Als „gebürtiger Hamburger“ darf sich immerhin bezeichnen, wer hier geboren wurde. Zum „geborenen Hamburger“ bringt man es aber erst, wenn schon die Eltern hier zur Welt gekommen sind. Und dann gibt es natürlich noch den harten Kern, den Inner Circle Hamburgs, die alteingesessenen Familien mit Namen, die nach Kanzlei, Kontor und Seehandel klingen: Amsinck oder Berenberg-Gossler, Jenisch oder Sieveking. Es soll sie jedenfalls noch geben, die Welt der alten und nicht ganz so alten Hanseaten, die sich im Übersee-Club zum Lunch treffen oder im Sommer zur Garden Party des Anglo-German Club geladen werden.
Die Hamburger Hautevolee, die das stilvolle Understatement pflegt, weltgewandt und anglophil ist – und selbstverständlich immer „comme il faut“ gekleidet. Goldknöpfe, Blazer, dunkelblaue Twinsets, all das gibt es wohl noch, aber als eingewanderte Nordfriesin und Altonaer Lebensabschnitts-Hamburgerin weiß ich das nur vom Hörensagen. Ich könnte ihnen allenfalls beim High Tea im Hotel Atlantic einmal kurz über den Weg gelaufen sein, aber selbst dann hätte ich die Herrschaften wohl nicht erkannt.
Herr Schmidt aus Langenhorn
Man muss allerdings kein Kaufmannssprössling, kein Reederssohn und keine Bankierstochter sein, um die hanseatische Lebensart zu verkörpern. Es braucht dafür nicht einmal eine Villa an Elbe oder Alster. Bestes Beispiel dafür, dass es anders geht, ist noch einmal Helmut Schmidt, der im Arbeiterstadtteil Barmbek geboren wurde und bis zu seinem Tod in einem Haus in Langenhorn zu Hause war – ganz und gar nicht das, was man in Hamburg eine Adresslage nennt.
Dass ein Herr Schmidt aus Langenhorn zum Inbegriff des Hamburger Hanseaten werden konnte, lag daran, dass er die einschlägigen Eigenschaften und Einstellungen verkörperte wie kaum ein anderer: Weltläufigkeit, Verlässlichkeit, Mut und Zurückhaltung. Dazu ein Pflicht- und Selbstbewusstsein, das gelegentlich die Grenze zur Arroganz touchierte. Auch diese Haltung ist noch immer Teil des Hamburger Nimbus: der Stolz des freien Bürgertums, der einem aristokratischen Standesbewusstsein in nichts nachsteht.
Hochmut und Bescheidenheit passen hier zusammen
„Es gibt über Dir keinen Herren und unter Dir keinen Knecht“, heißt es im hanseatischen „Ordelbook“ von 1271, und daran wird in Hamburg festgehalten. Bis heute ist es beispielsweise unter Senatoren, Bürgerschaftsabgeordneten und Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes verpönt, Auszeichnungen oder Orden anzunehmen. Selbstverständlich lehnte Helmut Schmidt das Bundesverdienstkreuz (mehrfach!) ab.
Auch Jan Philipp Reemtsma, Inge Meysel, Heidi Kabel, Hans-Ulrich Klose und Hans-Olaf Henkel machten von der „hanseatischen Ablehnung“ Gebrauch. Sie alle hätten es als unpassend empfunden, sich auszeichnen zu lassen. Wer ist man denn, dass man sich dekorieren lassen müsste? Hochmut und Bescheidenheit – in Hamburg geht zusammen, was andernorts als Widerspruch gewertet würde.
Sehnsucht nach der Wand
Meine Sehnsucht beim Gedanken an die Wand in Altona, dieses Ziehen in der Herzgegend, wenn ich an Hamburg denke, ist ein bisschen wie das Schmachten eines mittelalterlichen Troubadours, der seine Angebetete besingt und weiß, dass er sie niemals haben kann. Eine einseitige Liebe, unerfüllbar, daher etwas wehmütig und trotzdem schön.
Die hohe Minne
Diese Stadt ist mir ein Sehnsuchtsort geblieben, wunderbar und unerreichbar. Durch Hamburg gehe ich stets mit einer seltsamen Mischung aus Heimweh und Fernweh. Es ist mir ganz vertraut und bleibt mir fremd. Keine andere Stadt löst dieses wohlige, diffuse Sehnen in mir aus. Ein Hafengefühl: Winde weh’n, Schiffe geh’n. Anker lichten, bleiben wollen, weitermüssen. Von allen Großstädten ist Hamburg wohl die einzige, in der ich Wurzeln schlagen könnte – wenn ich kein Landmensch wäre.
Unter dem Teppich kam ein Pitchpine-Boden hervor
Als mein Mann und ich den Knochen kauften, Mitte der 1990er, war Altona noch keine teure Gegend, dieser Stadtteil galt noch nicht als schick, im Gegenteil. Altona war rumpelig und leicht verrufen, die Freunde aus der Alstergegend kamen lieber mit der Bahn, weil sie ihr neues Auto nicht in unserer Straße parken wollten. Zwielichtige Bahnhofsgegend, schmuddelig und ziemlich abgeschrammt
. Wir mussten selbst erst warm werden mit diesem Stadtteil, auch mit dieser Wohnung. Den Pitchpine-Boden finden unter dem Teppichboden der Vorbesitzer, die feinen Stuckornamente unter den dicken Schichten Deckenfarbe – und schließlich auch die alten Fliesen unserer Küchenwand, die unter weißen Baumarktfliesen versteckt waren. Wir haben sie in wochenlanger Arbeit freigepickert und auch nur die Hälfte retten können, viele waren durchgebrochen.
Spaziergänge an der Elbe
Aber ich hatte eine Wand in Altona und konnte, wenn ich in der Küche saß, den Hafen hören. Das Fiepen der Van-Carrier am Containerterminal, in trüben Nächten auch die Nebelhörner der ein- und auslaufenden Schiffe. Ich bin fast jeden Tag am Bahnhof Altona vorbei- und dann am Elbufer entlanggegangen bis nach Övelgönne, oft noch weiter, bis nach Teufelsbrück.
Da müssten eigentlich noch jede Menge Fußabdrücke von mir sein, Größe 38, Sneakers, Joggingschuhe, Winterstiefel, Sommersandalen. Als im Herbst 2002 unser Kind geboren wurde, war das der erste Weg, den wir in Hamburg als Familie gegangen sind. Vater, Mutter, Kind im Wagen, raus an die Elbe, es gibt ein Bild von uns dort, man sieht im Hintergrund das Augustinum und ein Stück Museumshafen.
Man sieht noch nicht, dass mit dem Kind der Abschied kam von Altona. Am Anfang passten wir noch gut zu dritt in unseren Knochen, das Kind war klein und leicht genug, man konnte es problemlos die zwei Treppen hochtragen, und es bewegte sich noch nicht sehr viel.
Im Zentrum der Gentrifizierung
Das Ende meiner Zeit in Altona kam mit dem Laufrad. Ich sah das Kind mit dem Marienkäferhelm durch den verdreckten Lessingtunnel fahren, im Slalom um verreckte Tauben, Müll und Hundehaufen cruisen, mich selbst im Schlepptau, wippende Lauchstangen aus dem Biosupermarkt im Rucksack, ein aufgeschrecktes Muttertier, das sich in diesem Habitat nicht mehr zurechtfand. Das fremdelte mit den Latte-macchiato-Müttern dieses Stadtteils, der plötzlich hip geworden war.
Unsere Kita lag in Ottensen, dem Epizentrum der Gentrifizierung, und ich saß auf Spielplatzbänken, hörte, wie die Eltern ihre willensstarken kleinen Töchter oder Söhne jede einzelne Stufe der Rutsche hinaufjubelten, sah sie ihre Kinder wie Preispokale durch die Ottenser Hauptstraße schieben und hielt es nicht mehr aus.
Wir taten das, was damals viele taten, wenn die Kinder größer wurden: Wir verließen unseren Hamburger Knochen und zogen raus, ins Grüne. Von Altona ins Alte Land, von der Etagenwohnung in ein Haus mit Garten, Apfelbäume vor der Tür und Bauern in der Nachbarschaft. Es war die richtige Entscheidung. Zehn Jahre Altona hatten aus nordfriesischen Quiddjes keine Stadtmenschen gemacht – und Hamburger schon gar nicht.
Es war nicht unser erster Umzug, auch nicht unser letzter. Aber kein Abschied ist mir je so schwergefallen wie der von meinem Knochen. Es dauerte zwei Jahre, bis ich durch unsere alte Straße gehen konnte, ohne dass es wehtat, und wenn ich heute an dem Haus in Altona vorbeigehe, spüre ich es immer noch, das Ziehen in der Herzgegend. Zwei alte Küchenfliesen habe ich noch, mit grünem Muster, ein bisschen angeknackst, von meiner Wand in Altona.
Der Text stammt aus dem neuen Magazin "Merian Hamburg", Jahreszeiten Verlag, 148 Seiten, 9,90 Euro, erhältlich im Zeitschriftenhandel
Hier geht's zum Literatur-Podcast des Hamburger Abendblatts