Hamburg. Die Corona-Krise schadet laut der Zweiten Bürgermeisterin der Gleichberechtigung: „Viele Frauen verschwinden regelrecht.“
Lockdown, Homeoffice, Kinderbetreuung – wie schwer das alles zu vereinbaren ist, weiß die Zweite Bürgermeisterin und zweifache Mutter Katharina Fegebank (Grüne) auch aus eigener Erfahrung. Die Lastenverteilung in den Familien zwischen Männern und Frauen bereitet der Senatorin für Wissenschaft und Gleichstellung dabei zunehmend Sorgen. Im Interview mit dem Abendblatt warnt Fegebank vor Rückschritten bei der Geschlechtergerechtigkeit – und wünscht sich auch ein Ende der Dominanz von männlichen Corona-Experten in der Öffentlichkeit.
Hamburger Abendblatt: Die Soziologin Jutta Allmendinger erklärte vor Kurzem, die Corona-Krise werfe Frauen auf dem Weg zur Gleichberechtigung um Jahrzehnte zurück. Hat sie recht?
Katharina Fegebank: Ja – wenn auch vielleicht nicht um Jahrzehnte. In Krisenzeiten verschärfen sich bestehende Geschlechterungerechtigkeiten. Das gilt auch in der Corona-Pandemie, das haben Umfragen und Studien klar gezeigt.
Dabei sah es zuvor so aus, als gebe es Fortschritte, etwa durch die Elternzeit von Vätern – und man hätte hoffen können, dass sich Väter nun stärker engagieren, oder?
Fegebank: Es mag sein, dass in der herausfordernden Corona-Zeit zwischen vielen Müttern und Vätern stärker ausgehandelt worden ist, wie unbezahlte „Familienarbeit“ gerechter verteilt werden kann mit dem Ergebnis, dass Männer sich mehr einbringen. Studien zufolge haben zuletzt zumindest mehr Männer erklärt, einen größeren Anteil zu übernehmen. Gleichzeitig erleben wir aber – und sehen das auch in Erhebungen bestätigt –, dass im Zweifel eben die Frauen trotzdem diejenigen sind, die sich mehr um die Kinderbetreuung kümmern und dann Abstriche bei der Erwerbsarbeit machen müssen. Viele Frauen verschwinden so zeitweise regelrecht aus dem Berufsleben. Homeoffice, Homeschooling und Hausarbeit sind nicht immer unter einen Hut zu bekommen. Deshalb bleibt ein Großteil der Last, der unbezahlten Familien- und Sorgearbeit, bei den Frauen hängen.
Wenn es ernst wird, gilt also doch wieder das alte Rollenmodell?
Fegebank: Schon vor der Corona-Krise haben vor allem die Mütter viel gewuppt. Gerade mit kleinen Kindern können Frauen im Homeoffice – insbesondere wenn Väter nicht zu Hause sind – ihren Arbeitsverpflichtungen nicht voll nachkommen, ob in Teil- oder in Vollzeit. Manche Menschen nehmen an, Betreuungsprobleme – durch Fernunterricht und Notbetrieb in Kitas verursacht – seien gelöst, wenn der Arbeitsplatz nach Hause verlegt werde. Davon kann aber keine Rede sein.
Bund und Länder haben eine Verdoppelung der Kinderkrankentage in diesem Jahr auf 20 pro Elternteil vereinbart. Reicht das aus?
Fegebank: Das ist eine gute Maßnahme. Allerdings vermute ich, dass es vor allem Frauen sein werden, die zusätzliche Kinderkrankentage nehmen. Ich glaube, wir brauchen eine politische Debatte über neue Arbeitszeitmodelle und mehr Möglichkeiten für flexible Lösungen: von 4-Tage-Wochen über Arbeiten an den Randzeiten bis hin zu geteilten Führungsaufgaben in Teilzeitmodellen, so wie es in einigen Unternehmen und der öffentlichen Verwaltung bereits möglich ist.
Wie lassen sich Rückschritte bei der Geschlechtergerechtigkeit verhindern?
Fegebank: Wir spüren an ganz vielen Stellen in der Corona-Krise auch eine Dynamik und Kreativität, Dinge anders anzugehen, als man es in der Vergangenheit gemacht hat: Ich hoffe, dass diese Lust an Veränderungen bleibt und sich auswirken wird auf die Art und Weise, wie wir arbeiten und wie wir in Familien mit der Verteilung von Arbeitszeit und Freizeit umgehen. Wir dürfen aber auch nicht außer Acht lassen, dass es viele Menschen – und besonders auch viele Frauen – gibt, für die diese flexible Form des Arbeitens überhaupt nicht infrage kommt, wie in Betrieben mit Schichtarbeit, wie in der Industrie. Auch die besondere Last und Verantwortung, die Alleinerziehende schultern, muss sich in Arbeitszeitenmodellen stärker wiederfinden.
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Sind dabei vor allem Männer in der Pflicht?
Fegebank: Die Lust auf Veränderung kann man nicht verordnen. Solange das System so bleibt wie bisher, wird das Engagement der Männer nicht deutlich zunehmen, da bin ich relativ sicher. Deshalb müssen wir jenseits des Appells und einer gesellschaftlichen Debatte die Hebel an einigen Stellen so umlegen, dass sich an Strukturen etwas ändert: Das reicht von der Frage, wer Unternehmen führt über das Selbstverständnis in divers aufgestellten Teams bis zur Flexibilisierung von Arbeitszeiten. Dort, wo es ein modernes, kooperatives Führungsmodell gibt, das auf diverse Teams setzt und den Wert einer jeden Mitarbeiterin und eines jeden Mitarbeiters sieht, können solche Veränderungen schneller erzeugt werden als in Firmen mit verkrusteten Strukturen, in denen es vielleicht gar nicht auffällt, dass sich Frauen zurückgezogen haben wegen ihrer Verpflichtungen für die Familie.
Welche politischen Maßnahmen könnten denn konkret für mehr Geschlechtergerechtigkeit sorgen?
Fegebank: Nehmen wir die Elternzeit und deren Aufteilung: Von 14 Monaten nehmen in der Regel Mütter zwölf Monate und die Väter lediglich zwei Monate. Vielleicht müssen wir da noch einmal ran. Wir sollten darüber sprechen, ob eine womöglich vorgeschriebene Ausweitung der Vätermonate ein Baustein dafür sein kann, dass Männer bei der Familienarbeit mehr Verantwortung tragen.
Fordern Sie also, dass Väter künftig verpflichtend einen größeren Anteil der Elternzeit nehmen müssen?
Fegebank: Ich möchte, dass wir diese Debatte überhaupt führen. Es geht nicht darum, etwas vorschreiben zu wollen, sondern dass es sich dauerhaft in der Realität verändert.
Könnten mehr Homeoffice und mobiles Arbeiten Eltern dabei helfen, Beruf und Familie besser unter einen Hut zu bekommen, unter der Voraussetzung, dass Kitas und Schulen wieder im Normalbetrieb sind?
Fegebank: Mobiles Arbeiten kann für eine größere Flexibilität bei der Aufteilung der Arbeit sorgen. Wenn man seine Kinder von der Kita abholen oder tagsüber zu bestimmten Zeiten bei ihnen sein möchte, so ist das mit einem klassischen Nine-to-Five-Job mit verpflichtender Anwesenheit im Büro kaum zu vereinbaren. Das müssen wir aufbrechen. Wer einen Teil seiner Arbeit etwa frühmorgens oder abends erledigen kann und dafür Zeit mit der Familie gewinnt, sollte dies flexibel gestalten dürfen. Wir müssen noch stärker an den Themen Vertrauen der Arbeitgeber und Zutrauen arbeiten und zunächst einmal annehmen, dass jeder Arbeitnehmer Lust hat, sich einzubringen und seinen Job gut zu machen, auch wenn er zu ungewöhnlichen Zeiten arbeitet. Eine solche Flexibilität darf aber nicht dazu führen, bis Mitternacht für die Chefin oder den Chef verfügbar sein zu müssen und keine Abgrenzung zwischen Beruf und Privatleben mehr hinzubekommen.
In der Wissenschaft sind Frauen seit Langem in der Minderheit, zumindest in Führungspositionen: Nur jede vierte Professur ist mit einer Frau besetzt. Nach der Promotion verlassen überdurchschnittlich viele Frauen die Wissenschaft. Was läuft da schief?
Fegebank: Tatsächlich kann von gleichberechtigter Teilhabe an Führung auf unterschiedlichen Ebenen an Hochschulen noch keine Rede sein. Im Bundesvergleich sind wir in Hamburg zwar an einzelnen Stellen schon weiter, woran man erkennt, dass zielgerichtete Programme einen Effekt haben können. Aber ich will nicht verhehlen, dass wir da noch sehr viel Luft nach oben haben. Auch in der Wissenschaft gilt, dass in der „Rushhour des Lebens“ – also etwa zwischen 30 und 50 – die Familienarbeit größtenteils an den Frauen hängt. Das hat Auswirkungen auf die Arbeit an einer Promotion und im Wettbewerb um eine Professur. Dabei bleiben viele Frauen auf der Strecke – oder sie entscheiden sich für eine Perspektive außerhalb des Wissenschaftssystems, was sehr bedauerlich ist.
Die aktuellen Corona-Fallzahlen aus ganz Norddeutschland:
- Hamburg: 2311 neue Corona-Fälle (gesamt seit Pandemie-Beginn: 430.228), 465 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (davon auf Intensivstationen: 44), 2373 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1435,3 (Stand: Sonntag).
- Schleswig-Holstein: 1362 Corona-Fälle (477.682), 623 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 39). 2263 Todesfälle (+5). Sieben-Tage-Wert: 1453,0; Hospitalisierungsinzidenz: 7,32 (Stand: Sonntag).
- Niedersachsen: 12.208 neue Corona-Fälle (1.594.135), 168 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen, 7952 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1977,6; Hospitalisierungsinzidenz: 16,3 (Stand: Sonntag).
- Mecklenburg-Vorpommern: 700 neue Corona-Fälle (381.843), 768 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 76), 1957 Todesfälle (+2), Sieben-Tage-Wert: 2366,5; Hospitalisierungsinzidenz: 11,9 (Stand: Sonntag).
- Bremen: 1107 neue Corona-Fälle (145.481), 172 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 14), 704 Todesfälle (+0). Sieben-Tage-Wert Stadt Bremen: 1422,6; Bremerhaven: 2146,1; Hospitalisierungsinzidenz (wegen Corona) Bremen: 3,88; Bremerhaven: 7,04 (Stand: Sonntag; Bremen gibt die Inzidenzen getrennt nach beiden Städten an).
Wie hat sich die Corona-Pandemie auf die Wissenschaft ausgewirkt?
Fegebank: Forschende mit Kindern tragen eine Mehrbelastung und haben weniger Zeit für berufliche Dinge. Daraus folgt, dass man weniger publiziert, sich weniger bei Forschungsanträgen engagieren kann, sich aus der einen oder anderen Verpflichtung in der Lehre zurückzieht. Für die berufliche Perspektive, für Aufstiegschancen und das Ziel beispielsweise, eine Entfristung zu erreichen, hat das gravierende Auswirkungen.
Wie lässt sich Geschlechtergerechtigkeit in der Wissenschaft erreichen?
Fegebank: Es muss in Ausschreibungen und Berufungsverfahren verankert sein, dass die Förderung von Frauen einen besonderen Stellenwert einnimmt. Wir müssen aber größere Anstrengungen unternehmen, um planbare Perspektiven für den akademischen Mittelbau zu schaffen, also für die wissenschaftlichen Mitarbeiter ohne Lehrstuhl, aber auch für Forscherinnen, die eine Professur anstreben.
Geht es konkreter?
Fegebank: Um die Folgen der Corona-Krise zu lindern, wäre es denkbar, Befristungen zu verlängern oder zu entfristen, denn gerade Forscherinnen können bestimmte Projekte nicht so durchführen wie vor der Pandemie, es ist für sie noch schwieriger geworden. Studien deuten an, dass wir auf ein extremes sogenanntes „Gender-Publication-Gap“ zusteuern: Dieser Abstand könnte durch die Folgen von Corona noch größer werden. Um dem entgegenzuwirken, haben wir zeitlich begrenzt ein Programm aufgelegt, das die Karrierechancen von Frauen in Zeiten der Pandemie durch flankierende Maßnahmen verbessern soll, sei es durch Angebote zur Kinderbetreuung oder durch spezielle Workshops, die Freiräume zum Forschen ermöglichen sollen, die sonst nicht da wären. Das ist eine Maßnahme, um ein Signal zu senden: Wir sehen das Thema, aber wir haben die Probleme noch nicht dauerhaft gelöst.
Mit der Infektiologin Marylyn Addo vom Uniklinikum Eppendorf stand zuletzt in Hamburg zwar öfter eine Frau im Rampenlicht, es dominieren aber in der Corona-Krise auch bundesweit Forscher wie Christian Drosten und Jonas Schmidt-Chanasit in der Außendarstellung. Braucht es mehr weibliche Vorbilder in der Forschung?
Fegebank: Es stimmt, dass wir hier zeitweise hauptsächlich Männer als Vertreter der Wissenschaft in der Öffentlichkeit gesehen haben, wobei zuletzt mehr Forscherinnen hervortraten, etwa die Virologinnen Sandra Ciesek und Melanie Brinkmann und Alena Buyx, die Vorsitzende des Ethikrates. Gleichwohl würde ich mir wünschen, dass Forscherinnen noch stärker sichtbar werden und damit als Vorbilder für junge Frauen fungieren.
Woran hapert es denn?
Fegebank: Es ist immer schwierig, eine pauschale Antwort zu geben. Ein Aspekt könnte sein, dass sich womöglich Forscherinnen vorsichtiger als Forscher an den öffentlichen Raum herantasten. Ich erlebe häufig, dass Frauen eher dazu neigen, ihre Fähigkeiten und Kompetenzen kritischer zu hinterfragen als viele Männer. Mein Lieblingsbeispiel sind Stellenausschreibungen. Folgendes habe ich auch in meinem persönlichen Umfeld schon mehrfach erlebt: Ich fragte junge, starke Frauen, ob ein ausgeschriebener Job nicht etwas für sie wäre. Aber dann hieß es: „Nein, von acht geforderten Qualifikationen erfülle ich leider nur sechseinhalb.“ Bei Männern sind solche Zweifel weniger ausgeprägt. Von ihnen heißt es dann eher: „Zu meinen Lücken kann ich im Vorstellungsgespräch noch etwas sagen, aber erst einmal bewerbe ich mich.“ Frauen sollten selbstbewusster auftreten.
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In einer auch von Desinformationen geprägten Zeit hat es die Wissenschaft schwerer, sich zu behaupten. Zuletzt irritierte die Exzellenzuniversität Hamburg mit einer Pressemitteilung zu einer Corona-„Studie“, die „nicht hochwissenschaftlich“ sei. Wie beurteilen Sie diesen Fall?
Fegebank: Selten bekommt eine Publikation so viel öffentliche Aufmerksamkeit wie in diesem Fall. Verschiedene Stimmen aus der Wissenschaft haben mittlerweile das wissenschaftliche Layout, die Durchführung des Papiers und fachliche Expertise von Professor Wiesendanger auf diesem Forschungsfeld in Zweifel gezogen. Das steht anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zweifelsohne zu. Aus meiner Sicht ist es an nun der Universität, dieser Kritik zu begegnen und die Genese dieser Publikation darzulegen.
Erwarten Sie, dass der Uni-Präsident Dieter Lenzen aus dem Vorgang auch Konsequenzen zieht?
Fegebank: Ich möchte nicht einzelne wissenschaftliche Arbeiten und deren Methodik bewerten. Klar ist: Wissenschaftsfreiheit ist ein unverrückbares Gut. Es gilt für alle Form wissenschaftlicher Forschung, dass bei unklarer oder unsicherer Datenlage Zurückhaltung in der Bewertung angebracht ist.