Hamburg. Die Wandelhalle ist eine Goldgrube. Der Bahnhof boomt gegen alle Trends. Ein Report von Christoph Rybarczyk und Sandra Schröpfer.
Jeden Tag kommen 550.000 Menschen in den Hamburger Hauptbahnhof. Aber dieser Mann hatte es besonders eilig, die Wandelhalle zu verlassen. Die Whiskyflasche, die er bei Edeka Tamme im Obergeschoss aus dem Regal gerissen hatte, hielt er fest umklammert, als er die Treppe hinuntersauste und in Richtung Schauspielhaus spurtete. Der Dieb überquerte die Kirchenallee und wusste: Da sitzt mir einer im Nacken.
Lars Tamme (49), schlank, groß, aber mit einem kleinen Handicap ausgestattet, wollte sich diesen Typen kaufen. „Ich hatte Lederschuhe an, ich war nicht ganz so schnell“, sagt der Lebensmittelunternehmer. Tamme rannte. Auf dem Weg ins wuselige St. Georg wollte er gerade aufgeben. „Da überholt mich einer und sagt: ,Gleich hab ich ihn.‘“ Es war ein Zivilfahnder, der den Whiskydieb in einem lang gezogenen Sprint niederrang.
Edeka-Mann Lars Tamme – ein ungewöhnlicher Kaufmann
Lars Tamme hat drei Edeka-Läden: einen in Altona, einen am Flughafen, einen am Hauptbahnhof. Mehr geht nicht. Mehr will er nicht. Eigentlich. Denn: „Hier ist ein Schlaraffenland für Diebe.“ Doch so aufregend wie an Deutschlands größtem Eisenbahn-Knotenpunkt ist der Einzelhandel nirgends. „Wenn ich zu meinem Laden am Flughafen fahre, ist das wie Urlaub.“
100 Mitarbeiter hat Tamme, die Hälfte von ihnen am Hauptbahnhof. Dass überhaupt mal ein Dieb geschnappt, der Täter auch im buchstäblichen Sinne verfolgt wird, das ist recht selten. „Ich ruf die Polizei an und frage: Was ist mit dem von Donnerstag? Und der Freitag? Und die beiden vom Sonntag? Und ich höre: eingestellt, eingestellt, nicht zu ermitteln, eingestellt.“ Mal schlägt ein Kunde einer Kassiererin ins Gesicht. Aus dem Nichts, einfach so. Mal steht einer vorm Getränkeregal, setzt die Wodkaflasche an und trinkt sie auf Ex.
„So schnell kannst du gar nicht gucken“, sagt Tamme. Geld oder EC-Karte hat dieser Kunde dann meist nicht zur Hand. „Und an der Kasse werden meine Mitarbeiterinnen angebaggert. Da braucht man schon den richtigen Spruch zur richtigen Zeit.“
Gosch: 1000 Fischbrötchen am Tag – und mehr
Rau ist das Klima am Hamburger Hauptbahnhof. Zugig. Der Wind pfeift von außen rein, die Kälte kriecht morgens von den Gleisen hoch. Im Sommer entweicht die Hitze in die luftige, 37 Meter hohe Dachkonstruktion des Gebäudes aus dem Jahr 1906. Und immer Trubel. Von null bis 24 Uhr. Zwischen sechs und 23 Uhr ist die Wandelhalle geöffnet, 365 Tage im Jahr. Was sind das für Charaktere, die hier arbeiten, die sich diesen Basar der mobilen Moderne jeden Tag antun?
Einer ist Jan-Eric Spieler (57), Betriebsleiter bei Gosch. Spieler war Hotelmanager im Crowne Plaza in Rochester im US-Bundesstaat New York und managte das Holiday Inn am quirligen South Beach von Miami. Der Hamburger Hauptbahnhof ist für ihn sehr speziell. Gosch, ursprünglich nur auf Sylt, macht in Fisch. Bis zu 1000 Fischbrötchen gehen hier jeden Tag über den Tresen. Fisch liegt nicht wirklich in irgendeinem Ernährungstrend. Hier aber sind die Umsätze stabil, eher noch wachsend. Vor drei Jahren kostete ein Kilo Krabben 19,85 Euro. Heute sind es fast 50 Euro pro Kilo.
Egal, die Leute lieben Gosch. Ab 6.30 Uhr liegen die frisch geschmierten Brötchen in der Glasvitrine. Bismarck, Matjes, Krabbe. Spieler schätzt, dass Gosch in der Wandelhalle etwa 35 Prozent Stammgäste hat – ein hoher Wert. „Manche kommen auch nur einmal pro Woche wie eine Gruppe am Sonnabendmittag. Die essen hier Seezunge oder Zander und trinken ein Glas Weißwein dazu.“ Das hat mit drei Euro einen Schnäppchenpreis. Einige Stammkunden kommen auf ein Bier zum Fernsehen, wenn es abends zu Hause einsam wird.
Bombenstimmung – leider auch buchstäblich
Und das schätzen die Mitarbeiter, die zu fünft bis 23 Uhr am Herd stehen und bis 0.30 Uhr putzen. Der Durchschnittsangestellte bei Gosch am Hauptbahnhof ist sechs Jahre da, einige sind es länger als zehn Jahre. Selbst ungelernte Einsteiger erhalten oft 2,30 Euro mehr als den Mindestlohn von 8,84 Euro. Für Leistungsträger geht der Stundenlohn auf 15 Euro hoch. „Alle haben am Wochenende das Handy an, falls Bedarf ist. Hier kommt keiner zu spät, es gibt kaum Krankheitsfälle“, sagt Spieler. Wegen der vielen Kunden aus jedem Teil von Europa, den USA und Asien haben einige Mitarbeiter quasi im Job Englisch gelernt.
„Wenn Sie Kellner im Restaurant sind“, sagt der Gosch-Mann, „kennen Sie nach kurzer Zeit jede Faser des Teppichs, so oft haben Sie da draufgeschaut. Hier ist immer Abwechslung und immer Stimmung.“ Das kann auch Bombenstimmung sein. Terroristen töten Passanten in Paris, Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz – da gehen am Hamburger Hauptbahnhof die Umsätze runter. „Nach Berlin war es hier eine Woche tot“, sagt Spieler in seiner knappen, nüchternen Art. Bombenalarm am Hamburger Hauptbahnhof selbst? Passiert mehrmals im Jahr. Ist schon Routine. „In drei Minuten müssen alle raus sein.“ 180 Sekunden, bis die Wandelhalle leer ist.
Und die Kriminalität? Ach Gott, ja, Hauptbahnhof halt, sagt Spieler. „Auf dem Südsteg ist doch viel mehr Krimi, diese Enge dort, das ganze U-Bahn-Publikum.“ In der Wandelhalle gibt es außer den DB-Kunden deutlich mehr S-BahnFahrgäste. Heißt in diesem Fall: die S 1 mit Fahrgästen aus Blankenese, Ohlsdorf, Poppenbüttel – nicht zufällig ist das die grüne Linie. Hier gibt’s den wenigsten Ärger.
Deutsche Bahn: In der unbekannten Sicherheitszentrale
Die S-Bahn, den Dieb und sicher auch den laufenden Edeka-Mann Tamme hat Claudia Westphal (45) im Blick. Sie ist bei der Deutschen Bahn die Schichtleiterin in der 3-S-Zentrale. Das steht für Service, Sauberkeit, Sicherheit. Für die Bahn die wichtigsten Versprechen, noch vor Pünktlichkeit.
Voller Hindernisse ist der Weg zu Claudia Westphal hinter der unscheinbaren Tür rechts vom Wandelhallen-Eingang Kirchenallee. Die Tür wird nach genauer Identifizierung kurz geöffnet. Der nächste Zugang ist nur mit Sicherheitskarte möglich. Dann folgt eine Personenschleuse: Alle Mitarbeiter oder Besucher müssen hier rein, Eingangstür zu, Schleuse dicht, Zugangstür auf. Drin. Kameras gucken immer zu.
Die Chefin der 3-S-Zentrale hat alle Hamburger S- und Fernbahnhöfe im Blick, von 22.30 Uhr bis sechs Uhr morgens auch die in Schleswig-Holstein und viele in Niedersachsen. Dann sind es 250. Sie kann sich überall „draufschalten“. Claudia Westphal trägt eine bahnblaue Uniform mit roter Krawatte. In ihrem schummrigen Raum, vielleicht sieben mal sieben Meter klein, überwachen rund um die Uhr vier Mitarbeiter Bildschirme aller Größen und fast jeden Baujahrs: Hier gibt es Flachbildgeräte, gewöhnliche Computer-Monitore, Mega-Displays, eine Art Röhrenfernseher.
Sie zeigen Bilder aus Überwachungskameras, die Strickmuster der Bahnlinien und die Züge mit ihren Strecken und den Verspätungen. Vier Leuchtröhrenreihen kleben an der Decke, nur eine ist zum Teil an. Lamellen am Fenster lassen das Tageslicht draußen. Die hier das Helle scheuen, sehen im Dunkel der Bahnsteige, Treppen und Nischen die Verdächtigen; antworten sofort, wenn in Bergedorf der Aufzug stockt, ordern Hebebühnen für Rollstuhlfahrer. Und sie schalten die Kameras auf den jungen Mann, der gerade den Notruf gedrückt hat, weil er wissen will, wann endlich sein Zug kommt. Er muss schnell nach Hause. Mit diesen eigenwilligen Interpretationen von „Notfall“ ist die 3-S-Zentrale mehrmals am Tag konfrontiert.
Wer hat das Sagen am Hauptbahnhof?
Die Bahn gilt als Hausherrin. Doch wer hat wirklich das Sagen am Hamburger Hauptbahnhof? Die Bundespolizei vertritt die Ordnungsmacht, nicht etwa die Hamburger Beamten in Blau. Der in alle Richtungen offene Hauptbahnhof ist wirtschaftlich in mindestens drei Zonen aufgeteilt. Die Wandelhalle mit ihren 48 Geschäften, dem Gastrobereich und Dienstleistern reicht vom Eingang Spitalerstraße/City bis zu der unscheinbaren Bodenfuge am Reisezentrum Ausgang Kirchenallee. Dahinter ist „Bahn-Land“. Der enge Südsteg wird komplett vom Staatskonzern gemanagt, ebenso die Bahnsteige mit ihren überaus profitablen Snackautomaten und den Mini-Läden Spar Express. Hier verdient die Bahn an jedem Snickers mit.
Der König vom Hauptbahnhof?
Im Tunnel vom Südsteg zur Mönckebergstraße verläuft die nächste unsichtbare Grenze. Der vermutlich beliebteste (und günstigste) Döner-Kiosk vor dem Aufgang zur Mö gehört schon zum Terrain der Sprinkenhof AG, Hamburgs stadteigener Immobilienfirma. Im Dreizonenland Hauptbahnhof ist die Wandelhalle der Platzhirsch. Seit 1991 floriert hier ein Shoppingcenter mit Gleisanschluss.
Was kaum jemand weiß: Die Wandelhalle gehört einem geschlossenen Immobilienfonds. Gemanagt wird die Betriebsgesellschaft von Daniel Martens (42). Einige nennen ihn den „König vom Hauptbahnhof“. Doch der überaus sachliche Mann würde das weit von sich weisen. „Die Frequenz bietet gute Chancen, erfolgreich am Standort zu sein. Aber auch hier gilt, die Kunden auf sich aufmerksam zu machen, ein attraktives Angebot zu führen und täglich gute Qualität sowie Service zu bieten. Schnell und gut muss man sein“, sagt Martens.
Martens ist der Herrscher über die Zahlen, die Quadratmeter, die Mieten, die Umsätze. Und wie bei allen Kaufleuten am Hauptbahnhof werden auch ihm öffentlich nie die Zahlen zu entlocken sein, die die wirtschaftliche Kraft dieser „Goldgrube“ (O-Ton eines Ladenbesitzers) beziffern. In jedem Fall ist der Hauptbahnhof Hamburgs ungewöhnlichster Milliardär. So viel wird hier mindestens jedes Jahr umgesetzt.
Und kein Onlinehandel wie sonst in der City wird diese kleine Boomtown ersetzen können. Es sei denn, das Franzbrötchen und das Chicken Tikka Masala kommen künftig aus dem 3-D-Drucker, und niemand fährt mehr Bahn …
Wandelhalle an der Grenze des Wachstums
„Schwer zu bewirtschaften“ sei der Ort, sagt ein Immobilienexperte dem Abendblatt. Er hat Hochachtung vor Martens’ Managementfähigkeiten. Die Wandelhalle ist begrenzt, ja beengt sogar zu den Spitzenzeiten. Erweitern kann sie sich theoretisch nur über die Gleise. Pläne für eine Expansion des gesamten Hauptbahnhofes gibt es schon lange. Dafür müssten die Gleise überbaut, der Verkehr völlig neu geregelt werden. Richtung Kunsthalle existiert nur eine schmale Gasse, in der die Lkw parken, um Nachschub für Tamme und Co. ranzuschaffen. Hier gelingt jeden Tag ein kleines logistisches Meisterwerk. Man kann auch sagen: Knochenjob. Vorfahren, ausladen, auspacken, rumräumen, wegpacken, Abfahrt.
"Hauptbahnhof ist eine Gelddruckmaschine"
Andererseits, sagen Anlagefachleute, sei die Wandelhalle nicht zu überbieten: zentral, ständig steigende Besucherzahlen, große Affinität zu den Kunden, sehr hohes Mietniveau, lange Öffnungszeiten. Ein Kaufmann hier sagt: „Der Hauptbahnhof ist eine Gelddruckmaschine. In den Fonds hätte ich damals auch gern investiert.“ Und dieser Fonds DG ImmobilienAnlage Nr. 22 macht jetzt Kasse. Vor Jahren schon wurde der erste Teil veräußert, ein Bürogebäude in München. Jetzt wurde die Bank BNP Paribas beauftragt, den Verkauf der Wandelhalle zu betreuen.
Gut 37 Millionen Euro beträgt das nominelle Eigenkapital des Fonds. Der Kaufpreis wird um ein Vielfaches höher sein, ein dreistelliger Millionenbetrag. Es gibt nach Abendblatt-Informationen rund zehn Bieter, alle mit Erfahrungen in Gewerbeimmobilien und Einzelhandel, im ersten Quartal 2018 soll der Deal fix sein.
Wo Wladimir Klitschko Blumen kauft
Zu den Mietern der ersten Stunde zählt Blumen Petzoldt. Seit 15 Jahren arbeitet hier Janina Wischmann, Leiterin der beiden Filialen in der Wandelhalle. In dem Laden am Eingang Kirchenallee, direkt unter der Bahnhofsuhr, hütet sie einen Schatz des Hauptbahnhofs. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Türkisgrün schimmert es von den Wänden, die Decke erstrahlt in Gold. Die Fliesen, die den Laden seit 1927 schmücken, machen ihn zu einem von wenigen Baudenkmälern der Art-déco-Epoche, deren Inneneinrichtung noch intakt ist.
„Wer in dieser Atmosphäre arbeitet, nimmt die laute Umgebung gleich weniger wahr“, sagt Wischmann. Die Floristin ist dankbar, dass alle Arbeitsplätze nach dem Tod des Petzoldt-Gründers vor rund fünf Jahren erhalten geblieben sind. Das Unternehmen, zu dem ein dritter Laden im Alstertal-Einkaufszentrum gehört, ging damals in einer Stiftung auf. Bezahlt werde nach Tarif, zwischen 1400 und 2300 Euro brutto sind das im Monat. „Wir können sehr zufrieden sein“, sagt Wischmann, während sie einen Strauß Rosen bindet. Um die zehn Sorten davon stehen immer zur Auswahl. „Rosen sind Selbstgänger.“
Zwischen 200 und 300 Kunden bedienen Wischmann und ihre neun Mitarbeiterinnen Tag für Tag. Gut 90 Prozent von ihnen Laufkundschaft. Stammkunden sind die großen Hotels der Nachbarschaft. Schon Helmut Schmidt soll hier seiner Loki rote Rosen gekauft haben, gern gesehen sind auch Udo Lindenberg und Wladimir Klitschko. Petzoldt hat den Brautstrauß eine halbe Stunde vor der Trauung oder das „Ermunterungsgesteck“ nach der Scheidung. An das betrunkene Partyvolk, das seinen Rausch schon mal zwischen Tulpen und Nelken ausschläft, habe man sich gewöhnt. So sei das am Bahnhof eben.
Warum Edeka sonntags kurz schließen muss
Am Wochenende, wenn die City schläft, tobt bei Tamme das wahre Leben. Sein Edeka muss regelmäßig für eine Viertelstunde oder länger geschlossen werden – wegen Überfüllung. 80 Tonnen aus der Salatbar gehen hier jedes Jahr über den Tisch, mit frisch geschnippelter Paprika, Tomaten und allem, was da rein gehört. Sonnabends und sonntags wird vor allem die Drei-Liter-Wodkaflasche für 60 Euro nachgefragt, dazu eine 24er-Palette Red Bull. Tammes Supermarkt ist eine Tankstelle für das Partyvolk. Mit dem Füllen der Regale kommen seine Mitarbeiter kaum nach. „Wenn ich eine Lieferung mit 60 Rollcontainern kriege, dann sollte keiner der beiden Fahrstühle ausfallen oder blockiert sein.“
Kein Kunde ahnt die Hektik, der die Mitarbeiter hier ausgesetzt sein können, ob im Food Court bei Salli’s Döner, am Sushistand oder im winzigen Lager bei Edeka. Regelmäßig knallt der Rollcontainer vom Fahrstuhl gegen die Wand. Husch, husch, zack, zack müssen die Paletten in den Laden. Die abgeschrammten Flächen an der Wand lässt Tamme nicht mehr streichen. Rollt ja eh morgen der nächste Container gegen.
Ein Substitut kann 2500 bis 3000 Euro verdienen. Aber geeigneten Nachwuchs zu finden, das ist schwer. „Da kommen Bewerber, die hatten mit 24 schon zehn Arbeitgeber. Die leben in den Tag hinein“, schimpft Tamme. Am Hauptbahnhof ist die Motivation im Job vergleichsweise groß, sagen auch andere Wandelhallenmitarbeiter dem Abendblatt. „Es ist hektisch, schnell, aber eben abwechslungsreich“, heißt es. „Unter Druck zu arbeiten ist auch der besondere Reiz.“
Champions League am Hauptbahnhof schauen
Wer hier sein Brot verdient, zählt zu einem eigenwilligen Stamm, einem sturmerprobten, trotzigen wie die Gallier bei „Asterix“, einem stolzen, denn die guten Seelen hier halten die mobile Gesellschaft am Laufen. Und einem weltstädtischen. Die Atmosphäre ist tagsüber auch nicht anders als am Grand Central in New York, am Bahnhof Shinjuku in Tokio oder in Milano Centrale.
Nur abends wird es bisweilen seltsam gefühlig, bevor der letzte ICE nach München oder Berlin entrauscht ist. Dann läuft die Champions League auf Großbildschirmen, bei „Wurst und Durst“ wird Bier gezapft. Nur Gestrandete? Ein bizarres „Nachtasyl“ wie im Drama von Maxim Gorki? Eher eine Wohlfühlhalle. Wenn man denn die ziellos Betrunkenen und notorischen Randalierer ignoriert. Eine blaue Stunde beginnt, zu der viele Ureinwohner aus dem angrenzenden St. Georg in ihr „Einkaufszentrum nach Ladenschluss“ kommen. Sie sitzen an der Bierbar und blicken der unternehmensberatenden Rollkoffer-Mafia nach, die aus der DB Lounge zu Gleis 14 schnurrt.
Zwischen "Keksdose" und Mönckebergstraße
Die Gäste haben Redebedarf. Schlanke Gläser mit frisch gezapftem Pils stehen auf den Tresen, ein Hauch von Schwermut zieht unter das Gewölbe der Hamburger Architektur-Ikone. Warum kommt ein eingeborener Hanseat abends zum Hauptbahnhof? „Ist doch irgendwie kuschelig hier“, heißt es dann. „Man kennt sich.“
In der Spätschicht fährt dann noch manchmal Vorarbeiter Dirk Krüger mit seiner Reinigungsmaschine der Deutschen Bahn über den Südsteg. Zwei Laufbahnen sind hier aufgezeichnet. Damit das eilige Publikum weiß: Hier gilt Rechtsverkehr. Seit mehr als zehn Jahren arbeitet Krüger am Hauptbahnhof. Auf den 200 Metern zwischen den Schließfächern an dem „Keksdose“ genannten Bahngebäude und dem Tunnel zur Mö hat er schon Tausende Kilometer auf seinem Putz-Bock abgerissen. „Muss ja sauber sein“, sagt er. Bis morgen früh die ersten der nächsten 550.000 kommen.