Hamburg. Gesundheitssenatorin plädiert dafür, den Impfstoff für alle Erwachsenen freizugeben: Er verhindere “zu 95 Prozent“ schwere Verläufe.

Als Sozialsenatorin möchte sie gern Kitas öffnen und Familien entlasten, als Zuständige für das Ressort Gesundheit muss sie die Hamburger vor dem Coronavirus schützen. Über diese schwierige Abwägung und die sozialen Folgen der Pandemie sprach Melanie Leonhard mit dem Abendblatt.

Außerdem plädiert die SPD-Politikerin für Änderungen bei den Impfempfehlungen: Das Vakzin des britischen Herstellers AstraZeneca verhindere "zu 95 Prozent" schwere Verläufe einer Covid-19-Erkrankung. Leonhard rät auch dazu, sich bei der Praxis, die erste Impfdosis möglichst vielen Menschen zu verabreichen, statt zweite Dosen zurückzuhalten, an Großbritannien zu orientieren.

Die Bürger in Deutschland sehnen sich nach Lockerungen, Hamburg hingegen hat die Maskenpflicht jetzt noch verschärft. Fürchten Sie nicht, die Menschen zu verlieren?

Melanie Leonhard: Doch, klar. Angesichts des aufkommenden Frühlings sehnen wir uns alle nach Lockerungen, Freiheit und uneingeschränkter Bewegung. Leider ist es so, dass wegen dieser Pandemiemüdigkeit wieder vermehrt Menschen in großen Gruppen zusammenkommen und wir an einigen Stellen wieder Gedränge haben. Die Erweiterung der Maskenpflicht, bei der es ja nur um die Wochenenden in der Zeit von 10 bis 18 Uhr und um belebte Plätze und Parks geht, soll eine allgemeinen Maskenpflicht im öffentlichen Raum vermeiden helfen.

Es galt als ausgeschlossen, sich beim Joggen anzustecken. Schießen Sie übers Ziel hinaus?

Melanie Leonhard: Der Punkt ist: Wer joggt, wo er Platz hat, braucht keine Maske zu tragen. Wer aber mitten im Sonntagsgetümmel bei schönstem Wetter um die Alster joggt, der befindet sich in einer Situation wie auf dem Dom und ist gut beraten, eine Maske zu tragen – ob mit oder ohne Vorschrift.

Also lautet die Empfehlung, vor 10 oder nach 18 Uhr zu joggen?

Melanie Leonhard: Genau. Und dort, wo man Platz hat – das macht auch mehr Freude.

Die neuen Beschränkungen werden mit der Gefahr einer dritten Welle begründet. Wie real ist sie?

Melanie Leonhard: Wir haben bundesweit mehr Ansteckungen als vor einer Woche und in Hamburg eine steigende Inzidenz: Trotz massiver Einschränkungen erleben wir ein Wiederaufflammen des Infektionsgeschehens. Unser Ziel muss es sein, die dritte Welle zu verhindern.

Ist das Starren auf die Infektionszahlen noch richtig? 70 Prozent der Toten sind älter als 80. Wenn die Senioren über 80 geimpft sind, dürften die Todeszahlen demnach um zwei Drittel abnehmen – kann man dann wieder aufmachen?

Melanie Leonhard: Sollten wir tatsächlich in eine Situation kommen, dass wir nur noch Infektionen in bestimmten Altersgruppen haben, müssen wir die Situation neu betrachten und unsere Maßnahmen daran ausrichten. Noch sind wir nicht in dieser Lage: Unsere Zahl an Intensivpatienten steigt wieder. Ende der Woche waren es 90, so viele wie kurz vor Weihnachten. Die Wahrnehmung und die tatsächliche Pandemielage driften auseinander. Hinzu kommt, dass wir noch nicht wissen, wie stark sich die Virusmutationen ausbreiten und was sie bewirken. Wir brauchen einen Puffer, sodass wir es uns erlauben können, dass die Infektionszahlen mal steigen, ohne dass wir gleich viel mehr behandlungsbedürftige Menschen haben.

Video: Britische Corona-Mutation in Hamburg schon weit verbreitet

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Wie lang kann der Lockdown noch gehen?

Melanie Leonhard: Alle Anstrengungen dienen dazu, dass wir bald mehr Öffnungen erlauben können. Mein Gefühl ist, dass wir plausible Lockerungsschritte brauchen, die wir nicht nach einer Woche wieder einsammeln müssen. Ich bin zuversichtlich, dass wir rund um Ostern mit größeren Schritten rechnen können – wenn alles gut geht.

Sollte dieser Stufenplan am 3. März von Bund und Ländern präsentiert werden?

Melanie Leonhard: Natürlich wären klare Schritte schön. Aber was passiert, wenn wir diese Grenze, zum Beispiel eine Inzidenz unter 35, nicht erreichen? Ist die Antwort dann: nie wieder Schule? Und was ist, wenn durch ein isoliertes Ereignis wie bei Tönnies die Inzidenz über einen Grenzwert steigt? Soll man dann alle Kitas in der Gegend schließen? Ich meine nein. Daher sehe ich solche finalen Stufenpläne kritisch. Verlassen können sich die Menschen aber darauf, dass wir als Erstes im Bereich Bildung mehr ermöglichen werden, zweitens den Menschen im Handel eine Perspektive geben werden und auch im Bereich Sport und körperliche Betätigung mehr möglich sein wird.

Haben wir die Kollateralschäden des Lockdowns genug im Blick?

Melanie Leonhard: Wir – damit meine ich die Politik generell – reden über nichts so viel wie über die Folgen der Einschränkungen. Wir sprechen über die Kinder, die im vergangenen Jahr zur Schule gekommen sind und fast keinen richtigen Schulalltag erlebt haben. Wir fragen uns, was es für junge Leute bedeutet, die ihren Abschluss gemacht haben und keine Abi­party, keine Abschlussfahrt, kein Austauschjahr hatten. Wir sehen reihenweise Menschen, die vor den Trümmern ihrer Existenz stehen, und überlegen, wie wir ihnen helfen können.

Sie beschreiben die Situation, wie sie ist. Aber die Frage zielte darauf ab, ob diesen Schäden genug Gewicht beigemessen wird.

Melanie Leonhard: Ein Beispiel: Wir drängen darauf, dass an den Kitas wieder mehr geht, weil wir die Folgen für die Kinder kennen. Das sind aber Gruppenveranstaltungen mit großer Nähe, wo es auch mal zu Infektionen kommt. Daher brauchen wir einen Puffer. Wenn uns dieser Bereich nicht so wichtig wäre, könnten wir andere in den Blick nehmen, etwa den Handel. In diesem Abwägungsprozess befinden wir uns jeden Tag.

Lehrer und Erzieher könnten doch schon geimpft werden. Der Impfstoff von AstraZeneca bleibt ja teilweise liegen ...

Melanie Leonhard: In Hamburg nicht! Bei uns wird auch dieser Impfstoff zum Glück nachgefragt.

Dennoch: Warum impft Hamburg beide Gruppen nicht in den Ferien, um Grundschulen und Kitas wieder öffnen zu können?

Melanie Leonhard: Zunächst sind wir mit Hochdruck dabei, die Mitarbeiter im Gesundheitswesen zu impfen, die noch nicht dran waren. Danach werden wir neben Schwerkranken auch Lehrer und Erzieher in den Blick nehmen. Ich hoffe, dass das Mitte März der Fall sein wird. Da sowohl die Ankündigungen als auch die Lieferungen von AstraZeneca äußerst schwankend sind, können wir vorher nicht guten Gewissens 30.000 Menschen zusätzlich zu einer Impfung einladen.

Video: So funktioniert das Corona-Impfzentrum in Hamburg

Unter welchen Bedingungen würden Sie Kita und Schulen denn öffnen?

Melanie Leonhard: Seit Kurzem sind die Selbsttests zugelassen, von denen allein 200.000 in dieser Woche kommen sollen. Zusammen mit einem guten Testkonzept werden wir im März erste Öffnungsschritte gehen können. Auch die Beschäftigten wünschen sich regelmäßige Testmöglichkeiten. Die Impfungen folgen dann sukzessive.

Bürgermeister Tschentscher fährt einen sehr vorsichtigen Kurs, Sie und der Schulsenator Ties Rabe haben dagegen stärker die Folgen für Kinder und Familien im Blick. Wie sehr knirscht es da im Senat?

Melanie Leonhard: Gar nicht. Auch der Bürgermeister ist sehr klar, was seine Prioritäten angeht. Ihm ist wichtig, dass wir diese Öffnungen mit einem guten Testkonzept begleiten, weil wir auch die Sorgen der Beschäftigten in Schulen und Kitas im Blick haben müssen. Deshalb haben wir anders als andere nicht am 15. oder 22. Fe­bruar diesen Schritt gemacht. Der andere Grund war, dass uns die Infektionszahlen noch nicht überzeugen.

Droht eine Generation von Jugendlichen verloren zu gehen – nach 20 Wochen ohne Schule, ohne Sport, ohne Gruppenstunden?

Melanie Leonhard: Diese Gruppe trägt jedenfalls eine große Last, die noch zu wenig thematisiert wird. Ich habe mehr Überschriften zu Gartencentern und Blumenläden gesehen als zum Schicksal der jungen Menschen.

Wenn eine kinderlose Fünferrunde im Bundeskabinett über Ein-Freund-Regeln für Kinder nachdenkt, könnte da Verständnis fehlen …

Melanie Leonhard: Unter den Familien- und Gesundheitsministern ist die Haltung bundesweit sehr einheitlich, dass wir Erzieher und Lehrer vorziehen sollten. Auch mit dem Verband der Hamburger Kinderärzte sind wir uns einig, was die Einschätzungen zu den Lockdownfolgen für Kinder betrifft. Ich wiederhole einen oft gesagten Satz: Kinder sind mehr als der Betreuungsbedarf ihrer Eltern. Darüber wird inzwischen zwar mehr, aber immer noch zu wenig gesprochen.

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Dass mehr darüber gesprochen wird, nützt den Kindern noch nichts. Was kann man konkret machen, um Schäden zu begrenzen?

Melanie Leonhard: Erstens: Wenn wir es uns aufgrund des Infektionsgeschehens erlauben können, müssen diese Bereiche im Fokus stehen – weil die Folgeschäden andernfalls viel zu groß werden. Zweitens dürfen wir nie, nie wieder Spielplätze sperren. Dann müssen im Zweifel die Erwachsenen mehr Einschränkungen hinnehmen: Wenn sie zum Beispiel eine Maske auf dem Spielplatz tragen, während sie sich mit anderen Eltern unterhalten, können die Kinder ungestört toben.

Wie lange werden uns als Gesellschaft die Folgen der Pandemie beschäftigen?

Melanie Leonhard: Corona wird uns noch Jahre beschäftigen, sowohl die gesundheitspolitischen als auch die gesamtgesellschaftlichen Folgen. Wir haben tiefe Gräben und eine wachsende Skepsis gegenüber politisch Handelnden.

Das wäre ein Thema für die SPD. Aber man hört vor allen Dingen Karl Lauterbach.

Melanie Leonhard: Das ist so und wird aber nicht so bleiben.

Sie sind im Dilemma: Als Sozialsenatorin könnten Sie viel lauter die sozialen Folgen des Lockdowns anprangern, wären Sie nicht gleichzeitig Gesundheitssenatorin …

Melanie Leonhard: Nein. Wenn wir sagen, dass Kitas und Kinder Vorrang haben, können nicht Baumärkte als Erstes geöffnet werden. Da müssen wir den kleinen Puffer, den die Infektionslage bietet, sinnvoller nutzen. Wenn wir aber die 16 Bundesländer anschauen; sehen wir: Das ist nicht überall die Wirklichkeit.

Um es konkret zu machen. Sie sehen es kritisch, dass in Niedersachsen schon Gartencenter geöffnet hatten, aber Kitas noch nicht wieder im Regelbetrieb waren?

Melanie Leonhard: Jedenfalls finde ich es bemerkenswert.

Lähmt uns die Angst vor Corona?

Melanie Leonhard: Angst ist nicht meine Haltung, sondern es ist der Respekt davor, was dieses Virus vermag. Nicht erst seit der Mutation ist Covid-19 eine Krankheit, die eine Inkubationszeit von 5 bis 7 Tagen hat, bei der man oft nicht genau sagen kann, wo man sich womöglich angesteckt hat. Wir wissen bis heute nicht, warum bestimmte Menschen, obwohl sie nicht als Risikopatienten galten, sehr schwer erkrankten. Die Hoffnungen ruhen auf dem Impfstoff – leider haben wir zu wenig davon.

Es muss Sie doch ärgern, dass ausgerechnet Donald Trump und Boris Johnson die Impfstoffbeschaffung besser hinbekommen haben.

Melanie Leonhard: Ja, klar. Umgekehrt ist die Situation in Großbritannien und den USA gerade nicht sehr gut. Pandemie-Bewältigung hat drei Säulen. Die Folgen des teilweisen Zusammenbruchs des Gesundheitssystems in Großbritannien kennen wir noch gar nicht. Und die tiefe gesellschaftliche Spaltung in den USA ist ein hoher Preis. Wir könnten zumindest von den Briten lernen, dass die zweite Impfung später sinnvoller ist, damit schnell so viele Menschen wie möglich durchgeimpft werden. Bezogen auf den Impfstoff von AstraZeneca gibt es interessante Zahlen: Es gibt ermutigende Ergebnisse bei den Hochbetagten, die wir auf Basis der STIKO Empfehlung noch nicht impfen. 95 Prozent der schweren Verläufe werden aber offenbar schon durch eine Impfdose vermieden. Es ist sinnvoll, den Zeitraum zur zweiten Impfdosis voll auszuschöpfen. Da können wir von den Briten lernen, weil sie uns vier Wochen in ihrer Impfkampagne voraus sind.

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Man kann auch sagen, wir hängen vier Wochen hinterher.

Melanie Leonhard: Aber das ist eben nicht nur von Nachteil. Wir können lernen, etwa um eine andere Altersempfehlung bei AstraZeneca zu bekommen. Das wäre sehr gut. Der AstraZeneca-Impfstoff ist nicht nur besser zu lagern, sondern könnte bald sogar als Eindosengebinde auf dem Markt kommen. Das wäre eine Möglichkeit, mit Siebenmeilenstiefeln ein zusätzliches System anzubieten: Dann könnten wir vielen Pflegebedürftigen zu Hause eine Impfung durch ihre Hausärzte anbieten.

Wann können wir auf Hausärzte zählen?

Melanie Leonhard: Die Bundeskassenärztliche Vereinigung und das Bundesgesundheitsministerium arbeiten daran, entsprechende Systeme aufzusetzen. Da gibt es viele Fragen vom Vertrieb bis zur Vergütung zu klären. Wenn die Bundesregierung recht behält und wir im Mai, Juni so viel Impfstoff haben, dass wir das zentral nicht mehr verimpfen könnten, wäre das der späteste Zeitpunkt.

Und dann könnte man alle Geimpften in die Freiheit entlassen?

Melanie Leonhard: Ich hoffe, wir können uns alle vorher schon in mehr Freiheit entlassen.

Wie können wir nach der Pandemie wieder Brücken bauen?

Melanie Leonhard: Das ist nicht allein eine Frage von Geld, sondern auch eine Frage von Haltung und gesellschaftlichem Willen. Jeder sollte in seinem Umfeld schauen, wo er helfen kann. Mein Eindruck ist, dass wir im Moment immer von uns auf andere schließen. Es ist leicht, sich auf der eigenen Terrasse vor seinem Grill darüber aufzuregen, dass sich Gruppen in Parks treffen. Aber das sagt etwas darüber aus, wie wir über andere Menschen denken. Wir müssen wieder mehr Verständnis dafür entwickeln, dass Hamburg eine Stadt mit ganz unterschiedlichen Lebenssituationen ist und jeder seine eigene Antwort braucht. Jedes Naserümpfen über jemanden, der im Park mit Bierchen sitzt, ist fehl am Platz.

Klingt ein bisschen wie der Satz von Jens Spahn: Wir werden uns viel verzeihen müssen.

Melanie Leonhard: An dieser Stelle gebe ich dem Bundesgesundheitsminister uneingeschränkt recht.