Hamburg. Die ehemalige Hamburger Spitzenpolitikerin gewährt in ihrem neuen Buch „Reißleine“ tiefe Einblicke in ihr Seelenleben.

Heute noch, ein halbes Jahr nach ihrem freiwilligen Rückzug aus der großen Politik, kann Katja Suding schmerzhafte Erinnerungen nicht verdrängen: „Ich überlegte, wie ich es anstellen kann, die Treppe von meinem Rathausbüro hinunter in den Plenarsaal so geschickt herunterzufallen, dass ich mich schwer genug verletze, um meine Rede nicht halten zu können.“ Letztlich habe sie sich doch zusammengerissen. Wie fast immer. Sie trat ans Mikrofon. Forsch, selbstbewusst, frei.

Äußerlich.

Frühere Hamburger FDP-Chefin schreibt über ihre Zerrissenheit

Dass es in ihrem Inneren anders aus-sah, aufwühlend, gibt die Spitzenpolitikerin im Ruhestand nun offiziell zu Protokoll. Der Titel ihres aktuellen Buchs „Reißleine“ ist Programm. Ebenso wie der Untertitel: „Wie ich mich selbst verlor – und wiederfand.“ Offenherzig, in eigener Sache schonungslos, bekennt sie ihre innere Zerrissenheit während turbulenter Jahre in der Spitzenpolitik.

Noch bis Ende Oktober des vergangenen Jahres schien die resolute Frau als stellvertretende Fraktionsvorsitzende der FDP im Bundestag oben zu sein. „Dabei war es in meiner Seele finster“, sagt sie im Café Newport in der Waitzstraße.

Katja Suding: „Das Leben macht wieder Spaß“

Es ist der letzte Tag im März 2022. Dieser Treffpunkt nahe der S-Bahn-Station Othmarschen liegt strategisch günstig: auf der Strecke zwischen ihrer Hamburger Stadtwohnung in Harvestehude und ihrem Wohnsitz westlich der Hansestadt, in Schleswig-Holstein. Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Stefan, einem Hamburger Juristen, und dem belgischen Schäferhund Sand genießt Katja Suding die große, neu gewonnene Freiheit im Deichvorland am Elbufer.

Nach einer dreiwöchigen USA-Reise zum Jahresausklang nutzte die 46-Jährige den Vorfrühling Mitte März zu Ausfahrten mit ihrem Motorrad, einer rot-schwarzen Triumph Trident. Den Führerschein dafür erwarb sie nach dem radikalen Berufswechsel. „Das Leben macht wieder Spaß“, sagt sie an dem kleinen Holztisch im Café.

Suding schätzt das unabhängige Leben

In ihrem Buch „Reißleine“ erzählt Katja  Suding, was der Politikbetrieb mit ihr machte – und wie sie mit Mitte 40 ihr Leben neu justierte.
In ihrem Buch „Reißleine“ erzählt Katja Suding, was der Politikbetrieb mit ihr machte – und wie sie mit Mitte 40 ihr Leben neu justierte. © Unbekannt | Herder Verlag

Aktuelle Entwicklungen gehen über den Inhalt des vor Kurzem in München präsentierten Buchs hinaus. Suding arbeitet freiberuflich für eine Politik-Beratungsagentur in Berlin, engagiert sich als Kommunikationsstrategin für eine Softwarefirma. Weitere Jobs kommen hinzu. Sie schätzt ein Leben auf eigenen Beinen. Diese Unabhängigkeit muss finanziert werden. So sei sie auf gutem Wege, ein weiteres Buchprojekt anzupacken. Dabei solle es sich um Stärkung und Selbstbestimmung von Frauen in der Gesellschaft handeln. International.

Wird der Plan in die Tat umgesetzt, können Reisen in alle Welt anstehen. Zum Beispiel nach Papua-Neuguinea in Ozeanien. Bei Schilderung dieser Vorhaben sind Lebensfreude und Unternehmungslust spürbar. Dass dieser anpackende Elan, eigentlich eine typische Suding-Eigenschaft, in Wahrheit verschüttet war, dokumentiert das Buch „Reißleine“ mutig. „Letztlich war mein politisches Leben eine Gratwanderung, wie sehr ich mich verbiegen kann“, bekennt sie an diesem Morgen. Den Latte Macchiato genießt sie mit einem zusätzlichen Shot Espresso sowie Hafermilch. „Der schönste Moment war immer, wenn ich von der Bühne durfte“, resümiert sie rückblickend.

Ein Teil von ihr hasste die große Aufmerksamkeit

Für die private Katja sei die Öffentlichkeit furchtbar gewesen. Sie spielte ein Spiel. Es war nicht das ihre. Ein Graus. Mit psychischen Durchhängern, die sich häuften. Auch bei der Entstehungsgeschichte ihres Buchs habe es Tiefs gegeben. In der Weihnachtszeit war das: „Da habe ich mich zu Hause eingemuckelt und wollte das Buch nicht mehr veröffentlichen.“ Bis der Kampfgeist obsiegte. Letztlich seien Kapitel wie „Das Trauma“, „Ich will hier raus!“, „Talfahrt“, „Sackgasse“ und „Ein zu hoher Preis“ als Plädoyer für jedermann zu verstehen: „Mensch, sieh genau hin.“ Habe die Courage, auf dich selbst zu gucken. Auf 255 Seiten brachte Katja Suding diesen Mumm auf.

Nachdem sie die Reißleine zog, justierte sie ihr Leben anders. Unpolitisch sei sie keineswegs geworden. Die Einstufung Hamburgs als Corona-Hotspot mit den verbundenen Auflagen bringe sie in Harnisch. Weil die Voraussetzungen nicht gegeben seien. Dagegen habe sie sich über den Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung in Berlin gefreut. Einige Eckpunkte, wie das Digitalpaket 2.0, habe sie noch mitentwickelt. Nicht nur zum Finanzminister, ihrem Parteifreund Christian Lindner, halte sie unverändert Kontakt. Mitte dieser Woche soll ein Buch in die Post gehen – mit persönlicher Widmung.

„Herr Scholz kann nicht offenherzig kommunizieren"

Weniger gut zu sprechen ist Suding auf Bundeskanzler Olaf Scholz: „Er ist wahrlich kein leuchtendes Vorbild.“ Ihrer Meinung nach treten die Schwächen des früheren Hamburger Bürgermeisters jetzt markant zutage: „Herr Scholz kann nicht offenherzig kommunizieren. Er tut sich schwer, Menschen mitzunehmen.“ Dieses Problem sei misslich: „Momentan ganz besonders. Weil viele unsicher sind und sich nach Orientierung sehnen.“

Sie selbst habe ein neues Fundament gefunden. Und neuen Sinn. Der Übergang, so ihre private Zwischenbilanz, sei prima verlaufen: „Ich habe die Freiheit gewählt und spannende Jobs gewonnen.“ Dieses Plus an Spaß bringe es mit sich, dass ihr ein Arbeitstag mit acht Stunden oder mehr oft wie ein halbes Pensum erscheine. Lebensfreude beflügelt.

Eltern freuen sich über Sudings Rückzug

Auf Seite fünf, noch vor dem Inhaltsverzeichnis, widmet Katja Suding ihr Werk der Familie: „Für meine Eltern.“ Statt eines Ausrufezeichens ist daneben ein Herz abgebildet. In dieses Bild passt es, dass die gebürtige Niedersächsin am Wochenende in ihrem Elternhaus in Vechta weilte. Der Menschenschlag in der Kreisstadt südwestlich von Bremen gilt als erdverwachsen, hin und wieder dickschädelig, indes verlässlich.

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Suding Senior beging seinen 87. Geburtstag. Die Botschaft von Tochter Katja, die selbst zwei Söhne hat, stieß daheim auf offene Ohren. „Die Hochstimmung über meine Rückzugsentscheidung hält an“, sagt sie. Der Entwicklung sehe sie mit Vorfreude entgegen. Getreu ihrer eigenen Denkart, an der sich im Prinzip nichts geändert habe: „Die Dinge kommen auf uns zu. Das Universum sorgt für uns.“ Frei nach der Philosophie des Chinesen Lao-Tse: „Die Aufgabe wird mich finden.“ Katja Suding hat ein gutes Gefühl. Auch in dieser Beziehung.