Hamburg. Die Alte Meierei auf St. Pauli feiert 150-Jähriges Bestehen. Heute wird wieder Käse und Feines dort verkauft.

Dort, wo Ingrid Schulz auf ihrem Stuhl sitzt und einen Cappuccino trinkt, stand sie schon als Kind. „Das hier war der Tresenbereich“, sagt sie und zeigt auf die roten Fliesen auf dem Boden. „Und das mit den rot-weißen Fliesen war der Ladenbereich.“ Die 70-Jährige ist in Gedanken auf dem St. Pauli der 1950er-Jahre. Und es ist, als wäre es erst gestern gewesen, dass die kleine Ingrid in der Alten Meierei an der Clemens-Schultz-Straße ihren Eltern beim Milch-, Eier- und Käseverkauf half. Der Kreis der Geschichte schließt sich. Wieder geht es in der Hausnummer 54 um Käse, um Produkte aus der Region. Heute gibt es die Alte Meierei 150 Jahre. Inzwischen heißt sie „Meierei Sankt Pauli“ – eine liebevoll renovierte Speise-, Schank- und Warenwirtschaft. Vergangenheit und Gegenwart treffen hier aufeinander.

Zwölf Kilo Leergewicht – schätzungsweise. So viel wiegt die schwere eiserne Milchkanne, die Ingrid Schulz an diesem Vormittag in das Lokal schleppt. Die rote Kanne mit der Aufschrift „Paul Rübke“ ist ein Geschenk an Sarah Schulze und Heiner Harhues. Die beiden Freunde haben das alte Ladengeschäft im Sommer übernommen und ein Lokal daraus gemacht. Viele Bewohner rund um die Clemens-Schultz-Straße kennen den Laden vor allem wegen Renate Reinecke. Sie war eine Institution im Viertel: Rund 25 Jahre hat sie hier Käse und Wein verkauft. Traurig: Kurz vor ihrer Rente 2008 verstarb Renate, die jeder mit dem Vornamen ansprach.

Historie geht weit zurück

Doch die Historie geht viel weiter zurück in die Zeit der Pferdekutschen und Milchmänner. Johann Hinrich Dahms und seine Frau Elisa haben das Geschäft 1869 gegründet. Damals hieß die Straße noch Kieler Straße. Das Ehepaar Dahms sind die Urgroßeltern von Ingrid Schulz, die dort aufgewachsen ist und an diesem Vormittag die neuen Inhaber Sarah und Heiner mitnimmt auf eine Reise in die Vergangenheit. „Meine Großmutter Elsa wollte auf keinen Fall einen Milchhändler heiraten“, erzählt Ingrid Schulz beim Frühstück. Um nicht an einen Milchhändler zu geraten, war Elsa damals statt auf den Milchhändlerball auf den Ball der Bauwirtschaft gegangen und verliebte sich in den Soldaten Paul Rübcke.

 Ingrid Schulz zeigt auf ein Foto, auf dem ihr Großvater in Uniform abgebildet ist. „Es stellte sich heraus, dass der aber aus einer Milchhändlerfamilie aus Altona kam“, sagt Ingrid und lacht. Bis 1979 führte ihre Familie das Milchgeschäft. „Mit dem Aufkommen der Supermärkte lohnte sich das wirtschaftlich nicht mehr“, sagt Ingrid­ Schulz, die Verwaltungsfachangestellte wurde, genau wie ihr Ehemann Hugo, mit dem sie in Langenhorn lebt.

Nahversorgung funktionierte

Ihre Kindheit auf St. Pauli hat Ingrid Schulz, die jünger wirkt als 70, sofort wieder vor Augen. „Mein Kinderzimmer war über dem Laden, und ich wachte immer auf, wenn mal wieder die Feuerwehr direkt auf unser Haus mit Sirene zufuhr.“ Damals brannte es aufgrund der vielen Öfen in den Wohnungen häufig.

Die Nahversorgung mit inhabergeführten Läden funktionierte in Zeiten, bevor es Supermärkte und das Internet gab, auch: In den 1950er-Jahren gab es fünf Milchgeschäfte in der Umgebung. Außerdem fünf Bäckereien, Gemüse­höker, Schlachtereien, Fischgeschäfte, Kohlenhändler und, und, und. Von den alten Bäckereien sind Rönnfeld und Schumann übrig. „In jedem Haus war im Erdgeschoss ein Gewerbebetrieb“, erzählt Ingrid Schulz. Ihr Großvater war nicht nur Milchhändler, sondern auch Butterprüfer und Lehrer an der Berufsschule für Milchhändler. „In unserem Laden war sonntags die praktische Prüfung für die Lehrlinge. Diejenigen, die noch nicht dran waren, warteten in unserer Wohnung und waren sehr nervös.“

Ein hartes Leben

Für die Kühlung der Butter, Sahne und Milch lieferte der Eismann Stangeneis. Denn Kühlschränke gab es noch nicht. „Die Milch wurde morgens von der Meierei geliefert und kam in die Eisenkannen mit je 20 Litern, die Butter in 20-Kilo-Blöcken“, weiß Frau Schulz noch. Ihr Vater, Jahrgang 1914, musste jeden Tag um 5 Uhr aufstehen und schon als Kind mit anpacken: 5000 Flaschen Schulmilch musste er mit seiner Schwester abfüllen, bevor sie selbst in die Schule gingen.

Ein hartes Leben war das. „Urlaub haben wir nicht gemacht, der Laden war an 365 Tagen im Jahr geöffnet“, so Ingrid Schulz. Nur einmal haben sich ihre Eltern eine Woche freigenommen. „Ich wurde im Sommer sechs Wochen ins Schullandheim in die Heide geschickt.“ Unter so vielen Kindern zu sein gefiel ihr als Einzelkind besonders gut. Weniger schön fand sie, dass jeder im Viertel die kleine und später die erwachsene Ingrid kannte. „Alle wussten, mit wem ich unterwegs war. Ich stand ganz schön unter Beobachtung.“

Eine Collage aus historischen Fotos der Alten Meierei St. Pauli.
Eine Collage aus historischen Fotos der Alten Meierei St. Pauli. © Meierei St. Pauli | Meierei St. Pauli

Ingrid Schulz bestellt noch einen Cappuccino und erinnert sich: „In den 60er-Jahren kam ein Kunde zu uns, der vom Zirkus auf dem Heiligengeistfeld war. Die brauchten für ihre Afrikanischen Elefanten täglich viele Liter Milch mit 20 Eiern darin.“ Daraus wurde eine Tradition: Mit dem Zirkus Carl Althoff begann die Milchlieferung an die Elefanten, später waren es dann die Zirkusse von Rudi Althoff, Sarasani, Heros und anderen. „Mein Vater fuhr morgens in den Zirkus und nahm Bestellungen auf, die dann im Laden fertig gemacht und nachmittags ausgeliefert wurden.“

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Heute ist die „Meierei Sankt Pauli“ für „die besten Gnocchi der Stadt bekannt“, sagt Sarah Schulze. Die 40-Jährige hat mit Heiner Harhues den Schritt in die Gastronomie gewagt. Weil sich Einzelhandel allein nicht lohnt, verkaufen sie Käse, Wein und Delikatessen kleiner Manufakturen, leben aber von der Gas­tronomie. Die Möbel hat Heiner Harhues mit Materialien aus dem Hafen selbst gebaut. Wenn sie vom Ladengeschäft sprechen, reden sie vom „Ding“. „Und dieses Ding hat Flair“, sagt Heiner. Und dieses Ding war ganz schön marode, als die beiden den Laden übernommen haben.

Das Geschäft ist von Grund auf saniert, liebevoll mit vielen alten Elementen. Von der Stange gibt es hier nichts. Einmal die Woche möchte Heiner Harhues, der lange Zeit die Fischbrötchen-Bude „Kleine Haie Große Fische“ betrieb, an einem festen Tag Fisch verkaufen. Die Milch kommt vom Milchhof Reitbrook. „Wir haben die Idee, feste Milchtage einzuführen, an denen die Nachbarschaft hier Milch kaufen kann“, sagt Sarah Schulze. Damit schließt sich der Kreis zur Alten Meierei.