Hamburg. Ein Embargo gegen Rohstoffe wäre ein riskantes Experiment: Es könnte leichte Blessuren hinterlassen – oder die Wirtschaft zerstören.
Die Union galt immer als Partei der deutschen Wirtschaft. Doch seit dem Überfall der russischen Truppen auf die Ukraine kann es manchen Konservativen wie Norbert Röttgen gar nicht schnell genug gehen – heraus aus den Gasimporten, lautet ihre Botschaft. Inzwischen haben sich seltsame Allianzen gebildet von Fridays for Future über Großpublizisten und Spitzenpolitiker bis hin zu einflussreichen Ökonomen.
Was angesichts der russischen Völkerrechts- und Menschenrechtsverletzungen vernünftig klingt, ist für die deutsche Volkswirtschaft indes die wohl größte Gefahr seit dem Zweiten Weltkrieg. Denn es geht um weit mehr als die Frage, ob wir im kommenden Winter einen Pulli überziehen. Vermutlich werden wir uns dann verdammt warm anziehen müssen.
Krieg gegen die Ukraine: Wir sind blind für Gefahren
Es ist BASF-Vorstand Martin Brudermüller zu verdanken, dass diese Gefahr in die deutsche Debatte träufelt – allerdings noch immer zu langsam. „Wollen wir sehenden Auges unsere gesamte Volkswirtschaft zerstören? Das, was wir über Jahrzehnte hinweg aufgebaut haben? Ich glaube, ein solches Experiment wäre unverantwortlich“, donnerte Brudermüller in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“.
Das Problem ist ein doppeltes: Mehr als ein Jahrzehnt Wachstum haben die Deutschen den wirtschaftlichen Realitäten entrückt: Wachstum gilt inzwischen als Selbstverständlichkeit, als Automatismus. Unsere Debatten drehen sich nur um die Verteilung des Wohlstands, nicht aber das Erwirtschaften des Wohlstandes. In Zeiten von annähernder Vollbeschäftigung fürchtet zudem kaum jemand um seinen Job: Was gut und wünschenswert ist, hat uns aber blind gemacht für die Gefahren eines Abschwungs. Rezession, Firmenpleiten und Steuereinbrüche wirken für uns wie Vokabeln einer anderen Zeit. Wir kennen ihre Bedeutung kaum noch.
Staat sprang mit Geld in die Bresche
Dafür trägt auch die Politik ihre Verantwortung: Wann immer eine schwere Rezession drohte – ob 2008 infolge der Finanzkrise oder 2020 infolge der Pandemie – sprang der Staat mit Megamilliarden in die Bresche. Bei vielen in Politik und Gesellschaft hat sich die Wahrnehmung durchgesetzt, im Falle eines Gasembargos würde der Staat einmal mehr bereitstehen, um die Wirtschaft herauszuhauen. Das aber könnte ein frommer Wunsch bleiben. Solch hohe Summen, stellte BASF-Chef Brudermüller klar, könnte der Staat gar nicht leisten: „Die Dimensionen, über die wir hier reden, sind noch viel größer als bei Ausbruch der Corona-Pandemie.“
BASF ist ein schönes Beispiel, warum ein Gasembargo ein Russisch Roulette für die deutsche Wirtschaft wäre. Es könnte gut, aber auch entsetzlich schiefgehen. Der weltweit größte Chemiekonzern aus Ludwigshafen verbraucht nicht nur so viel Energie wie Dänemark, sondern betreibt auch das größte zusammenhängende Chemieareal der Welt.
Chemiekonzern wäre von Embargo doppelt getroffen
Hier werden in Verbund viele Vorprodukte für unseren Alltag hergestellt, von Verpackungen für Lebensmittel und Arzneimittel bis zur Produktion von Ammoniak, das zur Düngerherstellung nötig ist. Dass die Lage ernst ist, zeigt die Entscheidung vom vergangenen Herbst: Damals musste die BASF wegen hoher Erdgaspreise die Produktion von Ammoniak drosseln.
Sollte nun die Gasbelieferung ganz ausfallen, wäre der Chemiekonzern doppelt getroffen: Ihm würde nicht nur die Energie für die eigenen Produktionsanlagen fehlen, sondern auch Erdgas als Ausgangsstoff etwa für die Herstellung von Acetylen. Diese Verbindung ist von zentraler Bedeutung für Kunststoffe, Arzneimittel, Lösemittel, aber auch Textilfasern; sie ist Vorprodukt für die Automobil-, Pharma, Bau-, Konsumgüter- und Textilindustrie. Bei einem Gasmangel würde BASF die Produktion drosseln, wenn das Unternehmen weniger als die Hälfte geliefert bekommt, würde der Betrieb in Ludwigshafen sogar gestoppt werden.
Auch andere Branchen wären betroffen
Auch andere energieintensive Branchen wie die Glas, Keramik- oder die Papierindustrie, aber auch Stahlhersteller, Aluminium-, Kupferhütten und Windradbauer würden massiv getroffen. Das Herunterfahren von ganzen Produktionsstraßen ist nicht nur aufwendig, langwierig und gefährlich, sondern auch extrem kostspielig. Unterbrochene Lieferketten würden unzählige nachgelagerte Branchen mit in Produktionsengpässe ziehen: Landwirtschaft, Ernährung, Automobil, Kosmetik und Hygiene, Bau, Pharma oder Elektronik – am Ende bliebe wohl kaum eine Branche verschont.
Manche Ökonomen fürchten Kaskadeneffekte. Eine Branche würde die nächste mit in die Krise reißen – die an die Wand gemalten Szenarien von mehreren Hunderttausenden Fachkräften, die ihren Job verlieren, oder einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um mehr als sechs Prozent wirken durchaus realistisch. Viele Modelle unterschätzen die Vernetzungen in der Wirtschaft – schon eine Schiffshavarie im Suezkanal hat viele Lieferketten belastet und Verzögerungen von Wochen ausgelöst.
Gasimport lässt sich nicht in Monaten ersetzen
Ein Gasembargo könnte Lieferketten sprengen. Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur, bereitete die Bevölkerung nun schon auf rigorose Maßnahmen im Falle eines akuten Gasmangels vor. „Es ist leider nicht völlig auszuschließen, dass wir Entscheidungen treffen müssen, die furchtbare Konsequenzen für Unternehmen, für Arbeitsplätze, für Wertschöpfungsketten, für Lieferketten, für ganze Regionen haben“, sagte Müller dem „Handelsblatt“.
Fakt ist: Der russische Gasimport lässt sich nicht binnen Monaten ersetzen – auch nicht durch Flüssiggas. Schon jetzt ist der Import nicht nur deutlich aufwendiger, teurer und weniger umweltfreundlich als das Pipelinegas – es ist allein mathematisch nicht darstellbar, solche Mengen zu liefern. Von den 155 Milliarden Kubikmetern Gas, die Russland pro Jahr in die EU lieferte, sind im Optimalfall 85 Milliarden durch LNG ersetzbar – und das ist eine optimistische Schätzung, andere Experten gehen von nur 60 Milliarden Kubikmetern aus. Bis 2024 – und damit noch zwei Jahre – ist die Bundesrepublik von Russland abhängig. In den vergangenen Jahren hat sich diese Abhängigkeit sogar noch dramatisch vergrößert.
Robert Habeck spricht Warnung aus
Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) warnt: „Ich verstehe jeden, der wegen Putins brutalem Angriffskrieg ein sofortiges Embargo fordert. Aber ich stehe in Verantwortung für das gesamte Land. Ich muss abwägen, was die Folgen unserer Entscheidungen sind.“ Es gehe nicht um ein bisschen individuellen Komfortverzicht, sondern um tiefe Einschnitte: „Wir reden bei einem sofortigen Importstopp über Versorgungsengpässe im nächsten Winter, über Wirtschaftseinbrüche und hohe Inflation, über Hunderttausende Menschen, die ihre Arbeit verlieren, und über Menschen, für die der Weg zur Arbeit kaum bezahlbar wird, Heizen und Strom ebenso.“
VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup stößt in dasselbe Horn: „Anders als in der Finanz- und Corona-Krise würde sich bei einer Industriekrise durch einen längeren Ausfall von Erdgas Deutschland nicht relativ schnell wieder erholen. Dann steht die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit dieses Landes auf dem Spiel.“ Und die Zukunft: Kein energieintensives Unternehmen würde noch in Deutschland investieren wollen.
„Deutschland ist massiv ärmer geworden"
Es gibt aber auch andere Stimmen: Der deutsche Volkswirt Rüdiger Bachmann hat zusammen mit US-Kollegen versucht, die wirtschaftlichen Konsequenzen eines Energieembargos für Deutschland und Europa grob abzuschätzen. Lapidar heißt es da, ein solcher Schritt würde zwar zu einer Rezession führen.
Aber diese wäre mit einem Minus zwischen 0,5 Prozent and 3 Prozent weniger dramatisch als in der Pandemie, als die deutsche Wirtschaft um 4,5 Prozent einbrach. Olaf Scholz schäumte und nannte die Berechnungen unverantwortlich. In der „NZZ“ legte der in den USA lehrende Bachmann nach: „Deutschland ist massiv ärmer geworden, und irgendjemand muss dafür Einbußen in seinem Lebensstandard hinnehmen, wie die Griechen in der Euro-Krise.“
„Not macht erfinderisch"
Der renommierte Chefvolkswirt der Berenberg Bank, Holger Schmieding, warnt vor Panikmache. „Die Effekte lassen sich kaum mit hinreichender Sicherheit berechnen“, schränkt er im Gespräch mit dem Abendblatt ein. Er sagt aber auch: „Not macht erfinderisch, manches könnte ausgeglichen werden.“ Seiner Ansicht nach wären Bau, private Dienstleistungen oder der öffentliche Dienst kaum betroffen.
„Das verarbeitende Gewerbe trägt 20 Prozent zur deutschen Bruttowertschöpfung bei. Wenn dort 10 Prozent der Produktion abgeschaltet werden müssten, würden uns zwei Prozent der Wirtschaftsleistung fehlen. Das halte ich für eine realistische Größenordnung, sollte im kommenden Winter Gas tatsächlich knapp werden.“ Ein Minus zwischen ein und knapp drei Prozent hält er für plausibel.
Folgen für die deutsche Wirtschaft
Größere Arbeitsmarkteffekte fürchtet er nicht. Wie in der Pandemie könne Kurzarbeit vieles abfedern. „Es würden lediglich einige Neueinstellungen in den betroffenen Sektoren unterbleiben“, meint Schmieding. „Angesichts eines verbreiteten Mangels an qualifizierten Arbeitskräften würden wir das in den Arbeitsmarktstatistiken kaum merken. Der Beschäftigungszuwachs würde eine Winterpause einlegen.“
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Pessimistischer ist Deutsche-Bank-Chef Christian Sewing, was die Folgen eines Embargos betrifft: „Wenn es dazu kommen würde, ist es eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die deutsche Wirtschaft und wahrscheinlich auch die europäische Wirtschaft in eine Rezession verfällt mit langfristigen Folgen.“
Krieg gegen die Ukraine: Gasembargo sehr riskant
Das Problem an diesen Rechenspielen: Wenn sie falsch sind, könnte es zu spät sein – nicht nur für die Politik, sondern auch viele Unternehmen. Man möchte sich nicht die Erschütterungen für die Gesellschaft ausmalen, wenn das Gasembargo wirklich Zehn- – oder gar Hunderttausende Lohn und Brot und den Firmen Märkte und Zukunft raubt. Auch die EU, die verstärkt auf ein Embargo drängt, sollte sich über die finanziellen Folgen nicht täuschen. Deutschland als größter Nettozahler wird noch gebraucht.