Hamburg. Vor 40 Jahren bemühte sich eine Initiative um Tempo 30 für einen Straßenzug in Ottensen. Was die Politik damals zum Umdenken brachte.
Es ist ein Sonntagnachmittag im Juni 1982, als der siebenjährige Marvin mit seinem zwei Jahre jüngeren Freund Malte an der Holländischen Reihe in Ottensen zwischen zwei parkenden Autos steht. Die beiden Jungs wollen sich am Kiosk gegenüber Kaugummis kaufen. Sie laufen direkt in einen vorbeifahrenden Opel, werden auf die Fahrbahn geschleudert. Minuten später kämpfen Ärzte und Sanitäter um das Leben der beiden Kinder. Doch Marvin stirbt, Malte überlebt mit schwersten Verletzungen. Am frühen Abend schreiben Nachbarn mit Kreide in Großbuchstaben „Hier wurden zwei Kinder überfahren“. Darunter in drei Meter großen Ziffern: 30.
Diese Zahl symbolisiert einen politischen Kampf, der bereits vor vier Jahrzehnten seinem Höhepunkt entgegensteuerte. In den ersten Wochen des Jahres 1981 bereitete eine Initiative große Aktionen vor, um für mehr Sicherheit im Straßenverkehr in Ottensen zu sorgen. Der Name war zugleich Programm: „Lieber schleichen statt Leichen!“. Denn seit 1976 war jedes Jahr ein Fußgänger, mal ein Rentner, mal ein Kleinkind, in dem kurzen Straßenzug von der Bernadottestraße/Ecke Hohenzollernring bis zur Holländischen Reihe bei einem Autounfall gestorben. Im Kampf für ein Tempolimit sammelten die Initiatoren Unterschriften, verteilten Flugblätter, überklebten Verkehrsschilder und organisierten Radfahrer-Demonstrationen.
Viele Autofahrer zeigten damals wenig Verständnis
Das Stadtteilarchiv Ottensen, untergebracht in einer ehemaligen Schraubenfabrik an der Zeißstraße, hat zahlreiche Fotos und Dokumente der Initiative in die Jetzt-Zeit gerettet. Es gab damals noch kein digitales Gedächtnis, keine sozialen Netzwerke, die solche Aktionen für nachfolgende Generationen speichern. Manches wirkt mit 40 Jahren Abstand skurril. Etwa der Auftritt eines Taxifahrers, der sich in einer NDR-Sendung über die geforderte Verkehrsberuhigung beklagt: „Welchen Gang soll ich denn wählen, wenn ich durch Ottensen fahren will?“ Die Republik atmete noch den Geist der Ölkrise: Mit dem Slogan „Freie Bürger fordern freie Fahrt“ hatte im Februar 1974 der ADAC gegen den Tempo-100-Großversuch der Bundesregierung protestiert.
„Das Auto hatte damals einen ganz anderen Stellenwert als heute“, sagt der renommierte Hamburger Architekt Ulf von Kieseritzky, der über sich über viele Jahre in Initiativen für bessere Verkehrskonzepte engagierte, sogar eine Zeitung im Eigenverlag gründete. Einmal im Monat erschien die „Ottenser Zeitung“ für zunächst 30, später 50 Pfennig. Von Kieseritzky verfasste die Artikel mit Gleichgesinnten am Küchentisch seiner Wohnung an der Friedensallee. Das kleine Team übernahm auch das Layout, eine linke Druckerei in der Nähe druckte die Zeitungen. Und in jeder Ausgabe ging es um Straßenverkehr und Stadtplanung Der Senat wollte in den 1970er-Jahren eine Schneise quer durch das verwinkelte Ottensen schlagen, einen vierspurigen Autobahnzubringer. Entstehen sollte eine City West, es hätte dem Quartier den Garaus gemacht.
Kahlschlag konnte verhindert werden
Dank des Widerstands aus dem Viertel konnte der Kahlschlag eines gewachsenen Stadtteils verhindert werden. Von Kieseritzky erinnert sich genau an eine Diskussion mit Sozialdemokraten, die von Plänen zur autogerechten Stadt fasziniert waren. „Da gab es Genossen, die fanden die Idee super, eine aufgeständerte mehrspurige Schnellstraße zu bauen.“
Der erfolgreiche Protest war so etwas wie die Keimzelle für „Lieber schleichen statt Leichen!“ Die Initiatoren hatten gelernt, dass sich auch das Bohren sehr dicker Bretter lohnen kann. Anfänglich bürstete der Senat alle „Tempo 30“-Forderungen brüsk ab. Nicht einmal ein Votum der Bezirksversammlung Altona aus dem April 1981 konnte die Regierenden umstimmen. Der Senat kassierte die Entscheidung der Bezirkspolitiker für eine Geschwindigkeitsbegrenzung. Das Argument: Es gebe dafür keinen Anlass „unter Berücksichtigung aller Fakten, insbesondere der Unfalllage“. Autofahrer, die aus Protest nicht schneller als 30 km/h fuhren, kassierten Anzeigen wegen Verkehrsbehinderung, selbst gebastelte Tempo-30-Schilder wurden konfisziert.
Verkehrswissenschaftler wie Dieter Apel, die sich für ein schärferes Tempo-Limit in Innenstädten starkmachten, mussten sich geradezu inquisitorische Fragen gefallen lassen. „Wird demnächst der Autoverkehr abgeschafft?“, bellte der „Spiegel“ in einem Interview. Tempo 30 könne zu einem Dauerstau führen, zu Tempo null. Eine Kommission unter Vorsitz des früheren Innenministers Hermann Höcherl (CSU) konnte sich nur zu einer Empfehlung durchringen, Tempo-Beschränkungen in Versuchsgebieten zu testen.
Plötzlich ging alles ganz schnell
In Hamburg bewegte erst der schreckliche Unfall an der Holländischen Reihe zum Umdenken. Nach dem Unglück druckte das Abendblatt das Foto vom kleinen Marvin, wie er auf einer Trage liegt, eingehüllt in eine Decke, umringt von einem Notarzt und Sanitätern. Das Bild sehen Sie auf dieser Seite. Die Überschrift lautete „Empörung in Ottensen – wieder Kinder überfahren“. Die Tragödie bewegte damals die Leser. Am Tag danach blockierten 150 Anwohner die Straße und verteilten Flugblätter.
Plötzlich ging alles ganz schnell. Nur rund 48 Stunden nach dem Unfall bat Innensenator Alfons Pawelczyk Mitglieder der Initiative und Spitzen-Beamte der Polizei zu einem Krisengespräch. Binnen 60 Minuten beschlossen Senat und Polizei, den Straßenzug in eine Tempo-30-Zone umzuwandeln, zum ersten Mal auf einer Durchgangsstraße der Hansestadt. „Erst müssen Menschen sterben, ehe etwas unternommen wird“, sagte ein Sprecher der Initiative nach dem Termin.
Lesen Sie auch:
Knapp vier Jahrzehnte später hängen wieder handbemalte Tempo-30-Schilder am Straßenrand. Erneut hat sich aus Anwohnern eine Initiative gebildet, die sich nun dafür einsetzt, dass das Tempolimit stärker überwacht wird. Eine andere Initiative plädiert für eine Tempo-20-Regelung auf den schmalen Straßen im Kern von Ottensen.
Ihre Erfolgsaussichten sind ungleich größer. Slogans wie „Freie Bürger fordern freie Fahrt“ gelten längst als anachronistisch, gerade Ottensen soll nach dem Willen der Bezirksamtschefin Stefanie von Berg zu einem Modell für die angestrebte Verkehrswende werden.
Für Ulf von Kieseritzky, der einst viele Protestplakate zeichnete, ein Beleg, dass sich der Kampf eben doch gelohnt hat: „Man muss eben immer genau hinschauen und sich einmischen.“