Hamburg. Ex-Leiter des Impfzentrums, UKE-Mediziner und Weltärzte-Präsident betroffen. Hetzkampagnen bei Twitter und Telegram und ein Cyberangriff.
Wer sich in die sozialen Medien begibt, kommt darin um. Diese harsche und übertriebene Weissagung des Internet-Zeitalters hat sich für Hamburger Experten in der Corona-Pandemie in reale Einschüchterungsversuche verwandelt. Sie werden tatsächlich mit Hass übersät, angefeindet – und es gibt ernstzunehmende Bedrohungslagen, die Polizei, Staatsschutz und Staatsanwaltschaften auf den Plan rufen. Über E-Mails, aber vor allem via Twitter und neuerdings über den Messengerdienst Telegram, ergießen sich Fake News und verleumderische Botschaften.
Im Fall des HNO-Arztes Dr. Dirk Heinrich, der der Sprecher der medizinischen Leiter im Impfzentrum war und wegen seiner Expertise bundesweite Beachtung erfuhr, hat sich das zu einer Art Kampagne ausgeweitet. Heinrich erhielt bis zum Freitag insgesamt sieben Morddrohungen, die er an die Behörden weiterleitet.
Morddrohungen und Hass-Mails gegen Ärzte
Diese „Radikalisierung“ der User sieht Heinrich als Ausdruck der aktuellen Debatte: „Das hat mit der Diskussion um eine allgemeine Impfpflicht zu tun.“
Der UKE-Intensivmediziner Prof. Stefan Kluge hat im Internet eine „spezielle“ Erfahrung machen dürfen: Sein Twitter-Account ist komplett kopiert worden. Die Täuschadresse wurde mutmaßlich von Cyber-Angreifern betrieben. Was ihre Motivation war? Man kann nur mutmaßen: Falschinformationen von einer bislang gesicherten und jetzt gehackten Quelle verbreiten? Erpressung? Verunglimpfung? Kluge war zunächst schockiert, machte es öffentlich und kann sich noch keinen Reim darauf machen. Man stelle sich vor, sein Arbeitgeber hätte, wenn auch private, aber absurde Posts von einem seiner Top-Experten auf einem vermeintlich authentischen Kanal gesehen. Mindestens zur Verwirrung tragen solche virtuellen Angriffe bei.
Auch für den Chaos Computer Club ist dieses Vorgehen neu. Dass ein ganzer Account kopiert und fremdbestimmt betrieben wurde – Neuland für die anerkannten Cyberexperten. Wie ein CCC-Sprecher dem Abendblatt sagte, könnte auch dahinterstecken, dass man über einen vertrauenswürdigen Absender Mails verschickt, die Schadsoftware enthalten. So ließen sich Hackerangriffe vorbereiten.
UKE-Intensivmediziner Prof. Stefan Kluge bei Twitter
Kluges früherer Kollege Prof. Frank Ulrich Montgomery wurde ebenfalls konkret bedroht. Der Vorsitzende des Weltärztebundes und frühere Bundesärztekammer-Präsident hat gar keinen Account bei einem der „sozialen“ Medien. Montgomery sagte dem Abendblatt: „In der Tat erhalte ich eine Fülle von Mails: von wirr über irre, versponnen, hassend und fäkal bis hin zu echten Morddrohungen.“ Meistens nehme er das nicht ernst. Dennoch habe die Polizei aus ihrer Überwachung der sozialen Medien „schon mehrfach Strafanzeigen abgeleitet“.
Die Expertin Prof. Hanna Klimpe von der HAW sagt: „Bei den sozialen Medien lässt sich beobachten, dass sich Impfgegner bei Telegram in ihren abgeschotteten Gruppen radikalisieren und über Twitter Botschaften verbreiten, um eine große Öffentlichkeit zu erreichen.“ Twitter komme nicht hinterher, Hass-Posts zu löschen. Klimpe beobachtet bei Telegram Verschwörungstheoretiker, die in ihren Gruppen glauben machen, man sei „einer großen Sache“ auf der Spur, die man enthüllen werde.
Für von die von Hass und Drohungen Betroffenee könne es ein Rat sein, sich von Twitter zurückzuziehen und eigene Blogs aufzumachen, um leichter Kommentare zu löschen oder zeitweilig ganz deaktivieren zu können.
Corona-Maßnahmen: Bekennerschreiben von Anarchisten
Verblüffenderweise sind die Absender dieser Botschaften im linken wie rechten politischen Spektrum zu finden. In einem „anarchistischen“ Bekennerschreiben heißt es, man rufe zur „weiteren militanten Auseinandersetzung mit Verwaltern der Pandemie und Krisenregulierern“ auf. Namen und vermeintliche private Adressen von Hamburger Politikern werden genannt. Innensenator Andy Grote (SPD), auf dessen Wagen es bereits Attacken gegeben hat, wird mehrfach erwähnt. In ihrer Radikalität verbünden sich „Quarkdenker“ (ein Hamburger Corona-Experte) und antikapitalistische Verschwörungsanhänger.
Impfarzt Heinrich sieht sich einem großen Aufwand der Corona-Leugner und ihrer Gesellen ausgesetzt. So produzierte eine Frau, die sich als Anwältin für Medizinrecht bezeichnete, ein Video, in dem sie von einer Art Teleprompter oder einer anderen professionellen Vorlage ihren Text ablas. Tenor: Heinrich profitiere persönlich von Impfungen und helfe dabei mit, Impfnebenwirkungen zu vertuschen. Es folgten die üblichen Beleidigungen, in verkünstelte Ironie verpackt.
Krankenkasse unter Querdenker-Verdacht
Das geht zurück auf die in Querdenker-Kreisen erregt diskutierte „Untersuchung“ der Krankenkasse BKK Provita. Sie schrieb an das Paul-Ehrlich-Institut, man habe anhand von ärztlichen Abrechnungsdaten herausgefunden, dass es mehr Verdachtsfälle von Impfnebenwirkungen gebe als bekannt („erhebliche Untererfassung“).
Dieser Alarm wurde öffentlich gestreut und zum Wasserfall auf die Mühlen der Impfgegner. Allerdings vermischte die Krankenkasse Verdachts- und tatsächliche Fälle, warf harmlose Reaktionen wie Schmerzen an der Einstichstelle, Kopfschmerzen oder Müdigkeit in einen Topf mit vorgeblichen Erkrankungen, bei denen ebenfalls nicht klar war, ob sie eine Folge der Impfung waren.
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Heinrich versuchte bei Twitter eine Aufklärung und handelte sich einen Shitstorm ein. Als Vorsitzender des Virchowbundes der niedergelassenen Ärzte in Deutschland schrieb er, die Schlussfolgerungen aus der Datenlage seien „kompletter Unfug“. Und er benutzte den Begriff, der offenbar einer neuen Dimension der Debatte das Tor öffnete: „Schwurbel“. Wer schwurbelt, redet ohne Unterlass, verdreht die Fakten, die Worte und ihre Bedeutung. „Durch das Triggerwort ,Schwurbel‘ habe ich andere geweckt. Die Krankenkasse hat aufgrund falscher Datenaufbereitung unterstellt, es gebe mehr Impfnebenwirkungen als berichtet. Das war aber komplett unwissenschaftlich. Von den 700 Reaktionen, die ich bekomme habe, waren 600 mit Behauptungen kombinierte Hassbotschaften, in denen es hieß: Ich sei korrupt und von der Pharma-Industrie gekauft.“
Impfarzt Dr. Dirk Heinrich: Warum er bei Twitter bleibt
Heinrich sagt: Mit einer Krankenkasse, einer Körperschaft öffentlichen Rechts, hätten die radikalen Impfgegner einen Kronzeugen für ihre Behauptungen erhalten. Die Kasse trennte sich von ihrem Vorstandschef und distanzierte sich von Querdenkern. Die aber machten im Netz weiter, fabulierten wie üblich von einem „Tribunal“, das die Impfbefürworter dereinst ereilen werde. Darin lesen Experten eine Anlehnung an Nazi-Vokabular. Heinrich selbst sagt: „Das hat mich schon erschüttert, weil ich auch mehrfach als Dr. Mengele diffamiert worden bin.“
Heinrich sieht zwei Gruppen am Twitter-Werk: die eine will beharrlich alles erfahren, was es an Erkenntnissen zur Impfung gebe, auch wiederholt, nicht immer freundlich im Ton, aber tolerabel. Gruppe zwei sei eine „festgelegte Gemeinde, die zum Beispiel nicht zum Impfen zu bewegen ist“. Das zeige die sehr frische Erfahrung mit dem Impfstoff auf Proteinbasis, Novavax. Heinrich: „Diese Menschen sagten, sie warteten auf einen neuen Impfstoff, aber jetzt, da der da ist, heißt es: Wir warten noch. Das sind alles Ausflüchte.“ Woran man wahre Querdenker erkennen kann? Manche haben Twitter-Namen wie „Schnullibulli“, hinter ihren Mailadressen stecken falsche Accounts. Heinrich hat Hunderte blockiert. „Das sind Menschen, die haben zu viel Zeit und möglicherweise ein psychisches Problem.“ Sich von Twitter zurückzuziehen, sich eine Pause vom Hass zu gönnen, wie viele es tun, das ist für Heinrich keine Option. Die Segnungen dieses Infokanals hat er auch zu schätzen gelernt.
„In der Zeit im Impfzentrum habe ich per Twitter viele Menschen erreicht. Ich würde mir wünschen, dass Twitter rigoroser gegen Hass vorgeht. Es ist für mich ein Skandal, wenn Beleidigungen wie ,Dr. Mengele‘ toleriert werden. Auch die Staatsanwaltschaften sollten die Anzeigen verfolgen. Wir müssen uns alle dagegen wehren.“