Hamburg. „Kopfschütteln“ bei Experten und Kritik aus der Politik an Papier zum Ursprung der Pandemie. Uni-Präsident lässt Fragen unbeantwortet.
Die Veröffentlichung und offensive Verbreitung eines umstrittenen Papiers zum Ursprung des Coronavirus hat der Universität Hamburg auch am Freitag viel Kritik eingebracht. Wie berichtet hatte die Pressestelle eine Arbeit des Physik-Professors Roland Wiesendanger beworben, die zu dem Schluss kommt, dass die Corona-Pandemie Folge eines Unfalls in einem Labor in der chinesischen Stadt Wuhan sei. Anders als der fachfremde Professor halten führende Virologen und auch die Weltgesundheitsorganisation WHO diese These für unwahrscheinlich.
Bei Hamburger Infektiologie-Experten sorgte es nach Abendblatt-Informationen für „Kopfschütteln und Verwunderung“, dass die Uni das Papier öffentlich beworben hatte. Die Arbeit erfülle nicht die wissenschaftlichen Kriterien und berufe sich zum Teil auf dubiose Quellen, hieß es. Die Hamburger Studentenvertretung AStA schrieb auf Twitter: „Die ‘Studie’ von Herrn Wiesendanger entspricht nicht den wissenschaftlichen Standards, die wir von einer Universität erwarten.“ Sie spiele Verschwörungstheoretikern in die Hände und schüre „anti-asiatischen Rassismus“.
Wuhan-Studie: Hamburger Professor erklärt sich
Für Irritationen sorgten auch Aussagen Wiesendangers, Uni-Präsident Dieter Lenzen habe ihn unterstützt. Das Abendblatt bat Lenzen am Freitag um Stellungnahme zu diesen Aussagen – und auch zu der Frage, welche Qualitätskriterien an die wenigen Studien angelegt werden, die über die Pressestelle verbreitet werden. Der Uni-Präsident ließ die Fragen unbeantwortet.
Der Vorgang, der der Uni Hamburg bundesweit negative Schlagzeilen einbrachte, sorgte auch in der Hamburger Politik für Kritik. Auch wenn es sich um ein „spekulatives Thesenpapier“ handle, sei „eine kritische Bewertung nach wissenschaftlichen Standards angebracht - am besten bevor die Ergebnisse einer allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden“, sagte SPD-Wissenschaftspolitikerin Annkathrin Kammeyer. „Ich gehe davon aus, dass die Universität - nachdem die Studie jetzt so große mediale Aufmerksamkeit erfahren hat – eine sehr sorgfältige Prüfung vornimmt und die in ihr enthaltenen Indizien und Schlussfolgerungen äußerst gründlich auf Plausibilität, Quellen und Richtigkeit überprüft. Wenn sich herausstellt, dass Fehler gemacht worden sind, muss auch das dann öffentlich gemacht werden.“
Grünen-Wissenschaftspolitikerin Miriam Block sagte, die Arbeit entspreche „nicht den hohen wissenschaftlichen Standards, die wir von der Universität Hamburg gewohnt sind“. Es sei „breit anerkannt, dass das Virus aller Wahrscheinlichkeit nach nicht aus einem Labor stammt“, so Block. „Ich hätte mir ein dem Ernst der Lage angemessenes Vorgehen in dieser Sache gewünscht.“
"Verantwortung bei Uni-Präsident Lenzen"
CDU-Fraktionsvize Anke Frieling betonte, dass „prinzipiell die Freiheit der Forschung und Wissenschaft und damit natürlich auch das Recht auf Veröffentlichung“ gelte. „In diesem Fall wundert es allerdings, dass ein Papier, das nicht die üblichen strengen Standards wissenschaftlicher Arbeit erfüllt, über die Pressestelle proaktiv vermarktet wird. Und das zu einem Thema, das emotional hoch aufgeladen ist und viel Spekulation und fragwürdige Information durch die Medien geistern. Hier sehe ich schon ein besondere Verantwortung beim Präsidenten der Universität.“
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Linken-Wissenschaftspolitikerin Stephanie Rose sagte, das Papier sei „eher Teil des Problems als der Lösung“. Ohne vorher durch eine Begutachtung gegangen zu sein, „äußert sich der Physiker anschlussfähig an Verschwörungsideologen wie Xavier Naidoo und andere“, so Rose. „Und das in Zeiten, in denen Verschwörungsideolog:innen versuchen lebenswichtige wissenschaftliche Erkenntnisse zu untergraben.“ Sie sei „schockiert“, dass die Uni einer zweifelhaften Veröffentlichung eine Plattform biete. Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank (Grüne) äußerte sich auch am Freitag nicht zu der Debatte.
Vernichtendes Urteil des MIN-Dekanats
Am Freitagabend nahm auch das Dekanat der MIN-Fakultät für Mathematik, Informatik und Naturwissenschaften zum Wiesendanger-Papier Stellung – und fällte ein harsches Urteil darüber. „Das MIN-Dekanat stellt fest, dass es sich bei der gestern von der Universität Hamburg als Pressemitteilung unter der Bezeichnung 'Studie' veröffentlichten Ausarbeitung nicht um eine wissenschaftliche Studie mit qualitätsgesicherten Inhalten und Standards handelt", schreibt das Dekanat auf seiner Internetseite. „Das Papier hat keinen Peer-Review-Prozess durchlaufen und ist daher eher als nicht wissenschaftlicher Aufsatz oder Meinungsäußerung zu bezeichnen."
Da die „Studie“ über die offiziellen Kanäle der Universität Hamburg verbreitet worden sei, werde „der Anschein erweckt, dass es sich um fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse handeln würde, die mit anerkannten wissenschaftlichen Methoden erreicht wurden", so das Dekanat weiter. „Dies befremdet das MIN-Dekanat und einen Großteil der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Fakultät, die sich von den indizienbasierten Aussagen distanzieren."
Experten nehmen Papier auseinander und attackieren Uniführung
Auch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der „Coronavirus Structural Task Force" an der Uni Hamburg verfassten eine Stellungnahme und setzten sich darin kritisch mit den Kernaussagen Wiesendangers auseinander.
Ihr Fazit: „Was als Einladung zur Debatte daherkommt, ist eine ziemlich chaotische und tendenziöse Internetrecherche, die in keiner Weise der guten wissenschaftlichen Praxis entspricht. Tausende von Menschen, die gegen die Maßnahmen oder gegen China sind, oder einfach nur einen Schuldigen für Corona suchen, fühlen sich bestätigt und die Universität Hamburg steht dafür ein."
Es sei gut und richtig, dass Professoren an deutschen Unis veröffentlichen und erforschen könnten, was sie wollten, so die Corona-Experten. „Aber dass dieser Artikel in enger Absprache mit dem Präsidenten, aber ohne Peer Review im Namen der Uni veröffentlicht wird, wirft kein gutes Licht auf die Universität Hamburg, die ja auch unsere eigene wissenschaftliche Heimat ist."
Der Text wurde im Laufe des Tages um zusätzliche Stellungnahmen ergänzt.