Hamburg. Corona sollte die Digitalisierung eigentlich beschleunigen. Doch jetzt könnten Professuren und Studienplätze gestrichen werden.

Zum Start gab es markige Worte. Ziel sei es, „Hamburg als Top-Informatikstandort zu etablieren“, hatte die Wissenschaftsbehörde im Februar 2017 erklärt, als sie über die neue Initiative „ahoi.digital“ informierte. Geplant seien 35 zusätzliche Professuren und bis zu 1500 zusätzliche Informatikstudienplätze. Von diesem Ausbau profitieren sollten die Universität Hamburg, die Technische Universität in Harburg, die Hochschule für Angewandte Wissenschaften und die HafenCity-Uni. Zur Finanzierung wollten der Senat und die Hochschulen 23 Millionen Euro beisteuern. Noch einmal rund zehn Millionen Euro sollten aus der Hochschulförderung des Bundes fließen, hieß es damals.

Vier Jahre später herrscht statt Aufbruchstimmung allerdings Aufruhr an Universität Hamburg. Es seien gravierende Rückschritte zu befürchten, heißt es in einer Stellungnahme des Fachbereichs Informatik. Die vor Kurzem zwischen Behörde und Hochschulen vereinbarten „Zukunftsverträge“ über die Grundfinanzierung von 2021 bis 2027 verdienten ihren Namen nicht.

Fachbereich Informatik: Hamburgs Innovations­fähigkeit in Gefahr

Bei allem Verständnis für erhöhte Ausgaben zur Linderung der Corona-Folgen müsse Hamburgs Innovations­fähigkeit sichergestellt werden, sagt Ingrid­ Schirmer, Professorin am Fach­bereich Informatik und Mitinitiatorin von ahoi.digital. „Die Pandemie ist ein Turbo für digitalen Strukturwandel. Gerade jetzt bei Informatik und Digitalkompetenz eine Vollbremsung einzuleiten ist völlig unverständlich und nahezu absurd.“

Hintergrund: Nach Angaben des Fachbereichs sollten von den bis zu 35 zusätzlichen ahoi-Professuren in Hamburg eigentlich 13 Stellen auf die Universität Hamburg entfallen. Bisher seien allerdings erst vier zusätzliche ahoi-Professuren besetzt worden – und dabei könnte es schlimmstenfalls bleiben, sagt Schirmer. Denn vor Kurzem seien drei geplante ahoi-Professuren kurz vor der Ruf­erteilung gestrichen worden, darunter eine von der Hamburger Wirtschaft mitfinanzierte Stiftungsprofessur.

Nur kleiner Teil der Professuren bisher besetzt

Bei drei weiteren geplanten ahoi-Professuren sei davon auszugehen, dass diese Stellen ebenfalls gestrichen werden, sagt Schirmer, da das Uni-Präsidium den Fachbereich „offiziell über die Entscheidung der Stadt Hamburg informiert hat, das Programm ahoi.digital nicht zu finanzieren“. Zwei weitere ahoi-Professuren müsse der Fachbereich finanzieren, indem er auf die Nachbesetzung anderer Lehrstühle verzichte.

Ein Stopp des Informatik-Ausbaus bedeute außerdem, dass 100 im Rahmen von ahoi.digital geplante zusätzliche Studienplätze nicht geschaffen werden könnten.

Abbau von 140 bestehenden jährlichen Studienplätzen droht

Damit nicht genug, drohe der Abbau von etwa 140 bestehenden jährlichen Studienplätzen, sagt Informatikprofessor Frank Steinicke, stellvertretender Fachbereichsleiter. Der Grund: Es sei unklar, ob und in welchem Maße der Fachbereich auch künftig von Mitteln aus dem Hochschulpakt von Bund und Ländern profitieren werde. Nehme man beide Streichungsszenarien zusammen, könnte dies bedeuten, dass 240 von 660 Studienplätzen pro Jahr wegfielen.

Dabei, sagt Steinicke, sei der Ausbau der Informatik dringend empfohlen worden, etwa vom Wissenschaftsrat. Dieser hatte in seinem MINT-Gutachten für Hamburg im Jahr 2016 erklärt, angesichts der „wachsenden Bedeutung der Informatik für Wirtschaft und Gesellschaft“ sollten „das Studien- und Dienstleistungsangebot sowie die Forschung der Informatik in Hamburg in Form einer Kooperationsplattform, in die auch die Wirtschaft einbezogen werden sollte, noch weiter ausgebaut werden“.

Hamburg im „Ländercheck Informatik“ in Schlussgruppe

Handlungsbedarf sah auch der Stifterverband, der in seinem „Ländercheck Informatik“ im Jahr 2018 Hamburg in die Schlussgruppe einsortierte. „Hamburg ist eigentlich ein Standort mit einer großen IT-Szene, jedoch spiegelt sich das nicht an den Hochschulen der Hansestadt wider“, heißt es in der Analyse.

Mit ahoi.digital sollte es vorangehen. „Doch nun könnte der Abstand zu führenden IT-Standorten wie Berlin und München noch größer werden“, sagt Frank Steinicke. „In diesem dynamischen Feld können wir das in Jahrzehnten nicht aufholen.“

Weniger Forschungsgelder für künstliche Intelligenz

Der Informatikprofessor verweist etwa darauf, dass Bayern in den kommenden Jahren allein 100 zusätzliche Professuren für künstliche Intelligenz (KI) schaffen wolle, wovon München besonders profitieren wird. „Für uns in Hamburg wird es schwieriger werden, Forschungsgelder für KI einzuwerben, wenn wir nur wenige Köpfe in dieser Disziplin vorweisen können.“

Kritik kommt auch aus der Hamburger Wirtschaft. „Die ahoi-Initiative hatte das Potenzial, Hamburg auf Augenhöhe mit Top-IT-Standorten zu bringen“, sagt Raphael Vaino, Vorsitzender des IT-Executive Clubs. In dem Netzwerk haben sich IT-Führungskräfte aus mehr als 120 Hamburger Firmen zusammengeschlossen, unter ihnen etwa Otto, Beiersdorf und Hapag-Lloyd. Es sei „tragisch“, wenn an der Universität kein Ausbau von Informatik-Studienplätzen mehr stattfinde, denn Hamburger Firmen seien auf IT-Nachwuchs angewiesen, sagt Vaino.

Hamburger Firmen wollten Stiftungsprofessur finanzieren

Besonders ärgerlich sei die abgesagte Stiftungsprofessur, die eigentlich drei Jahre lang von 17 Hamburger Firmen finanziert und dann mit ahoi-Mitteln verstetigt werden sollte. Die Firmen hätten dafür schon seit 2017 Geld bereitgestellt, passiert sei aber nichts. Nun die Streichung. „Das bringt uns zum Kochen“, sagt Vaino.

„Für einen zukunftsfähigen Wirtschaftsstandort brauchen wir mehr MINT-Fachkräfte und nicht weniger“, sagt auch Malte Heyne, Hauptgeschäftsführer der Handelskammer.

Priorisierungsent­scheidung zugunsten Informatik

Wenn Hamburg die Ausbildung junger IT-Talente an den Hochschulen nicht stärker vorantreibe, werde es für Hamburger Firmen „maximal schwierig“, sich dabei unterstützend zu engagieren, sagt Michael Müller-Wünsch, Bereichsvorstand IT bei Otto. „Der Senat und Uni-Präsident Dieter Lenzen sind in der Pflicht, eine Priorisierungsent­scheidung zugunsten der Informatik zu treffen.“

Auch seitens der Uni-Professoren klingt die Kritik durch, es gehe nicht allein um Versäumnisse der Politik. „Mein Eindruck ist, dass die Universität Hamburg dem Thema Digitalisierung bisher nicht genügend Aufmerksamkeit schenkt“, sagt Prof. Matthias Rarey, Co-Sprecher der jüngst mit dem Norddeutschen Wissenschaftspreis ausgezeichneten Graduiertenschule „Data Science in Hamburg“. Professorin Ingrid Schirmer sagt: „Von einer Digitalstrategie der Uni Hamburg ist mir nichts bekannt.“

Schnellere Berufungen in der Informatik

Der Fachbereich könnte längst besser aufgestellt sein, heißt es. Bei sieben Verfahren sei nach Annahme des Berufungsvorschlags durch den Fakultätsrat bis zur Ruferteilung beziehungsweise Einstellung des Verfahrens durch das Präsidium teilweise fast ein Jahr vergangen. „Berufungen in der Informatik sollten an der Uni Hamburg deutlich schneller abgeschlossen werden“, sagt Schirmer. „Topkandidaten haben viele Angebote und sind – wenn es zu lange dauert – nicht mehr verfügbar.“

Ingrid Schirmer, Professorin am Fachbereich Informatik und Mitinitiatorin von ahoi.digital: „Von einer Digitalstrategie der Uni Hamburg ist mir nichts bekannt
Ingrid Schirmer, Professorin am Fachbereich Informatik und Mitinitiatorin von ahoi.digital: „Von einer Digitalstrategie der Uni Hamburg ist mir nichts bekannt". © Unbekannt | HA

Das Uni-Präsidium – zu langsam? Uni-Chef Dieter Lenzen sagt: „Entscheidungen über die Besetzungen von Professuren – nicht nur in der Informatik – mussten seit Ende 2019 zurückgestellt werden, solange die Hochschulvertragsverhandlungen nicht beendet waren und das finale Budget noch nicht feststand.“ Die neuen Vereinbarungen enthielten keine gesondert ausgewiesenen Mittel für ahoi.digital, sagt Lenzen. „Wir befinden uns aber in einem neuen Diskussionsprozess mit der Behörde, um zwischen den Hochschulen und der Behörde eine Entwicklungsperspektive für die Informatik zu gewinnen.“

Uni-Präsident Dieter Lenzen: Von Kürzungen keine Rede

Unabhängig davon arbeite die Hochschulleitung an der Zuweisung frei werdender Professuren für die kommenden sieben Jahre. „Vor diesem Hintergrund kann von Kürzungen in der Informatik gar keine Rede sein“, sagt Lenzen. Es gebe keine finalen Entscheidungen.

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Zu streichende Professuren und Studienplätze? Damit, so erklärt die Wissenschaftsbehörde (BWFGB), beziehe sich der Fachbereich Informatik „auf interne Überlegungen, die der BWFGB nicht bekannt sind“. Die Behörde sei ihren „eingegangenen Verpflichtungen zum Ausbau der Informatik nachgekommen“.

Behörde will mit Uni Lösungen suchen

Von dem Programm ahoi.digital habe der Fachbereich bereits „massiv profitiert“: nicht nur durch zusätzliche Professuren, sondern auch durch eine Nachwuchs-Graduiertenschule, Forschungsprojekte und ein Management zur Vernetzung der Hochschulen. „Somit hat ahoi.digital einen guten Teil der Projektziele bereits erreicht“, erklärt die Wissenschaftsbehörde.

Aus ihrer Sicht sollte es im Fachbereich Informatik zu „keinen Kürzungen kommen“. Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank (Grüne) habe Uni-Chef Dieter Lenzen einen Brief zu diesem Thema geschrieben. Die Behörde wolle mit der Uni „nach Lösungsmöglichkeiten“ suchen.

Hamburger Behörde will Themenfeld Digitalisierung ausbauen

Stand Februar 2021 sind von den insgesamt geplanten 35 zusätzlichen Informatikprofessuren an den vier beteiligten Hochschulen erst zehn Professuren besetzt worden, wie die Behörde auf Nachfrage mitteilt. Aber: „An der Zielsetzung, das Themenfeld Digitalisierung auszubauen, hat sich nichts geändert.“