Hamburg. Die französische Starautorin Leïla Slimani erzählt in ihrem neuen Roman eine beklemmende Geschichte über das Begehren.

Vielleicht muss man gar nicht die Feststellung machen, man lerne hier vor allem etwas über das weibliche Begehren. Das kann durchaus sein, aber als männlicher Leser, der mit „All das zu verlieren“ einen ultraharten Roman über die Sexsucht einer Frau in den Händen hält, ist man versucht, das Drama der Romanheldin Adèle geschlechtsunabhängig zu sehen. Es geht um einen Menschen, der absolut im Banne des Triebs steht. Dem Trieb, es zu treiben. Immer wieder. Mit immer wieder anderen Geschlechtspartnern. Auf brutale Art und Weise. Einmal blutet ihr Geschlecht. Schlecht ist ihr ohnehin immer. Zur Not bezahlt sie ihre Lover. Sie lügt, sie betrügt, sie lässt ihren kleinen Sohn allein. Das alles, um sich lebendig zu fühlen.

Promiskuität als Ausweg, Nymphomanie als Schicksal: Davon erzählt Leïla Slimani in ihrem neuen Buch, das eigentlich ein altes ist. Es erscheint jetzt, ein halbes Jahrzehnt nach dem Original. Bekannt geworden, auch in Deutschland, ist die 1981 in Rabat/Marokko geborene Slimani mit ihrem vor drei Jahren mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Kindsmord-Roman „Dann schlaf auch du“. In dem gerät eine Familie an die ganz falsche Nanny, die ein ungeheuerliches Verbrechen begeht. Sagen wir es frei heraus: Die französische Autorin Leïla Slimani ist so unerschrocken auf der Nachtseite des Spätkapitalismus unterwegs wie keine andere. Das macht sie zur viel gelesenen Erzählerin: In Frankreich kauften Hunderttausende ihre Bücher.

Ein Werk über Obsessionen

Aber man muss gar nicht von Kapitalismus und Wohlstandsverwahrlosung sprechen. Es ist ein tief sitzender, grundsätzlicher Selbstvernichtungswunsch, der im Menschen sitzt. Das macht „All das zu verlieren“ nicht zur durchdringenden Diagnose der aktuellsten Gegenwart, sondern eher zu einem zeitlosen Werk über Obsessionen. Sie sind die Dämonen, die ein Leben zerstören können.

Dabei ist doch das Innerste dieser Frau, die Slimani in einer kühlen Prosa beschreibt, die sich dennoch zu mancherlei Pathos aufschwingt, ist doch der Kern all ihres Tuns das Begehren. Ein Begehren, das zu einer Steigerung des Lebensgefühls führt; eine Feier des Augenblicks, im nächsten Moment schon vergessen, dann muss der nächste Mann her. Einmal heißt es: „Sie erinnert sich an nichts Genaues, doch Männer sind die einzigen Bezugspunkte ihres Daseins. Zu jeder Jahreszeit, jedem Geburtstag, jedem Ereignis in ihrem Leben gehört ein Liebhaber mit verschwommenen Zügen. Ihr Vergessen ist durchzogen von dem beruhigenden Gefühl, im Verlangen der anderen tausendfach gelebt zu haben.“

Sie will Glanz, Glamour, Müßiggang

Ihr Ehemann Richard ist ein Chirurg mit Ambitionen. Im Verlaufe der straff gehaltenen Handlung wechselt der Roman immer wieder auch in seine Per­spektive – und damit mehr als nur in die Abteilung gehörnter Ehemann. Slimani, die kürzlich in einem Interview sagte, sie wolle ihre Protagonistin „retten“, sie wolle, „dass Menschen sie lieben“, braucht einen maximal hilflosen Mann, um die Misere ihrer beschädigten Heldin auszuschöpfen. Rettbar erscheint im Leben der mannstollen Journalistin Adèle gar nichts. Sie ist hoffnungslos verstrickt in ihr Begehren, das keine anderen Leidenschaften zulässt. In der psychologischen Geschlossenheit des Romans wird Adèles Charakter seziert. Sie hasse „die Vorstellung, dass sie arbeiten muss, um davon zu leben“, heißt es.

Sie will Glanz, Glamour, Müßiggang, will nichts mehr als „schön sein“, wenn der Gatte heimkommt. Schauspielerin wollte sie werden, das dann doch; aber ihre Träume erfüllen sich nicht. Vielleicht war die Idee mit der Schauspielerei Anlass für eine Rezensentin, in Adèle vor allem eine im falschen Leben Gefangene zu sehen, die irritierenderweise den Ausweg – Jobkündigung, Scheidung – nicht findet. Diese Sichtweise verkennt die in diesem Roman völlig anders angelegte Persönlichkeitsstruktur der Heldin. Die bürgerliche Existenz mit Kind soll zwar (erfolglos) den Überdruss heilen, vor allem jedoch soll er ihr „die Aura der Achtbarkeit“ geben, mit der sie ihre Ausschweifungen camouflieren kann.

Die verzweifelte Wahllosigkeit des Begehrens

Es ist der nackte, pure Trieb, der sie durch den Alltag leitet. Es gibt keine Sublimation, nur Körperlichkeit, und diese Körperlichkeit ist immer in Gefahr, demaskiert und entdeckt zu werden. Es ist aber nie das Verbotene, das den Reiz ausmacht. Die kein Risiko scheuenden sexuellen Arrangements – bei einem Dinner schmeißt sie sich auf allerdrastischste Weise an den Chef ihres Mannes heran – vollziehen sich vor der Unausweichlichkeit des Entdecktwerdens. Dass es damit so lange dauert, könnte man als narrative Übertreibung ansehen. Slimani braucht in der Logik ihrer Erzählung einen Typ Mann, der für das blind ist, was nicht seinen eigenen Vorstellungen entspricht. Als er sie kennenlernt, ist Adèle „seine Neurose, sein Spleen, sein Idealbild. Sein anderes Leben“.

Er verlässt sie nicht, als er von ihren Umtrieben erfährt. Dank seiner Profession erkennt er die Krankheit und will sie heilen, aber die Statik der Ehe hat sich für immer verändert. Die Qualität des Textes äußert sich in der Beklommenheit, die einen bei der Lektüre nie verlässt. Die Sexsucht folgt ihren eigenen Regeln, und die haben, wenn es hart auf hart kommt, mit der Attraktivität der Männer nur wenig zu tun. Zum Trieb gehört die Wahllosigkeit der Partnerwahl. Adèle möchte sich fühlen, indem sie hart genommen wird, und fühlt dann aber doch immer nur in einem Paralleluniversum, in dem es sowieso nie genug ist. Die Frage, die in dem Roman nicht gelöst wird, die unter Umständen nicht gelöst werden kann, ist die nach der Leere.

Und ob die Frau, die sich zum Objekt der männlichen Begierde macht, nicht doch eine dunkle Erfüllung findet.