Hamburg. Am 31. Mai explodiert in Barmbek ein Gebäude. Anna Schellberg kann ihre Werke retten. Andere Künstler haben weniger Glück.

Von dem ohrenbetäubenden Knall hat sie nichts mitbekommen, sie hat die gewaltige Erschütterung nicht gespürt und auch die Druckwelle nicht. Der Schock trifft Anna Schellberg am Morgen des 31. Mai völlig unvorbereitet, sie liegt noch im Bett, als ihr Mann Axel Wieczorek um 8.07 auf sein Handy guckt. Jemand hat ihm eine Nachricht mit einem Link zu einem Zeitungsbericht über eine Explosion in Barmbek-Süd geschickt, Hamburger Straße, dazu nur vier Worte „Geht es euch gut?“.

Das Gebäude an der Hamburger Straße 178/182, wo sich wenige Stunden zuvor im ersten Stock ein Mann mit drei Gasflaschen mutmaßlich selbst in die Luft gesprengt hat, grenzt direkt an ein Gebäude mit dem „Showroom“ für die Bilder von Anna Schellberg im zweiten Stock, ganz hinten links. Die Künstlerin trägt noch ihren Schlafanzug, als sie mit Axel um 9 Uhr morgens an der Ruine eintrifft. „Ich dachte: Es ist doch erst Montag, was soll denn noch passieren?“, sagt Schellberg. 250 ihrer Bilder lagern dort, fast ihr gesamtes Portfolio. Sie hat das kreative und finanzielle Fiasko buchstäblich vor Augen.

Explosion in Hamburg hinterlässt Bild der Verwüstung

Schellberg bietet sich ein Bild der Verwüstung, überall Splitter und Trümmer. Wo früher Fassaden waren, klaffen Löcher. Doch bei der 54-Jährigen keimt auch etwas Hoffnung auf, denn der Gebäudeteil, in dem ihr Ausstellungsraum liegt, scheint weitgehend intakt geblieben zu sein. „Jedenfalls keine kaputten Fenster und keine herausgeflogenen Teile“, sagt Schellberg. Da ahnt sie noch nicht, dass es exakt 71 Tage dauern soll, bis sie ihre Räume betreten und ihre Bilder wieder berühren darf.

Andere Mieter des gewerblich genutzten Gebäudekomplexes haben selbst das nicht: den Funken Hoffnung im Angesicht der Zerstörung, das Quäntchen Glück, mit ihren Räumen etwas außerhalb der primären Gefahrenzone zu liegen. Schlimmer noch: Manche haben keine Versicherung, die den Schaden abdeckt. Einer, den es besonders schlimm erwischt hat, ist Christoph Haertel, Inhaber von Analogika Hamburg.

Christoph Haertel: „Ich habe noch nicht resigniert“

Er ist Musiker, freier Produzent – und nebenbei ein grandioser Pechvogel. Eine ganze Reihe seiner teuren Musikinstrumente lagerte in einem Bunker an der Von-Sauer-Straße in Bahrenfeld. 2015 kam es auch dort zu einer Explosion. Haertels Instrumente fielen ätzenden Brandgasen zum Opfer.

Mit neuen Instrumenten zog er darauf in ein Bramfelder Studio – das Pech zog mit. Nach zwei Wasserschäden beschloss er, den Großteil seines Equipments im Gebäude an der Hamburger Straße einzulagern. Dort müssten sie doch sicher sein, hoffte Haertel. Bis zum 31. Mai dieses Jahres durfte er davon ausgehen. Heute sagt er tapfer: „Ich habe noch nicht resigniert.“

Haertel darf sein Eigentum nicht aus Ruine bergen

Seit der Explosion sind die Reste des Gebäudes einsturzgefährdet.
Seit der Explosion sind die Reste des Gebäudes einsturzgefährdet. © dpa | Daniel Reinhardt

Ein Großteil der von Haertel gemieteten Flächen liegt unter dem überdachten Lichthof der Ruine. Eine Wand ist hier durch die Wucht der Explosion verschoben worden, es herrscht Einsturzgefahr, der Bereich ist nicht begehbar. Heißt: Haertel gehört zu den unglücklichen Mietern, die ihr Eigentum noch immer nicht bergen dürfen. Ob und wie seine Instrumente im Wert von etwa 120.000 Euro die Druckwelle, das Löschwasser und die Witterung überstanden haben – Haertel hat nicht den blassesten Schimmer. Zu seinen Schätzen gehören ein Wurlitzer-Piano und eine alte Hammond-B3-Orgel, die einst mit Joe Cocker auf Tour ging.

Vor allem weiß Haertel nicht, wie es weitergeht. Wird die Wand noch so gesichert, dass er seine Habe bergen kann? Oder werden seine Instrumente beim Abriss des Gebäudes unter Tonnen von Schutt begraben? Am 15. Juli habe er einen Katalog mit Fragen an das Bezirksamt Nord geschickt, eine Antwort aber bis heute nicht erhalten, beklagt Haertel. Auch wisse er noch immer nicht, wer im Bauamt eigentlich zuständig sei. Zudem habe der Vermieter ihn und die anderen Mieter über die weiteren Schritte lange im Unklaren gelassen. So habe ein Gutachten, in dem die begehbaren und nicht begehbaren Flächen ausgewiesen sind, bereits am 18. Juni vorgelegen. „Wir, die Betroffenen, haben es erst am 17. Juli bekommen“, sagt er.

Dennis Rux durfte endliche Einrichtung holen

Blick in einen der vielen verwüsteten Räume.
Blick in einen der vielen verwüsteten Räume. © Unbekannt | Privat

Ähnliches berichtet auch Dennis Rux, Inhaber des Tonstudios „Yeah! Yeah! Yeah!“ Er spricht von einem „mangelhaften Informationsfluss über zehn Wochen.“ Um dem Vermieter und den Behörden eine zentrale Anlaufstelle zu bieten, haben er und weitere Betroffene eine Interessengemeinschaft gegründet Was ihn freut: Für sein und drei weitere Studios in dem Komplex seien 13.000 Euro an Spenden zusammengekommen.

Vor wenigen Tagen durfte Rux seine Einrichtung aus dem Lager und dem Studio holen – ohne Fahrstuhl, unterstützt von nur zwei Helfern. Behördliche Vorgabe. Allein der Abtransport eines Flügels und eines Polygram-Mischpults durch eine Spezialfirma habe ihn 10.000 Euro gekostet. „Ich werde wohl mein Studio komplett neu aufbauen müssen“, sagt Rux. „Das bedeutet Kosten von 200.000 Euro und ein Jahr Arbeit.“ Ein Lichtblick: Viele der über einen Zeitraum von 25 Jahren zusammengetragenen, Instrumente scheinen heil geblieben zu sein. Zumindest äußerlich. Teure Reparaturen blieben ihm vermutlich trotzdem nicht erspart, so Rux.

Schellberg präsentierte Werke im Showroom

Bei Anna Schellberg und ihrem Mann Axel ist der Unmut über die lange Phase der Ungewissheit indes weitgehend verraucht. An Tag 84 nach der Katastrophe sitzen sie in einem Café an der Langen Reihe. Sie haben jeden Tag seit der Explosion mitgezählt und dabei eine Art Chronik des Bangens und Zuwartens geschaffen. Anna Schellberg, ausgebildete Journalistin, seit 2001 Künstlerin mit einem Schwerpunkt auf Öl-Graffiti-Malerei, wusste wochenlang, nicht, ob ihre 250 Bilder (Stückpreis bis zu 7000 Euro) das Inferno überstanden haben.

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Wie ein Damokles-Schwert schwebte über ihr der drohende Abriss oder ein jäher Einsturz des Gebäudes. Vor sechs Jahren war sie in die Räume eingezogen. Ihre Bilder malt sie zuhause, im Atelier. Die fertigen Werke präsentierte sie Interessierten im Showroom an der Hamburger Straße. 80 Quadratmeter, schmale Miete, ein Glücksgriff. Dann kam der 31. Mai.

Ausstellung in Irland sorgte für Stress

Die Tage nach der Explosion ziehen sich wie Kaugummi, sie muss an ihre Bilder denken, morgens beim Aufstehen und abends vorm Einschlafen. Schellberg spricht von einem „Schleudergang der Gefühle“, einer enormen psychischen Belastung. An künstlerische Arbeit sei beim ungewissen Schicksal ihrer Exponate nicht zu denken gewesen. „Ich war total blockiert“, sagt sie. Schellberg, die sich als „Fine Art Punk“ begreift, ist da kompromisslos, auf ihrem Arm prangt ein Schriftzug „Paint or Die“ (Mal’ oder stirb). Üblicherweise hängen zum Trocknen überall in ihrer Wohnung frisch gemalte Bilder. „Zum ersten Mal seit Jahren“, sagt ihr Mann Alex, „konnte ich mal wieder eine weiße Wand sehen.“

Zusätzlich für Stress sorgte eine Ausstellung in Irland Mitte Juli, für die Schellberg 25 Bilder zugesagt hatte. Weil praktisch ihr gesamter Bestand im Showroom lagerte, musste Axel Galerien in ganz Deutschland abklappern, um dort Exponate seiner Frau für die Ausstellung in Irland zu leihen.

Hamburgerin rettet 249 Bilder aus Ruine

Schließlich erlöst ein Schreiben des vom Vermieter eingeschalteten Anwalts die Künstlerin: Sie dürfe ihre Räume, vermutlich nur deshalb nicht in Schutt und Asche gelegt, weil der Lichthof die Druckwelle abpufferte, am 9. August betreten und ihre Bilder bergen. Es ist Tag 71. Sie sieht, dass ein Büro direkt gegenüber des Showrooms völlig verwüstet ist, und ahnt das Schlimmste. Doch Schellberg hat eine Extraportion Glück. Nur ein Bild ist zerstört worden, die übrigen 249 bringt sie in ein Zwischenlager.

Wohl am meisten Fortune hatte Christoph Schröder, Chef des jungen Hamburger Modelabels Aight Evolution. Bereits zwei Wochen nach der Explosion konnte er ein neues Lager in der Neumann-Reichardt-Straße (Wandsbek) beziehen. Er habe seine unversehrten Waren im Wert von 40.000 Euro am vergangenen Donnerstag geborgen. Aus seinen Räumen seien allerdings eine Spielkonsole und zwei Laptops gestohlen worden – trotz eines Wachdienstes, der die Ruine sichert. Sie ermittele noch in zwei weiteren Fällen wegen Einbruchs und Diebstahls, so die Polizei auf Abendblatt-Anfrage. „Ich hatte Glück im Unglück“, sagt Schröder. „Für die anderen Mieter, deren Räume im falschen Bereich liegen, tut es mir sehr, sehr leid.“