Hamburg. Dank entschlüsselter Chat-Protokolle erhalten Ermittler neue Einblicke in organisierte Kriminalität. Es folgen Verhaftungen in Hamburg.

Eigentlich hätten die Sektkorken knallen müssen, als vergangenes Jahr die geknackten „EncroChat“-Daten bei der Abteilung gegen organisierte Kriminalität (OK) eintrudelten. Doch im Hamburger Polizeipräsidium herrscht absolutes Alkoholverbot. Die Freude der Beamten war trotzdem groß: Seit dem Tag, sagt Alexandra Klein, Leiterin der Abteilung, ist bei OK nichts mehr, wie es war.

Der Blick in die Kommunikation der Schwerkriminellen erlaubt einen ganz neuen Blick auf die organisierte Kriminalität – und sorgt gerade dafür, dass fast täglich Haftbefehle gegen hochkarätige Täter vollstreckt werden.

Hamburger Delegation reiste zum Bundeskriminalamt

„Wir hatten gleich dieses Kribbeln im Bauch, das man hat, wenn man einen großen Fall erkennt“, sagt Klein über sich und ihr Team und über den Tag, als Hamburg in die Ermittlungen um die geknackten Daten aus der „Verbrecher-Whats­App“ einbezogen wurde. Diesmal war das Kribbeln besonders stark.

Schnell wurde eine Delegation zusammengestellt, die zum Bundeskriminalamt reiste, das zusammen mit der Staatsanwaltschaft Frankfurt federführend bei den EncroChat-Ermittlungen ist. Klar war ihr und den Leitern der einzelnen Dienststellen der OK-Abteilung auch, dass es Ermittlungen mit nie da gewesenen Einblicken, aber auch sehr viel Arbeit sein werden. Dafür wurde die Soko „HHammer“ gebildet, die federführend ermittelt.

Kriminelle benutzen Handys mit Verschlüsselungstechnik

„Wir waren schon überrascht, welche Dimension die OK hat und wie schnell sich die Geflechte verändern“, so Klein. Eine Erkenntnis: Kriminelle brauchen heute nicht mehr lange gewachsene Verbindungen. Heute reicht ein Handy mit spezieller Verschlüsselungstechnik, um dabei zu sein. Aber auch das ist eine Erkenntnis: Noch nie war es für Kriminelle so leicht, schnell vom Klein- zum Großdealer zu werden. „Die Maßstäbe haben sich verschoben“, sagt Klein. Vor EncroChat waren Drogendeals im zweistelligen Kilobereich eine große Sache. Heute müssen es für die Einstufung mehr als 100 Kilo sein.

Dabei haben die Ermittler nur einen kleinen Blick in das dicke Tagebuch der Schwerkriminellen erhaschen können. Es sind lediglich die Chat-Verläufe von drei Monaten, in denen die „unbekümmerte“ Kommunikation der sich sicher fühlenden Gangster mitgelesen wurde. Dazu kommt, dass EncroChat nur einer von mehreren Anbietern solcher verschlüsselter Chats ist. Man habe mit den EncroChat-Daten nur „die Spitze des Eisbergs“ sehen können.

Anbieter von EncroChat warnten Kriminelle

Das reicht aber aus, um von der Polizei, der Staatsanwaltschaft und den Gerichten einen Kraftakt, schon wegen der schieren Masse der Verfahren zu verlangen. Bislang wurden bereits mehr als 100 Haftbefehle gegen hochkarätige Kriminelle vollstreckt. Vielen Tätern war bewusst, dass ihnen die Polizei auf den Fersen ist, weil die Anbieter von EncroChat sie warnten, nachdem bekannt geworden war, dass die Verschlüsselung gehackt wurde.

Die Verfahren selbst sind „schlank“: Dank der unbekümmerten Kommunikation der Täter kann die Staatsanwaltschaft vor Gericht „wasserdicht“ deren Machenschaften nachweisen. Ein Beispiel ist die Vollstreckung von fünf Haftbefehlen im Januar. Die Täter hatten, so belegen es die Protokolle, seit März 2020 in mindestens 58 Fällen Drogen, Marihuana und Kokain im Kilobereich gehandelt. In einer Wohnung fand die Polizei die Reste des letzten Geschäfts, Verpackungsmaterial für 100 Kilo Marihuana und 15 Kilo Kokain.

Schießerei in Fischbeker Heide war Streit unter Dealern

Gegen die Männer wurden Arrest­beschlüsse in Höhe von mehr als einer Million Euro erwirkt, um die errechneten Gewinne aus den Drogendeals abzuschöpfen. Knackpunkt in allen Verfahren ist für die Ermittler eigentlich nur die Identifizierung der unter Nicknames agierenden Chat-Nutzer. Ansonsten habe man eine punktgenaue Beweisführung.

Immer wieder stoßen die Ermittler in den Chatverläufen auch auf Waffengeschäfte. Gehandelt wird mit Pistolen, Revolvern, aber auch Maschinenpistolen. Und die werden offenbar eingesetzt. So gibt es auch Hinweise auf „verschwundene“ Personen. Auch die Schießerei in der Fischbeker Heide im April vergangenen Jahres war ein Streit unter Dealern, die durch die EncroChat-Verfahren ins Visier der Polizei gelangten.

Hamburg ist Schwerpunkt der organisierten Kriminalität

„Die Szene ist sehr brutal“, sagt Klein. Das war auch ein Grund, warum Hamburg sehr früh mit in die EncroChat-Ermittlungen einbezogen wurde. Hamburg mit seinem Hafen ist einerseits ein Schwerpunkt der OK-Szene. Anderseits gab es in Hamburg durch Ermittlungen des BKA bekannt gewordene Gefährdungssituationen, sprich drohende Schießereien unter Tätergruppen, die eine Einbindung der Hamburger Ermittler nötig machte.

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Was die EncroChat-Ermittlungen für die OK-Bekämpfung in Hamburg bedeuten, ist noch nicht absehbar. Aktuell und in der nächsten Zeit wird die sonst eher im Verborgenen arbeitende OK-Dienststelle vor allem mit dem operativen Geschäft, sprich Festnahmen, beschäftigt sein. „Knack & Back“ wird es wegen der kurzen Zeit zwischen Ermittlung und Zuschlagen intern genannt.

Hamburger Polizistin: „EncroChat-Daten sind ein Geschenk"

„Wir werden strukturelle Veränderungen bei der OK-Ermittlung erleben“, so Klein. „Wir haben uns zwar auch so ständig hinterfragt.“ Mit den EncroChat-Erkenntnissen habe aber das Tempo zugenommen. „Die EncroChat-Daten sind ein Geschenk, das wir angenommen haben“, sagt Klein. „Jetzt müssen wir es richtig zu würdigen wissen.“